Betonköpfe sind gefordert
Die Metalltarifrunde 2002 hat begonnen
Die Tarifrunde ist eingeläutet, die formellen Rituale sind gestartet. Die Auseinandersetzungen um die Verteilung des erarbeiteten Reichtums kann beginnen. Dabei sind in diesem Jahr einige Sonderkomponenten zu beachten. Die Konjunktur in der Bundesrepublik ist an einem (vorläufigen?) Tiefpunkt angelangt; einige Lokomotiven für den Exportweltmeister BRD, wie die USA, befinden sich gar in einer Rezession. Die offiziell gemeldete Erwerbslosigkeit liegt wieder weit über vier Millionen. Zudem funktioniert das Bündnis für Arbeit nicht mehr in dem Maße wie noch vor zwei Jahren. Und über allem droht die Bundestagswahl im September. Eine schwierige Gemengelage für die Gewerkschaften, zumal die Stimmung - zumindest in den großen Betrieben der Metallindustrie - geladen ist. Dort lautet das Zauberwort: Mehr Geld!
Der Kanzler kann sich noch so oft, wie zuletzt im sachsen-anhaltinischen Ammendorf bei Bombardier/DMA, als Arbeitsplatzretter feiern lassen - seine Arbeitsmarktbilanz, an der er sich und seine Regierung messen lassen wollte, fällt alles andere als positiv aus. Einen maßgeblichen Beitrag zur Schaffung von Arbeitsplätzen sollte das Bündnis für Arbeit leisten. Bei der letzten Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie vor zwei Jahren trat die IG Metall in Vorleistung, vereinbarte eine zweijährige Tariflaufzeit und gab sich mit einem Anstieg der Löhne und Gehälter zufrieden, der sich in der Nähe des Produktivitätszuwachses bewegte und im vergangenen Jahr nicht einmal den Preisanstieg ausglich. Die Gegenleistung des Unternehmerlagers sollte in der Schaffung neuer Arbeitsplätze und dem Abbau von Überstunden bestehen.
Bündnis für Arbeit: Geben statt Nehmen
In einer Anzeige in der Bild-Zeitung (13. August 2001) feierten sich die Arbeitgeber "101.000 neue Stellen in der Metall- und Elektroindustrie - das gab es seit über zehn Jahren nicht mehr". Wohl wahr, im September waren es gar 128.000 mehr als im Januar 2.000. Es gibt allerdings einige Haken, worauf die IG Metall in einer Studie zur Tarifrunde 2002 verweist: "Erstens liegt die Metallbeschäftigung immer noch um 1,4 Millionen unter dem Höchststand von 1991 und eine halbe Million unter dem Stand des Krisenjahres 1993. Heute liegt die Beschäftigung in etwa auf dem Stand von Dezember 1995. Zweitens: In den letzten beiden Jahren erlebte die Metallindustrie einen Nachfrageboom, wie ihn selbst die deutsche Einheit nicht bescherte. Die Nachfrage - in diesem Fall die Auslandsnachfrage - ist der Auslöser für den Stellenaufbau. Mit den außenwirtschaftlichen Nachfrageausfällen droht auch die Beschäftigung wieder zu sinken." (1)
Für 2002 geht die IG Metall von einem Rückgang der Beschäftigung in der Metallbranche um 0,5 Prozent aus. Eine Einschätzung, die fast schon optimistisch wirkt angesichts zukünftiger Investitionspläne der Unternehmen. Bei jüngsten Umfragen gaben 41 Prozent der befragten Manager an, 2002 ihre Belegschaft reduzieren zu wollen, nur 15 Prozent wollen Neueinstellungen vornehmen. 36 Prozent der Unternehmen wollen ihre Investitionen verringern, nur 17 Prozent streben eine Erhöhung der Investitionen an.
Die Schwäche der Weltwirtschaft hat für die bundesdeutsche Industrie erhebliche Auswirkungen, denn der Export wurde in den letzten Jahren verstärkt zum Konjunkturmotor. Während zwischen 1993 und 2000 die Exporte um 69,9 Prozent zulegten, stieg der private Konsum im gleichen Zeitraum lediglich um 11,5 Prozent, der staatliche Konsum gar nur um 10,6 Prozent - eine eindeutige Schwäche der binnenwirtschaftlichen Nachfragekomponenten. Dass dem so ist, liegt natürlich auch an den Tarifabschlüssen der letzten Jahre. In der Metallindustrie stiegen die Löhne und Gehälter zwischen 1993 und 2000 um 19,7 Prozent, die Produktivität im gleichen Zeitraum um 52,2 Prozent.
Bei den Gewinnen fand unterdessen eine regelrechte Explosion statt. Die Gewinne stiegen von 0,5 Milliarden Euro im Krisenjahr 1993 auf 27 Milliarden Euro in 2000. Zu verteilen gäbe es also mehr als genug. Hier zeigt sich das Dilemma der Bündnis-für-Arbeit-Gewerkschafter in seltener Deutlichkeit: viel gegeben, nichts bekommen. Es scheint so, als ob das Arbeitgeberlager die Leidensfähigkeit der Gewerkschaftsoberen überschätzt hat. Zu konkreten Absprachen, wie vor zwei Jahren, waren DGB-, IG Metall-, ver.di- und BCE-VertreterInnen beim jüngsten Bündnis-für-Arbeit-Gespräch am 25. Januar nicht bereit. Ob sich die Konsensrunde in diesem Jahr noch einmal treffen wird, ist mehr als unsicher, selbst wenn Gerhard Schröder dies gerne so hätte. Daraus ein Ende des Korporatismus abzuleiten wäre allerdings verfehlt. Bestenfalls könnte es zu einer "Konfliktpartnerschaft" gegenüber der rot-grünen Bundesregierung kommen, wie es der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau (2.2.) ausdrückte.
Schwächelnde Binnennachfrage
Auch innerhalb des Gewerkschaftsapparates ist die Unzufriedenheit mit der Bundesregierung nicht zu unterschätzen. Nun droht mit Stoibers Kanzlerkandidatur und einem möglichen Wahlsieg von Schwarz-Gelb neues Ungemach. Das wollte sich auch das Arbeitgeberlager im Vorfeld der Bündnis-für-Arbeit-Gespräche zu nutze machen. Sie zogen die Karte Schröder, dem Streiks im Wahljahr alles andere als gelegen kämen, um die Gewerkschaften an die Kandare zu nehmen. Ob die Karte wirklich sticht, wird sich erst in den nächsten Wochen zeigen. Denn vorführen lassen wollen sich die Gewerkschaften natürlich auch nicht. Deswegen wiesen sie das dem Bündnis-Gespräch vorliegende Papier der Arbeitgeber einhellig zurück, das im wesentlichen altbekannte Forderungen wie niedrige Lohnabschlüsse in diesem Jahr, die Ausweitung befristeter Arbeitsverhältnisse und weitere Steuerentlastungen für die Unternehmen enthielt.
Im Gegensatz zu seinem sonstigen Auftreten gab der scheidende DGB-Vorsitzende Schulte gegenüber der Leipziger Volkszeitung seine Zurückhaltung auf: "Es geht um gerechte Teilhabe am Gewinn. Entscheidend ist, dass wir die, die bei uns sind, nicht noch einmal mit einer schlappen Tarifrunde enttäuschen können. Was haben die Arbeitgeber nicht alles bekommen, nachdem sie so geklagt haben: Zurückhaltung in der Tarifpolitik, die Leiharbeit wurde enttabuisiert, bei der Arbeitszeit sind wir so flexibel, dass jeder einzelne Betrieb eine auf ihn abgestimmte Lösung wählen kann. Aber was machen die Arbeitgeber? Sie haken die eine Forderung ab, um gleich die nächste zu präsentieren. Ich habe die Schnauze voll."
Dennoch ist es gut vorstellbar, dass nach der Tarifrunde in der Metall- und Chemiebranche ein neuer Versuch mit dem Bündnis für Arbeit gestartet wird. Schröder hat allemal Interesse daran.
Der Verlauf der Tarifrunde dürfte nicht unwesentlich für den weiteren Fortgang des Bündnisses für Arbeit sein. Das Arbeitgeberlager fährt zur Zeit, zumindest nach außen hin, einen harten Kurs - ein bekanntes Ritual im Vorfeld von Tarifrunden. Die Forderungen der Gewerkschaften liegen nunmehr alle auf dem Tisch. Die IG Metall geht in den Bezirken durchgängig mit einer Forderung von 6,5 Prozent mehr Lohn und Gehalt ins Rennen. Zusätzlich will sie einen "unumkehrbaren Einstieg" bei der Angleichung der Einkommen von ArbeiterInnen und Angestellten erreichen. In der Chemiebranche, in der der Tarifvertrag ebenfalls am 28.2. ausläuft, stellt die IG BCE (Bergbau, Chemie, Energie) eine Forderung von 5,5 Prozent auf. Gleichzeitig hat sie Bereitschaft signalisiert, das 13. Gehalt an den Unternehmenserfolg zu koppeln. Dieser Vorschlag wurde von den Chemiearbeitgebern natürlich ebenso begeistert aufgenommen wie der Seitenhieb des IG BCE-Vorsitzenden Hubertus Schmoldt auf die Forderungen der IG Metall: "Wir möchten mit unseren Abschlussgrößen im Verhältnis zu unserer Forderung ernst genommen werden." (Handelsblatt, 30.1.) In der Chemiebranche sollen die Tarifverhandlungen am 4. März in Hessen aufgenommen werden, um sie dann ab April zu zentralisieren.
In Bayern fanden am 7.2. erste Tarifgespräche statt. Sie wurden ergebnislos auf den 4. März vertagt. An diesem Tag wollen die Arbeitgebervertreter Stellung zu den IG Metall Forderungen beziehen. Der Tarifvertrag in der Metallbranche läuft noch bis zum 28.2., vier Wochen später, am 28.3, endet die Friedenspflicht.
Nach dem momentanen Stand der Dinge deutet einiges auf Streiks hin. Denn die bisher von Unternehmerseite in den Raum gestellten Erhöhungen sind geeignet, Streiks förmlich zu provozieren. Nun gehört diese Vorgehensweise sicherlich zum (Verhandlungs-)Ritual. Den Spielraum für Lohnerhöhungen zwischen einem und 1,5 Prozent anzusiedeln, wie es der bayrische Arbeitgebervertreter Greiffenberger tut, wird die Stimmung in den Betrieben sicherlich anheizen.
Auch der profunden wirtschaftswissenschaftlichen Ratgeber gibt es mehr als genug. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) empfiehlt eine Orientierung an den mittelfristigen Inflations- und Produktivitätsraten. Die setzt es bei der Inflation bei 1,5 Prozent und beim Produktivitätsfortschritt bei einem Prozent an. Also, so die neoliberale Denkschule, liegt der beschäftigungsneutrale Lohnabschluss bei 2,5 Prozent. Jedoch, "wenn wir die Beschäftigung sichern wollen, müssen wir aber noch einen halben Prozentpunkt unter dieser Marke bleiben", so der Leiter der Konjunkturabteilung des IfW. (Handelsblatt, 1.2.)
Sachverständige mahnen zur Bescheidenheit
In das gleiche Horn stößt der Präsident des Hamburger Weltwirtschaftsarchivs (HWWA), Thomas Straubhaar. Er hält maximal zwei Prozent Lohnerhöhung für vertretbar. "Alles unter zwei Prozent bringt neue Arbeitsplätze oder kann zumindest verhindern, dass Stellen gestrichen werden. Alles über zwei Prozent wird neue Arbeitslosigkeit schaffen." (Hamburger Abendblatt, 29.1.) So einfach funktioniert die neoliberale (Gedanken-)Welt.
Straubhaar liegt damit sogar noch über den Vorstellungen von Gesamtmetall-Chef Kannegiesser, der wegen der aktuellen Konjunkturkrise einen "Personalüberhang" von 140.000 in den Betrieben der Metallbranche sieht und deshalb die Lohnerhöhung am erwarteten Produktivitätszuwachs orientieren will. Das deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) empfiehlt eine Ausschöpfung des verteilungsneutralen Spielraums, um die Binnennachfrage anzukurbeln, und siedelt diesen bei drei Prozent an, während Wirtschaftsminister Müller die Abschlüsse des Jahres 2000 als "Modell für die kommende Tarifrunde" anpreist. Solche Abschlüsse werden vom DIW in wissenschaftlich umschreibender Art und Weise als "exzessiv moderat" bezeichnet.
Das Mitglied des Sachverständigenrates Bert Rürup sieht dagegen den verteilungsneutralen Spielraum bei rund 3,5 Prozent. "Er setzt sich zusammen aus der Produktivitätssteigerung und der durchschnittlichen Inflationsrate. Beides schätze ich bei 1,8 Prozent im Jahr. Das heißt, bei 3,5 bis 3,6 Prozent wären die Lohnabschlüsse völlig verteilungsneutral."
Um diesen lediglich verteilungsneutralen Spielraum zu erreichen, wird die IG Metall aller Voraussicht nach nicht ohne Streik auskommen. Wie stark Arbeitskampfmaßnahmen angewandt werden, entscheidet sich nicht zuletzt in den nächsten Wochen in den Betrieben selbst. Die Stimmung in den Betrieben soll, so die allgemeine Einschätzung, in Richtung höherer Abschlüsse gehen. Ob diese Stimmung auch zum Tragen kommt, hängt, neben dem Agieren der Arbeitgeber, auch von der möglichen Rücksichtnahme der Gewerkschaftsstrategen gegenüber ihrem "historischen Partner" SPD ab. Ein neu-mittiger Schröder ist ihnen allemal lieber als ein rechter Stoiber. Der Abschluss in der Metall- und Chemiebranche wird natürlich auch Auswirkungen auf die anderen Branchen haben. Im ersten Halbjahr laufen die Tarifverträge im Bauhauptgewerbe, im Einzel- und Großhandel, in der Druckindustrie, bei den Banken und bei den Versicherungen aus. Allesamt Branchen (vielleicht mit Ausnahme der Druckbranche), in denen eher von niedrigeren Abschlüssen als in der Metallbranche ausgegangen werden muss.
Diese Tarifrunde entscheidet auch darüber, ob es die "Betonköpfe in den Gewerkschaften" (Handelsblatt) schaffen, eine Trendwende bei der Verteilung durchzusetzen.
Georg Wißmeier
Anmerkung:
1) Bericht der IG Metall zur Tarifrunde 2002 - Sozialökonomische Rahmenbedingungen in der Metallverarbeitenden Industrie (Kurzfassung), S. 14