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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 459 / 22.2.2002

Selbstreflexion und Solidarität

Zum Tode von Pierre Bourdieu

Mit Pierre Bourdieu starb am 23. Januar 2002 nicht nur einer der herausragenden Soziologen des 20. Jahrhunderts, sondern zugleich der wohl prominenteste intellektuelle Wortführer der erstarkenden linken Opposition gegen die "linke" Regierung in Frankreich. Bourdieus Brillanz hat viel zum neuen Selbstbewusstsein der Linken nach dem Pyrrhussieg des Kapitalismus von 1989 beigetragen.

Dabei hatte Bourdieu sich in Zeiten, als Bekenntnisse zum Marxismus in Frankreich weithin Teil intellektueller Imagepflege waren, plakativem Aktionismus stets widersetzt. Ursprünglich wollte er kein "engagierter Intellektueller" wie Sartre sein, der sich durch das Schreiben und Unterzeichnen irgendwelcher Aufrufe und Proklamation großer Allgemeinentwürfe als moralische Instanz profiliert. Seine theoretische Arbeit verweigerte sich, ähnlich wie die des 1984 verstorbenen Michel Foucault, dem Anspruch, die Erkenntnis des Allgemeinen als richtende Instanz über das Allgemeine einzusetzen. Sie war vielmehr bestimmt von einem unnachgiebigen Beharren auf der Analyse von Details; auffällig an Bourdieus Schriften ist der starke Bezug auf Empirie in Tabellen, Schaubildern, Fotos und Auswertungen von Befragungen. Dennoch ist seine Soziologie durchsetzt mit philosophischen Fragestellungen und dem Anspruch, diese materialistisch zu dechiffrieren.

Die Intellektuellen und das Triviale

Durch den Algerienkrieg "entdeckte" Bourdieu in den fünfziger Jahren die Kultur der kabylischen Minderheit des Landes; aus der ethnologischen Methode gewann er dabei Einsichten, die er später auf die Analyse der französischen Gesellschaft anwenden konnte. Zu den Ereignissen des Jahres 1968 steuerte er keine Parolen bei. Vielmehr untersuchte er die politischen Haltungen im studentischen Milieu und kam zu dem Ergebnis, dass radikale Positionen hauptsächlich unter den Studierenden bürgerlicher Herkunft anzutreffen waren, während die aus der ArbeiterInnenschaft stammenden Studierenden eher reformistisch orientiert waren. Unter den Intellektuellen machte Bourdieu sich viele Feinde, weil er ihnen in erster Linie Selbstreflexion abverlangte, indem er von ihnen forderte, die soziale Bedingtheit der eigenen Positionen ebenso zu durchleuchten wie die Haltungen der Durchschnittsbevölkerung - die unter den meisten Linksintellektuellen als verblendet und manipuliert galten.

So fern Bourdieu jede Art von Bekenntnissen und Proklamationen zunächst lag, so eindeutig ist indes, was im Zentrum seines Denkens stand: die Klassenfrage. Sein in den siebziger Jahren entstandenes monumentales Hauptwerk Die feinen Unterschiede (La distinction) war angelegt als eine Replik auf die in der bürgerlichen Soziologie damals vorherrschende Lehrmeinung, wir hätten es in den entwickelten kapitalistischen Ländern nicht mehr mit einer Klassengesellschaft, sondern mit einer Tendenz zur "nivellierten Mittelschichtengesellschaft" zu tun. Dieser damals weiten Kreisen plausibel scheinenden Ideologie begegnet Bourdieu mit einer detaillierten Momentaufnahme, die von der Einsicht ausgeht, dass die Rede von der Mittelschichtengesellschaft einen Widerspruch in sich birgt. Denn von einer Mitte könne man nur reden, wenn es ein Oben und ein Unten gibt, auf das die Mitte sich bezieht.

Bourdieu hat nie Wert darauf gelegt, Marxist zu sein. Ihn interessierte vielmehr die Konkretisierung von Begriffen wie "Kapital" und "Klassen". Man muss sich zunächst grundlegend vergegenwärtigen, was Kapital im Sinne von Marx ist: eine Form der Vergesellschaftung von Arbeit. Zur kapitalistischen Vergesellschaftungsform gehört die Eigentümlichkeit, dass in ihr als Arbeit das - und nur das - gilt, was zur Produktion von auf dem Markt verkäuflichen Waren beiträgt. Deshalb wurden alle Tätigkeiten, deren Ergebnis nicht unmittelbar als Ware auf dem Markt präsent ist, lange Zeit gar nicht als Arbeit wahrgenommen; etwa die überwiegend von Frauen geleistete häusliche Reproduktionsarbeit. Bourdieus Ansatz geht einen Schritt weiter: Zur gesellschaftlichen Reproduktion gehören für ihn unverzichtbar Bereiche wie Bildung, Erziehung und Kultur, die traditionell nicht unmittelbar dem Sektor der Ökonomie, sprich Warenwirtschaft und Kapitalvermehrung, angehören. Dennoch sind sie Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit.

Neben dem ökonomischen Kapital existiert, so zeigt Bourdieu, ein "symbolisches" und ein "kulturelles" Kapital. Dessen TrägerInnen sind in erster Linie die Intellektuellen. Diese sind Teil der herrschenden Klasse, insofern sie Verhaltensmuster vorgeben und reproduzieren, die für die Gesellschaft richtungweisend sind. Genauer: Die herrschende Klasse umfasst eine dominierende Fraktion, die über ökonomisches Kapital verfügt und eine dominierte Fraktion, die im Besitz kulturellen Kapitals ist. Letztere setzt, ausgestattet mit dem Privileg der öffentlichen Rede, Verhaltensnormen, die sich selbst der Enthobenheit von materieller Not und Mühsal verdanken. Diese Verhaltensnormen zielen, den Akteuren unbewusst, in erster Linie auf "Distinktion", also auf Unterscheidung von der Masse mit ihren "profanen" Interessen. Typisch für Intellektuelle gleich welcher politischen Orientierung ist das, was Bourdieu den "Ekel vor dem Trivialen" nennt, nämlich dem Ekel vor dem, was aus Lebensnot geboren ist und die hehren Visionen moralischer und ästhetischer Autonomie stört. In der Einleitung zu Die feinen Unterschiede nimmt Bourdieu, die Programmatik seiner "Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft" formulierend, Kants Ästhetik gewissermaßen als Urtyp und Leitfaden bürgerlicher Wertorientierungen aufs Korn: Kant zufolge ist schön, "was ohne Interesse gefällt" - das Formale, nicht Inhalte, die sich auf irgendwelche materiellen Interessen beziehen. Ohne es zu bemerken, legt Kant hier ein soziales Kriterium zur Unterscheidung von Wertem und Unwertem an: das Kriterium derjenigen, die jenseits von Lebensnot und den damit verbundenen Interessen stehen und deshalb vermeintlich über "autonome" Urteilskraft verfügen.

Feine Unterschiede und Ideologie der Mitte

Die Logik der Distinktion aber durchzieht die gesamte Gesellschaft. Menschen erkennen ihre soziale Zugehörigkeit nicht bloß auf Grund von einfachen Kriterien wie etwa Einkommen, sondern die heutige Gesellschaft zeichnet sich durch eine Mannigfaltigkeit von Lebensstilen aus. Bourdieu untersucht den alltäglichen Geschmack als ein Kriterium, das soziale Gruppen gleichermaßen konstituiert, wie es selbst sozial konstituiert ist, etwa im Hinblick auf Vorlieben und Abneigungen in den Bereichen Ernährung, Kleidung, Wohnungseinrichtung, Musik und Freizeitbeschäftigung. Soziale Unterschiede schlagen sich in alltagskulturellen Gewohnheiten nieder und repräsentieren sich in diesen. "Kleider machen Leute", sagt ein bürgerlicher Mythos. In Wirklichkeit ist es allerdings so: Ein Fabrikarbeiter kann den Anzug seines Chefs anziehen - er wird trotzdem als Arbeiter erkannt an der Art wie er spricht, wie er sich bewegt und so weiter, weshalb der Arbeiter intuitiv weiß, dass es für ihn keinen Sinn hat, sich zu "verkleiden": Er würde sich damit von seinesgleichen entfremden, ohne von gehobenen Milieus akzeptiert zu werden. Und umgekehrt: Ein sozialistischer Intellektueller mag sich "proletarisch" geben und kann doch nicht verleugnen, dass sein Horizont ein anderer ist als der derjenigen, die nie die Möglichkeit einer Alternative zum fremdbestimmten, abhängigen LohnarbeiterInnendasein erfahren konnten.

Und immer wieder: die Klassenfrage

Der "Habitus" eines jeden von uns ist die Form, in der soziale Prägungen bis in den Körper hinein präsent sind, wobei eine subtile Logik der Unterscheidung wirkt. Klassenunterschiede werden durch diese "feinen Unterschiede" nicht etwa gestört, sondern mannigfach reproduziert. Bourdieu beschreibt die Gesellschaft mit dem Bild des "sozialen Raumes", in dem es nicht nur ein Oben und Unten, sondern zugleich horizontale Distanzen gibt und in dem ein System symbolischer Distinktionen Nähe und Ferne erzeugt. Daraus erklärt sich, warum es so schwierig ist, die ArbeiterInnenklasse im Sinne von Marx, nämlich die heute in Europa etwa 80 Prozent der Bevölkerung umfassende Gesamtheit derjenigen, die durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft das Kapital produzieren, zu einer progressiven reellen Handlungseinheit zu formieren: nicht weil Teile von ihr ein "falsches Bewusstsein" ihrer "objektiven" (ökonomischen) Identität hätten, sondern weil das objektive gesellschaftliche Sein eine Dimension des Symbolischen umfasst, in der sich das Verhältnis der Menschen zu ihren materiellen Existenzbedingungen in den Handlungsdispositionen aller in sehr verschiedenen Weisen materialisiert.

Mit der Genauigkeit seiner Analyse der französischen Gesellschaft der siebziger Jahre nahm Bourdieu natürlich das Risiko des Veraltens seiner empirischen Befunde in Kauf, denn Gesellschaft verändert sich. Ihm ging es darum, in den Details einer konkreten historischen Situation Aufschlüsse über grundlegende Formen der Konstitution sozialer Verhaltensmuster, Normen- und Wertesysteme zu gewinnen. Die konkrete Zusammensetzung der ArbeiterInnenklasse ist heute eine andere, die neue Perspektiven ermöglicht; es kann sowohl von einer Intellektualisierung der Arbeit als auch von einer Proletarisierung der Intellektuellen gesprochen werden. Die Einsichten von Bourdieu bleiben indes unvermindert aktuell für die Analyse der Konstitution von Klassenfraktionen und ihrem Verhältnis zueinander.

Vor allem: Ganz unten in der Gesellschaft stehen nach wie vor diejenigen, die weder über ökonomisches noch über kulturelles Kapital verfügen. Bourdieu hat mit einer Gruppe von MitarbeiterInnen Anfang der neunziger Jahre Interviews mit Angehörigen der Unterschichten durchgeführt, in denen deutlich wird, wie sie gesellschaftliche Widersprüche wahrnehmen. Das Elend der Welt heißt das umfangreiche Buch, in dem Bourdieu es unternahm, die Rede derjenigen, die keine öffentliche Stimme haben, vernehmbar zu machen. Reflexion auf die soziale Bedingtheit der eigenen, intellektuellen Positionen verband sich in Bourdieus Werk mit der Solidarität mit den Subalternen, die über unser theoretisches Wissen nicht verfügen und doch die Antagonismen der kapitalisischen Gesellschaft auf ihre Weise sehr scharf wahrzunehmen im Stande sind.

In den neunziger Jahren mit ihrer unerhörten Restauration eines aller sozialen Verpflichtungen entbundenen Kapitalismus durchbrach Bourdieu seine vormalige politische Zurückhaltung und wurde zum wortgewaltigen Protagonisten des Protests gegen den Neoliberalismus. Als Mitbegründer von ATTAC repräsentierte er freilich eher den reformistischen Flügel der neuen Linksopposition. Seine politischen Forderungen nach Wiedergewinnung der Staatlichkeit gegen den Privatisierungswahn, seine Appelle an gesamtgesellschaftliche Vernunft gegen die betriebswirtschaftliche Logik des Neoliberalismus gingen kaum über die Programmatik hinaus, mit der hier zu Lande Oskar Lafontaine gescheitert ist. Bourdieu blieb seinem alten Misstrauen gegen Utopismus treu; die Frage ist bloß, ob heute nicht die Hoffnung auf Wiederkehr des fordistischen Sozialstaats noch utopischer ist als der Kampf um Abschaffung von Lohnarbeit und Warenproduktion. Überdies hat Bourdieu mitunter auch zweifelhafte Formulierungen gebraucht, wenn er etwa dazu aufrief, Europa und seine sozialstaatliche Zivilisation gegen den amerikanischen Liberalismus und "Kulturimperialismus" zu verteidigen - Formulierungen, die auch nach rechts anschlussfähig sind, ohne dass Bourdieu, der sich immer auch entschieden für die "sans papiers" eingesetzt hat, dies angestrebt hätte.

Misstrauen
gegen Utopismus

Die Fragwürdigkeit von Bourdieus im sozialdemokratischen Horizont befangenen politischen Ansichten entwerten indes nicht seine theoretischen Leistungen und seine Verdienste für einen Bewusstseinswandel gegen die neoliberale Idiotie. Mit seinen Forderungen nach der Herausbildung eines neuen "kollektiven Intellektuellen", der nicht bloß aus AkademikerInnen besteht, sondern das Wissen aus allen Bereichen des Widerstands bündelt, hat Bourdieu eine Aufgabe formuliert, die richtungweisend bleibt.

Henning Böke