Moderne Mythen um Stammzellen
Der deutsche Bundestag hat nach jahrelangen Debatten und Sitzungen von Ethikkommissionen einen Mehrheitsbeschluss zur Forschung an embryonalen Stammzellen gefasst. Dass die Kompromisslinie - Forschung ja, aber keine Produktion embryonaler Stammzellen im eigenen Lande - durchgesetzt wurde, verwunderte am Ende niemanden mehr. Mit welchen Mythen, scheinbaren Sachzwängen und sogenannten ethischen Grundfragen diese durch und durch politische Entscheidung umgarnt wurde, beschreibt Erika Feyerabend.
Das Finale ist fast vollbracht. Nach knapp eineinhalbjährigem Ringen um das forschungspolitische Vorgehen im Stammzell-Sektor haben sich die deutschen ParlamentarierInnen entschieden - nach eigenem Gewissen und per Mehrheitsbeschluss: Stammzellen, die in der Befruchtungsindustrie nicht mehr für die "Lebensproduktion" verwendbar sind, dürfen unter Auflagen importiert werden. Der Antrag von Margot Renesse (SPD), Andrea Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) und anderen machte das Rennen. Auf der Strecke geblieben sind jene, die den Embryo bedingungslos schützen wollten. Auch die forschungsfreundliche Fraktion um Ulrike Flach (FDP), verstärkt durch Peter Hinze (CDU) und zwei Abgeordnete der PDS, konnte sich nicht durchsetzen. Lockere Importbedingungen und die Herstellung solcher Zellsubstanzen im eigenen Lande, das war nicht mehrheitsfähig.
Importware Stammzelle
Durchgesetzt hat sich die Kompromisslinie zwischen Lebensschutz und internationaler Konkurrenzfähigkeit. Nun beginnt die Arbeit an einem "Importgesetz", das voraussichtlich im Sommer unter Dach und Fach sein soll. Für den Import in Frage kommen nur jene embryonalen Zelllinien, die bis zu einem im Gesetz festzulegenden Termin im Ausland gewonnen wurden. Und hier beginnt nun wieder das politische Gerangel. Bundeskanzler Schröder wünscht eine "forschungsfreundliche" Interpretation. Die ImportgegnerInnen möchten den Stichtag möglichst früh, das heißt an die Bundestagsentscheidung koppeln. Relativ leidenschaftslos scheinen die Debatten um eine geforderte Kontrollbehörde zu sein. Im Gespräch ist das Robert-Koch-Institut oder eine nationale Kommission beim Bundesforschungsministerium. Verfahren, um die Bedingungen der Produktion im Ausland zu prüfen, und Kriterien, um "hochrangige Forschungsziele" - einer, der Auflagen des Parlamentsbeschlusses - zu beurteilen, sollen von der neuen Kommission entwickelt werden. Man geht zum Behördenalltag über, nachdem die Rede von Moral und Werten wie Menschenwürde oder Forschungsfreiheit monatelang die Schlagzeilen und politischen Debatten dominierten.
Dabei sind gleich zwei Mythen entstanden - von globaler Wirkung. Die Stammzelle ist zu einem Faktum geworden, hinter dem sich die immer gleiche Verkündigungspose verschanzt: Gesundheit und langes Leben für alle! Und noch etwas steckt im molekularen Stoff und wird zu einer exzessiv gerechtfertigten und unhinterfragbaren Aussage: die Universalformel, die Ursubstanz, der Stein der Weisen der Biomedizin wird gefunden werden. Das Labording "Stammzelle" - als Begriff wie als ständig reproduziertes Bild - hat nur noch diese Bedeutung. Geschichte und soziale Bedingungen, die es hervorbrachte, sind verschwunden. Das eigentliche Prinzip des Mythos, nämlich Geschichte in "Natur" zu verwandeln (und damit der politischen Gestaltung zu entziehen) ist gelungen. Allein die "Verkündigung" ist noch nicht eingelöst. Noch müssen Wissenschaftler als ständige Sucher und immer unbefriedigte Finder unter möglichst günstigen Bedingungen der biomedizinischen Weltformel hinterherjagen. Und hier kommt der zweite Mythos ins Spiel. In großen Lettern und in klein gedruckten Feuilletons ist seit Monaten verbreitet worden, dass in Sachen Import die Politik, orientiert an Ethik und Moral, aber dennoch rational, gestaltend in den Prozess der Wissensproduktion eingreift. Am "Stammzellkompromiss" wird die Wirksamkeit des Regierens präsentiert und glaubhaft gemacht. Gewissen und nicht Interessen, Naturtatsachen und nicht naturwissenschaftliche Dominanzen regieren. Eine Sternstunde des Parlamentes.
Ein Blick hinter den Spiralnebel der Mythen befördert anderes zu Tage. Seit Jahren wird die Forschung an Stammzellen geborener Menschen (den sogenannten adulten Stammzellen) aus Nabelschnurblut sowie Mäuseembryonen und Affen gefördert. Das Forschungsministerium hat seit 1998 25 Millionen EUR bereitgestellt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) leitet zusätzlich seit 1996 42 Millionen EUR in den jungen Forschungszweig. So wurde es immer drängender, auch humane embryonale Zellen zu nutzen - um Effektivität und (Gewebe-)Produktionsversprechen an den verschiedenen Zellsorten vergleichen zu können. Im genannten Förderungszeitraum veröffentlichen US-amerikanische Forscher ihre "bahnberechenden" Ergebnisse. Sie isolierten Stammzellen aus menschlichen IVF-Embryonen und aus abgetriebenen Föten. Die Aktienkurse der auftraggebenden Firma schnellten kurzfristig in die Höhe. Die Medienpräsenz der embryonalen Stammzelle ist seither enorm. Forschungspraxis, Fördermittel, Aktienmärkte und Medienaufmerksamkeit, all das erzeugt politischen Entscheidungswillen. Oliver Brüstle hat in diesem Spiel seine besondere Rolle gefunden. Gemeinsam mit der DFG, die seine Versuche mit embryonalen Stammzellen willig finanzieren will, potenzierte er den Zeitdruck. Unterstützt vom nordrhein-westfälischen Regierungschef Wolfgang Clement, der an seiner PR-Reise ins Stammzell-Zentrum Haifa partizipierte, demonstrierte der Neuro-Wissenschaftler strategisches Geschick. Das Zentrum für Neuropathologie in Bonn errang Weltruhm. Ein neuer Mythos ist kreiert. Die von den Bonner Wissenschaftlern provozierte Importerlaubnis, legitimiert durch das Parlament, heißt in Insider-Kreisen "Lex Brüstle".
Ob Kirchenvertreter, Feuilletonisten, Ministerpräsidenten oder Parlamentsabgeordnete, Objekt der Begierde und der moralischen Sorge ist fast ausschließlich der Embryo - mit einer Prise "Ethik der Ökonomie" (Gerhard Schröder) und Teilhabe an der "Basisinnovation des 21. Jahrhunderts" (Peter Hintze, CDU). Die argumentative Bastion gegen Import und Herstellung embryonaler Zelllinien ist im Kern der Lebensschutz. Von Andrea Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) bis Hubert Hüppe (CDU) wird das "Töten von Embryonen" kritisiert. Kardinal Meisner ist mit in der Koalition, weil keine "embryonalen Menschen" umgebracht werden dürfen. Die Import-GegnerInnen verbinden den Tötungsvorwurf in der Stammzellproduktion mit der Abtreibung, die ebenfalls als Tötungsakt zur Sprache kommt. Die Argumente changieren zwischen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen über die "Einzigartigkeit" des Genoms bis zum juristisch gefassten Embryo als Subjekt eines absoluten Rechtes auf "Leben" und "Würde". Etwas gemäßigtere Stimmen dieser Meinungsfraktion verweisen auf den §218. Allein im Konfliktfall der ungewollt Schwangeren werden Abwägungen zwischen zwei Grundrechtsträgern - Frau und Embryo - zugelassen.
Frauen: Ort der Reproduktion ...
Hier kommt die Frau wieder ins Spiel - als selbstbestimmtes Subjekt, das zwar beraten und erzogen, aber nicht gezwungen werden kann, eine ungewollte Schwangerschaft auszutragen. Die Abtreibungsfrage wird dennoch als Embryonenfrage behandelt. Abtreibung ohne behördlich akzeptierte Gründe gibt es deshalb nicht. Im Zweifel für das "Leben", außer es wurden genetische oder gesundheitliche Mängel erkannt. Dann dürfen Frauen der selektiven Logik pränataler Diagnostik folgen, selbstbestimmt und bis zur Geburt einen bezahlten Abbruch fordern. Die Zeiten aber, wo politisch für freie - auch selektionsfreie - Abtreibungsregeln gestritten wurde, sind vorbei. Die Zeiten, wo die Definition von Leben und Lebensbeginn zurückgewiesen und Schwangerschaft als ein biografischer, allein der Frau eigener, körperlicher Zustand begriffen wurde, gehören der Vergangenheit an.
Wie die umkämpften Zellen ins Labor gekommen sind, auch das war kaum Gegenstand der kritischen Debatte. Eine geregelte Befruchtung, die Frauen einmal mehr zum Ort einer biomedizinisch kontrollierten und staatlich gewollten Reproduktion machen, scheint angesichts der neuen Stammzell-Produktionen in positivem Licht. Belastende Hormonbehandlungen, operative Eingriffe, männlicher Unfruchtbarkeit und sichergestellte Vaterschaft über den Körper der Frau zu "therapieren" - darüber wird geschwiegen. Und die Frauen, die wollen das ja so.
Die Fraktion der Forschungsfanatiker hat hier leichtes Spiel. Sie kann sich auf Abtreibungsparagrafen, Selbstbestimmung und die fest verankerten Normalitäten im Befruchtungssektor beziehen, wenn sie die hochrangigen Forschungsziele und Heilungschancen beschwört. Peter Hinze (CDU) zeigt sich wissenschaftskritisch. Er weiß, dass "der Mensch" nicht nur ein "biologisches", sondern auch ein "soziales Wesen" ist. Pia Maier (PDS) will das Selbstbestimmungsrecht der Frau bei Abtreibungen, Hormonbehandlungen und Entscheidungen über den Verbleib der Eizellen gleichermaßen gesichert sehen. Und tatsächlich ändert sich ja das individuelle Wollen von Frauen mit der biomedizinischen Angebotspaletten. Die selektive Logik der Befruchtungsangebote muss nicht zwangsläufig gegen den Willen von Frauen durchgesetzt werden, vielmehr gestaltet sie diesen.
.... und aktive Mitgestalterinnen
Die scheinbar polarisierte Debatte, die sich jedoch gleichermaßen unhinterfragt an der zur Naturtatsache gemachten "Stammzelle" orientiert, hat die körperpolitischen und ökonomischen Dimensionen der Stammzell-Forschung völlig ausgeblendet. Die Monopolisten im Stammzellsektor können mit der Parlamentsentscheidung zufrieden sein. Die Zentren in Schweden, USA oder Israel werden auch nach Deutschland exportieren. Eigentums- und zirkulationsfähig wie Kapital, sind Körpersubstanzen Teil der Wissens- und Warenproduktion geworden. Im Falle der embryonalen Stammzellen liefern Frauen diese Substanz, und das verändert ihre Leiblichkeit. Ökonomie und Wissenschaft sind Wachstumsbranchen. Längst hat sich die Forschungslandschaft verändert. Stammzellen ufern in die unterschiedlichsten Bereiche aus. Die Produktion von Körperersatzstoffen zu Transplantationszwecken ist nicht die einzige Zielperspektive. In der Krebsforschung, in der "Gentherapie" genannten Manipulation am Menschen, in der Medikamentenherstellung, bei der Prüfung von Schadstoffen oder der genetischen Diagnostik findet das neue Objekt Einsatzmöglichkeiten. Die bereits existierenden Zelllinien werden den steigenden Bedarf nicht befriedigen. Da die Befruchtungsindustrie seit langem Eier und Embryonen als eine von der Frau getrennte Verfügungsmasse behandelt, werden nun zu erarbeitende gesetzliche Verfahren für die Stammzelleinfuhr den Umgang mit einer neuen Importware regeln und Verfügbarkeiten normalisieren. Neues Wissen und neue Heilungsmythen werden folgen. Der prinzipielle Einschnitt ist längst getan. Und dieser Einschnitt betrifft auch die produktive Arbeit an Körpersubstanzen geborener Menschen oder an aus der Nabelschnur gewonnenen Substanzen. Geradezu dynamisiert hat sich dieser Forschungszweig, der im Nebel vom alles entscheidenden "moralischen Status des Embryos" völlig unproblematisch wurde. Doch auch diese Laborpraktiken und ständig zitierten Redeweisen verwandeln Körper in ökonomisierbare Stoffe. Auch in diesem Sektor werden Körperbestandteile dem Diktat der nützlichen (weil produktiven) Verwendbarkeit unterworfen. Und sollten die Manipulationen der Zellen geborener Menschen tatsächlich gelingen, dann entstehen neue Entscheidungsprovokationen. Wenn sich deren molekularenProzesse so verändern lassen, dass sie wie in "embryonalen Stammzellen" ablaufen, dann sind nicht nur die ewig wiederholten, moralisch aufgeladenen Unterscheidungen zwischen adulten und embryonalen Substanzen obsolet, sondern auch Instrumente der genetischen Manipulation und des Klonens entstanden.
Die Fixierung auf die mythisch aufgeladene Import-Entscheidung lässt auch in den Hintergrund geraten, dass der geregelte Aufbau von Forschungsstrukturen und -förderungen ungehindert voranschreitet. Nordrhein-Westfalen will nach Gusto der Forschungsministerin Behler ein Kompetenznetzwerk für adulte und embryonale Stammzellforschung kreieren. Ab April sollen die unterschiedlichen Projekte koordiniert, der wissenschaftliche Austausch gefördert und die "zeitnahe" Information der Öffentlichkeit gewährleistet werden.
Ökonomie von Körpersubstanzen
Die Fixierung auf den mythisch aufgeladenen "Embryo" hat gleichzeitig bewirkt, dass die wertkonservativen Stimmen an Boden gewonnen haben. Sie inszenierten einen wahren Abtreibungsfeldzug. So wurde einmal mehr bestätigt, dass Frauen mit Leib und Leben der "guten Reproduktion" zu dienen haben. So haben am Ende die unterschiedlichen politischen Absichten verstärkt werden können, ohne als Politik in Erscheinung zu treten. "Der Zweck der Mythen ist, die Welt unbeweglich zu machen. Die Mythen müssen eine universale Ökonomie suggerieren und mimen; eine Ökonomie, die ein für allemal die Hierarchie des Besitzes festgelegt hat", schrieb Roland Barthes in den 50er-Jahren des 20. Jahrhundert. Die universale Ökonomie des 21. Jahrhunderts legt die Hierarchie des Besitzes in einem neuen Feld fest. Sie betrifft den menschlichen Körper.
Erika Feyerabend
BioSkop e.V.