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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 460 / 22.3.2002

Genua am Rande des Massakers

Scajolas Schießbefehl gegen "Straßenterror"

Hat der italienische Innenminister Claudio Scajola (Forza Italia) fahrlässig ein Staatsgeheimnis ausgeplaudert? Oder steckt Absicht hinter seinen scheinbar beiläufigen Erklärungen an einige Journalisten, die ihn auf dem Rückflug von einer EU-Konferenz in Spanien begleiteten? "Während des G8-Gipfels von Genua war ich in der Nacht des Todesfalles gezwungen, den Schießbefehl für den Fall zu geben, dass sie die rote Zone durchbrochen hätten", erzählte Scajola Mitte Februar. Zur Erinnerung: Der Tote war der 23-jährige Carlo Giuliani, der am 20. Juli von dem Carabiniere Mario Placanica erschossen wurde; die rote Zone war die mit meterhohen Metallgittern verbarrikadierte Altstadt von Genua, wo die Mächtigen der Welt tagten; und "sie" - das waren die 200.000 oder mehr, die in Genua demonstrierten und den absolut unzugänglichen Tagungsort belagerten.

Die Spitzen der Sicherheitsorgane dementierten Scajolas brisante Enthüllung: Es habe in Genua keinen Schießbefehl gegeben. Der Minister ruderte umgehend zurück: Nicht auf Demonstranten sollte geschossen werden, sondern auf Terroristen. Ägyptens Staatschef Mubarak habe glaubwürdige Hinweise auf ein in Genua geplantes Attentat gegeben; demnach hätte die Terrorgruppe Al Qaida vorgehabt, George W. Bush am Ort des Gipfels zu ermorden. Wie der Anschlag vereitelt werden konnte, erzählte Scajola nicht.

Für die Regierungsparteien ist Scajola nun der Held, der "einen italienischen 11. September" verhindert habe. Politiker des regierenden Rechtsblocks wiederholten eine besonders infame Bemerkung Berlusconis vom Herbst vergangenen Jahres: Der "Straßenterrorismus" von Genua sei mit dem Terrorismus Bin Ladens "verwandt". Der Vizepräsident des Senats, Roberto Calderoli (Lega Nord), ging noch weiter: Wer heute Scajolas Schießbefehl kritisiere, gehöre wegen Begünstigung des Terrorismus hinter Gitter.

VertreterInnen des inzwischen aufgelösten Genoa Social Forum widersprachen der Behauptung des Ministers, er habe den Schießbefehl erst am Abend des 20. Juli gegeben - als Reaktion auf Mubaraks dringlichen Hinweis. Denn schon an diesem Tag haben Carabinieri und Polizei in mindestens 18 Fällen geschossen. Die Erfindung einer zum Mord an Bush entschlossenen "terroristischen Zelle" in den Straßen von Genua solle den Terror der Polizei nachträglich rechtfertigen, sagte Vittorio Agnoletto vom Genoa Social Forum. Nach anonymen Hinweisen aus den Reihen der Sicherheitskräfte wurde vor dem Gipfel der Gebrauch von Schusswaffen extra geübt - womit Scajola ein weiteres Mal der Lüge überführt ist: Der Innenminister hatte nach den Schüssen von Göteborg öffentlich erklärt, solange er Minister sei, werde bei Demonstrationen in Italien niemals geschossen werden.

Scajolas Schießbefehl und der mindestens 18-fache Schusswaffengebrauch schon am 20. Juli erschüttern natürlich auch die ohnehin äußerst wacklige These, Carlo Giuliani sei "in Notwehr" erschossen worden. (vgl. ak 453) Ballistische Untersuchungen und verschiedene Filmaufnahmen legen nahe, dass Carlo Giuliani drei bis vier Meter von Placanicas Jeep entfernt war (und nicht "50 bis 110 Zentimeter", wie die polizeilichen Ermittler zunächst behaupteten); Placanica habe definitiv freie Sicht auf sein Opfer gehabt, erklärte der römische Gerichtsmediziner Bruno Gentile: "Er hatte alle Möglichkeiten. Er konnte in die Luft schießen oder viele andere Dinge tun." Wenn er sich dafür entschied, Carlo Giuliani in den Kopf zu schießen, könnte er das auch in dem Wissen getan haben, dass der zuständige Minister ihn decken würde. Was bekanntlich auch geschah.

Bleibt die Frage, warum Scajola jetzt unbedrängt auf den Polizeiterror von Genua zu sprechen kam. War er vielleicht doch in Bedrängnis? Dafür spricht seine im gleichen Atemzug getane Äußerung, die wie eine Warnung an seinesgleichen klingt, ihn nicht etwa zum Abschuss freizugeben: "Vielleicht wissen wir schon bald, welche Befehle andere gegeben hatten." Damit könnte er, wie die linke Tageszeitung Il Manifesto (16.2.) vermutet, auf die CIA oder auf "ultrarechte Sektoren" bei den italienischen "Ordnungskräften" anspielen - aber auch auf seinen Ministerkollegen Gianfranco Fini (Alleanza Nazionale), der in den Tagen von Genua als inoffizieller Oberbefehlshaber der Sicherheitskräfte vor Ort war. Fini jedenfalls zog es vor, Scajolas Enthüllungen nicht zu kommentieren.

Neue Zweifel an der Notwehrthese

Was immer Scajola angetrieben hat - seine Erzählungen sind auch eine Warnung an die wachsende außerparlamentarische Bewegung: Die Rechtsregierung, er selbst und "seine" bewaffnete Polizei würden buchstäblich alles tun, um den "Straßenterror" zu bekämpfen. Die Warnung wird wohl verstanden, sie hat aber eher eine mobilisierende Wirkung. Sehr zum Verdruss der Regierung, die schon im Oktober vergangenen Jahres die Akte schließen wollte, wird die Erinnerung an den Staatsterror von Genua immer wieder aufgefrischt. Nicht nur durch Scajola. Dessen Lieblingsfeind, Luca Casarini, Sprecher der Tute Bianche, beschuldigt den Innenminister offen des Mordes (an Carlo Giuliani) und des versuchten Massakers (durch den Schießbefehl). Casarini, für Scajola und Fini Urheber der "Krawalle" von Genua, gilt seit Februar offiziell nicht mehr als Beschuldigter; seine berühmte "Kriegserklärung" an das G8-Treffen sei vom Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt, befanden die Ermittlungsrichter. "Sechs Monate Kriminalisierungsversuche der Rechten gegen Casarini waren erfolglos", kommentierte Il Manifesto (20.2.).

Auch die staatsanwaltlichen Befragungen misshandelter GipfelgegnerInnen könnten der italienischen Regierung noch Ärger einbringen. Jüngste Ermittlungen italienischer Staatsanwälte in Berlin lassen es zumindest nicht völlig aussichtslos erscheinen, doch noch den einen oder anderen Schläger in Uniform zu überführen. (vgl. taz, 23.2.) Und wenn diese dann zu plaudern anfangen, dann könnten sie Leute mit in den Abgrund ziehen, die heute noch auf dem hohen Ross sitzen ...

Js.