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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 459 / 22.2.2002

Parallelwelten

Erkenntnisse im Lichte des Schmücker-Verfahrens

Nach 591 Verhandlungstagen in 16 Jahren, vier Verfahrensdurchgängen und Kosten von mindestens fünf Millionen Euro ging im Januar 1991 der längste und skandalträchtigste Prozess der deutschen Justizgeschichte zu Ende. Das Schmücker-Verfahren war ein Prozess der Superlativen und gehört zu den dunkelsten Kapiteln des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV), ja des Verfassungschutzes (VS) überhaupt. Er ist der Prototyp eines geheimdienstlich angelegten Verfahrens.

Im Juni 1974 wird Ulrich Schmücker in Berlin erschossen. Kurz zuvor war der Student als VS-Spitzel enttarnt worden, der als Lockvogel in der linken Szene, speziell gegen die damalige "Bewegung 2. Juni" eingesetzt ist. Zur Hinrichtung Schmückers bekennt sich ein "Kommando Schwarzer Juni" der "Bewegung 2. Juni". Sechs Verdächtige werden festgenommen. Einer, der Kronzeuge Jürgen Bodeux, legt ein Geständnis ab. Der erste Prozess endet mit "Lebenslang" für die Hauptangeklagte Ilse Schwipper. Danach folgen Revision, Prozess, Revision ... Seit 1975 wurde vor vier verschiedenen Strafkammern des Berliner Landgerichts und in unzähligen Verfahren durch sämtliche verwaltungsgerichtliche Instanzen in dieser Sache gerungen. Sechzehn Jahre später wird das eigentliche Verfahren eingestellt. Der Mord ist nicht aufzuklären. Nebenverfahren um Spitzelpensionen bzw. deren Rückzahlung und andere Verfahren laufen noch jahrelang weiter.

Auch nach Abzug der Westberliner Besonderheiten - wie etwa der speziellen Rolle des LfV, und der Alliierten, die bis 1990 zum Teil hoheitliche Rechte innehatten, oder dem damaligen speziellen Berliner Filz aus Polizei, Diensten, Justiz und Politik - ist das Schmücker-Verfahren eine Paradebeispiel für einen politischen Prozess und die Rolle, die Justiz, Ermittlungsbehörden und Geheimdienste dabei spielen. Neben anderen Berliner Ereignissen in diesem Bereich war es der Schmücker-Prozess, der die heutige Landwirtschaftsministerin Renate Künast veranlasste, folgenden Lehrsatz zu verkünden: "Die besten Beweise, dass Verfassungsschutz und Demokratie nicht zusammengehören, liefert immer noch der Verfassungsschutz" (taz, 14.9.98)

Vor allem der Kanthersche Umbau der Strafprozessordnung und Polizeigesetze Mitte der 90er-Jahre, die Sicherheitspakete, die im Zuge des 11. September durchgepeitscht wurden, und das NPD-Verbotsverfahren zeigen allerdings, dass der Zeitgeist von dieser Weisheit nichts übrig gelassen hat. Dabei müsste aus heutiger Sicht der Künastsche Unvereinbarkeitsbeschluss nicht kassiert, sondern ausgeweitet werden; ausgeweitet auf die geheimen Bereiche der Polizei, auf die Bereiche, in denen die Verdachtsgewinnung und -verdichtung weit ins Vorfeld konkreter Straftaten verschoben worden ist (Stichwort § 129a), auf die Legalisierung von Kronzeugen.

Ein Rückblick auf das Schmücker-Verfahren zeigt nämlich vor allem: Vieles, was damals noch skandalisierbar war, ist heute "veralltäglicht" und "normalisiert", in Gesetze gefasst, bei Polizei und Diensten konzeptionell und strukturell abgesichert. Damals gelang es noch durch härteste Verteidigungsarbeit, die bis an die materielle und berufliche Existenz einzelner VerteidigerInnen ging (1), diese Vorgänge öffentlichkeitswirksam zu thematisieren. (Bedeutet das, anders herum gefragt, dass heutzutage alles streng rechtsstaatlich zugeht? Schon ein flüchtiger Blick auf das NPD-Verbotsverfahren und den Berliner RZ-Prozess verweisen diese optimistische Frage ruck, zuck ins Reich der Spekulation.)

Im Schmücker-Verfahren drehte sich alles um den Kronzeugen Bodeux und die Spitzel des Landes- bzw. Bundes-VS. Sie waren es, die in Zusammenarbeit mit ihren "V-Mann-Führern" alles Notwendige für das Verfahren lieferten: die Verdächtigen, den Tatablauf, die Zusammenhänge und Interpretationen. Am Dirigentenpult stand das Landesamt für Verfassungsschutz Berlin. Im Schmücker-Verfahren war es noch ein besonderer Skandal, dass der VS mit seinen Spitzeln und ihren Führern den Informationsfluss im Verfahren dirigierte, Akten verschwinden ließ und fälschte. Heute ist das Teil eines Prozesses, den Rolf Gössner Mitte der 80er-Jahre als Schritt zur "sicherheitspolitischen Wiedervereinigung" und Ausdehnung des Geheimbereichs von Polizei und Geheimdiensten beschrieben hat. Im Verlauf dieses Prozesses wurde in Polizeigesetzen, der Strafprozessordnung und einer ganzen Reihe anderer Gesetze der achtziger und neunziger Jahre die Trennung von Polizei und Geheimdiensten der Lächerlichkeit preisgegeben. Seitdem bilden die Polizeien ihre klandestinen Abteilungen, Sondereinsatzkommandos (SEK) und Ad-hoc-Einsatzgruppen mit eigenen V-Leuten, die auf fallbezogene Spurendokumentationssysteme und vernetzte, bundesweite Datensysteme zurückgreifen können. Die Rolle des LfV übernehmen heute polizeiliche Sonderkommissionen auf Grundlage ausufernder Datenerfassung im Vorfeld von Straftaten und mit polizeilichen V-Leuten.

Das Schmücker-Verfahren ist der Prototyp für geheimdienstlich angelegte Verfahren, bei denen den Gerichten jeweils nur das präsentiert werden soll, was den Hintermännern genehm ist: Erst fünf Jahre nach Prozessbeginn kam im Schmücker-Verfahren ans Tageslicht, dass bereits in den ersten Wochen der Ermittlungen in der dafür eingerichteten Sonderkommission ständig der VS in Gestalt des "V-Mann-Führers" Grünhagen am Tisch saß und dort nicht nur mit Informationen steuernd eingriff, sondern grundsätzlich mit Informationen geheimdienstlich, d.h. hochgradig selektiv verfuhr. Erst zehn Jahre später wurde bekannt, dass der VS über eben diesen Anti-Terrorismus-Experten Grünhagen unmittelbar nach der Tat die Tatwaffe aus dem Verkehr gezogen und versteckt hielt. Erst in diesem Zusammenhang wurde Ende der achtziger Jahre dann auch bekannt, dass der V-Mann Schmücker praktisch unter Observation stand, als er erschossen wurde. Zu diesem Zeitpunkt kam auch an die Öffentlichkeit, dass Anwälte abgehört und Spitzel in Rechtsanwaltspraxen platziert wurden.

In der Einstellungsbegründung nach 16 Jahren stellte die Richterin fest, dass die Angeklagten zu reinen Objekten staatlicher Gewalt geworden seien. Bereits 1987 hatte Rechtsanwalt Rainer Elfferding darauf hingewiesen, dass sich diese Art der Desinformation und Ermittlungstätigkeit schon angedeutet habe durch das, "was in den ersten Monaten der Ermittlungstätigkeit alles nicht ermittelt worden ist, was nicht aktenkundig gemacht worden ist und was ,verschwunden` ist ..." (Cilip 28) Diese "nicht", das versteht sich von selbst, betraf alles, was nicht in die Richtung der damals präsentierten Verdächtigten wies.

Der VS behielt von Anfang an das Heft in der Hand. Er war verantwortlich für den Einsatz des späteren Opfers Schmücker als VS-Spitzel und Lockvogel, er leitete maßgeblich die ersten Ermittlungen an, er koordinierte den umfassenden Einsatz des Superkronzeugen Bodeux, er hielt die Tatwaffe im eigenen Aktenschrank zehn Jahre lang versteckt. Mindestens vier Spitzel des Landesamtes oder des Bundesamtes waren an maßgeblicher Stelle und zu entscheidenden Zeiten im Einsatz. Deren Wirken haben die Hintermänner immer zu verschweigen versucht ... Staatsanwaltschaft und Polizei spielten immer mit.

Diese Art, Ermittlungsrichtung und Verfahren mit Informationen und dem Verschweigen von Informationen zu steuern, schlug sich im Schmücker-Verfahren organisatorisch in einem "inneren" und einem "äußeren" Kreis der Sonderkommission nieder - eine Trennung, die - diese Vermutung legt Elfferding nahe - nötig war, weil nicht alle polizeilichen Mitglieder die geheimdienstliche Ausrichtung mitgetragen hätten. ( ebda.)

Praktisch folgte aus dieser heimlichen Verfahrensführung durch den VS für die Verteidigung der Zwang, auf den verschiedensten Ebenen - der Ermittlungen, der Aktenführung, der Zeugenvernehmungen usw. - gegen den Primat des Geheimdienstes eine seriöse Ermittlungsarbeit einzufordern, juristisch einzuklagen, und das hieß meistens auch politisch durchzusetzen. Nach der endgültigen Einstellung des Schmücker-Prozesses nach 16 Jahren fasst Elfferding bezugnehmend auf die Ausführungen des Gerichts diese geheimdienstliche Prozessführung so zusammen: "Dieser Strafprozess ist von Beginn an, also bereits im Ermittlungsverfahren 1974, insbesondere von dem Berliner Landesamt für Verfassungsschutz in Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft und der Abteilung Staatsschutz der Berliner Polizei gesteuert worden. Wie es das Gericht jetzt formuliert hat, haben praktisch zwei Prozesse parallel stattgefunden. Der eine offiziell und scheinbar nach den Regeln der Strafprozessordnung, und im Hintergrund einer, von dem keiner was wissen sollte." (ak 327)

Parallelprozesse dieser Art haben einen Anfang: geheimdienstliche Ermittlungsmethoden mit Spitzel- und Lageberichten statt Spurensuche, Einsatz von Kronzeugen statt konkrete Beweisführung, Verdachtsverdichtung im Vorfeld statt gerichtliche Wahrheitsfindung. Im derzeit laufenden Berliner RZ-Verfahren, dessen Anklage auf einem einzigen Kronzeugen basiert, äußerte Harald Glöde jüngst den Verdacht, dass die ans Tageslicht gekommene Aktenzurückhaltung und -fälschung durch das BKA v.a. zwei Ziele habe: Zum einen das Ausmaß des Drucks auf den Kronzeugen im Zuge der Ermittlungen zu verschleiern und zum anderen die Ermittlungsergebnisse unter Verschluss zu halten, die das BKA gegen den heutigen Kronzeugen gewonnen habe. (vgl. Früchte des Wahns 4)

Es liegt in der Natur dieser Schattenprozesse, dass solche Thesen nur gegen die Vorgaben von BKA und BAW entwickelt werden können. Hinweise auf solchen Druck und derartige Ermittlungsergebnisse müssen ja gefunden und bestätigt werden. Am Anfang des Schmücker-Verfahrens standen ein Kronzeuge und Aktenmanipulation oder -reduktion, Verschweigen polizeilicher Aktivitäten wie Vernehmungen, Gespräche, Protokolle, Aufbereiten der Informationen für den äußeren Kreis der Ermittler und die Gerichte. Dieses Vorgehen muss seitdem als eindeutiges Indiz für einen geheimdienstlich ausgerichteten Prozess gelten. Diese Praktiken sind auch im RZ-Verfahren zu finden. Alles deutet darauf hin, dass die Anklage nur durch anhaltende Manipulationen aufrechtzuerhalten ist.

Albrecht Maurer

Anmerkung:

1) So wurde z.B. der erste Verteidiger des Kronzeugen Bodeux, Reinhard, von seinem Mandanten auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung beschuldigt und als großer Fisch präsentiert, der in der bundesweiten Fahndungsaktion "Aktion Winterreise" Ende 1974 ins Netz gegangen sei.