Die Atomindustrie schätzt Rot-Grün
Kernenergierekordjahr 2001 in Zeichen des "Atomausstiegs"
Kanzlerkandidat Edmund Stoiber stößt mit seinen Wahlkampfversprechen bei der Energiewirtschaft auf taube Ohren. Die Stromkonzerne wollen auch im Falle eines Wahlsieges von CDU und CSU am Atomkonsens festhalten. Angeblich soll der forsche Kandidat aus Bayern, der in den letzten Wochen mehrfach angekündigt hatte, im Falle eines Sieges bei der Bundestagswahl die Konsensvereinbarung wieder rückgängig zu machen, von den Spitzen der bundesdeutschen Atomwirtschaft zurückgepfiffen worden sein. Auch wenn er ein direktes Gespräch mit Stoiber dementiert, betont der Vorstandsvorsitzende des baden-württembergischen Energiekonzerns EnBW, Gerhard Goll: "Wir stehen zu der Verständigung, die wir mit dieser Bundesregierung abgeschlossen haben. An politischen Spekulationen für die Zeit nach der Bundestagswahl beteiligen wir uns nicht." Auch Günter Marquis, Präsident des Verbandes der Elektrizitätswirtschaft (VDEW), bekräftigt, dass der Vertrag zwischen der Branche und der rot-grünen Koalition auch im Falle eines Wahlsieges der Union bei der Bundestagswahl im September Bestand haben werde: "Wenn wir eine Vereinbarung unterzeichnen, dann stehen wir auch dazu," beteuert Marquis.
Doch Stoiber bleibt stur. "An mich ist niemand herangetreten," dementiert er alle Meldungen, die Atomindustrie habe ihn gebeten, am Atomkonsens festzuhalten. "Ohne die bestehenden Kernkraftwerke sind die Klimaschutzziele nicht erreichbar, zu denen sich Deutschland international verpflichtet hat." Außerdem sei der angebliche Ausstieg aus der Atomenergie in Wahrheit ein Einstieg in den Import von billigem Atomstrom aus dem Ausland. Unionsfraktionschef Friedrich Merz scheint sein Ohr näher am Puls der Strombosse zu haben. Er relativiert die vollmundigen Ankündigungen seines Kanzlerkandidaten, indem er darauf verweist, man könne sich mit der Industrie auch noch in 15 bis 20 Jahren über die dann anstehenden energiepolitischen Notwendigkeiten verständigen. Der für Stoiber peinliche Vorgang zeigt, dass die Atomindustrie offensichtlich weiß, was sie an Rot-Grün hat. Der Atomkonsens garantiert für die AKWs Laufzeiten von mehr als 30 Jahren. Sonderregelungen ermöglichen das Weiterfahren der ältesten Meiler. Reststrommengen stillgelegter Kraftwerke können auf die modernsten Anlagen übertragen werden. Der mittelfristige Ausstieg aus der viel zu teuren Wiederaufbereitung, die Reduzierung der Castor-Transporte durch die dezentrale Zwischenlagerung an den Kraftwerksstandorten und die auf die lange Bank geschobene Suche nach einem geeigneten Endlagerstandort schaffen Ruhe an der Entsorgungsfront, bisher die Achillesferse der Atomindustrie. Zudem bleiben den Konzernen die steuerlichen Privilegien in Form der milliardenschweren Entsorgungsrückstellungen erhalten. Im Rahmen einer sog. Friedenspflicht hat sich Rot-Grün außerdem darauf festgelegt, auf eine Erhöhung der geltenden Sicherheitsstandards zu verzichten. So ungestört wie unter Rot-Grün konnten die Atomkonzerne wohl noch nie ihr Geld verdienen.
Auch der gesellschaftliche Konflikt um die Nutzung der Atomenergie wurde durch Rot-Grün weitgehend befriedet. Nach einem zweijährigen Transportstopp - noch von Umweltministerin Angela Merkel wegen des Kontaminationsskandals verhängt - laufen die Atommülltransporte in die Wiederaufbereitung mittlerweile wieder fast reibungslos. So kam der zweite Transport in das Zwischenlager Gorleben im November letzten Jahres ohne die sonst üblichen spektakulären Widerstandsaktionen an sein Ziel. Selbst am symbolträchtigsten Ort des Anti-Atom-Widerstandes droht die rot-grüne Befriedungspolitik und die polizeiliche Zermürbungsstrategie aufzugehen. An der Atomfront herrscht zur Zeit eine fast schon gespenstische Ruhe.
Selbst nach den Terroranschlägen vom 11. September, die eindrucksvoll die Verletzbarkeit dieser Technologie deutlich gemacht haben, blieb der bundesdeutschen Atomindustrie eine hitzige Sicherheitsdebatte erspart. Forderungen nach einer schnelleren Abschaltung der Atomkraftwerke wurden in der politischen Debatte marginalisiert. Auch die schweren Störfälle der letzten Zeit haben die BetreiberInnen problemlos überstanden. Im schleswig-holsteinischen AKW Brunsbüttel wurde eine Rohrexplosion im Sicherheitsbereich über Wochen geheim gehalten, da ein sofortiges Abschalten der Anlage zu teuer erschien. Im Kernkraftwerk Phillipsburg blieb gleich eine ganze Pannenserie ohne ernsthafte Konsequenzen. Wochenlang war eine zu geringe Borsäure-Konzentration im Notkühlsystem unentdeckt geblieben. Auch ohne Realisierung der angekündigten Verbesserungen im Sicherheitsbereich ist das Kraftwerk bereits wieder seit Mitte Dezember am Netz.
Strahlende Gewinnerin:
die Atomlobby
In der Branche ist von Katerstimmung angesichts rot-grüner Ausstiegspläne nichts zu spüren. In seinem Jahresbericht 2001 verkündet das Deutsche Atomforum stolz ein "Kernenergierekordjahr für Deutschland". So viel wie die 171 Milliarden Kilowattstunden Atomstrom wurden in Deutschland noch nie produziert. Während die Atomenergie boomt, stagniert die Ökostromerzeugung. Ihr Marktanteil am bundesdeutschen Stromverbrauch liegt bei jämmerlichen 7 Prozent. Auch das Betriebsergebnis der einzelnen Atomkraftwerke kann sich sehen lassen. Acht deutsche Reaktoren liegen unter den ersten zehn Plätzen in der globalen Stromerzeugungsbilanz. Das AKW Isar 2 wurde sogar zum Weltmeister gekürt. Kein Wunder also, dass sich die Atomlobby in ihrem Jahresbericht selbst feiert: "Unter den 31 Kernenergie nutzenden Nationen der Erde produzierte Deutschland mit der vergleichsweise niedrigen Zahl von 19 Reaktoren die vierthöchste Strommenge hinter den USA, Frankreich und Japan."
Dennoch gilt der angebliche Ausstieg aus der Atomenergie immer noch als eines der wenigen Vorzeigeprojekte der rot-grünen Koalition. Die tatsächliche Bilanz nach vier Jahren rot-grüner Regierungspraxis bietet ein anderes Bild. Kein einziges AKW wurde bisher vom Netz genommen. Von dem angekündigten ausstiegsorientierten Gesetzesvollzug ist nichts zu spüren. Obwohl Jürgen Trittin die Wiederaufbereitung mit sofortiger Wirkung verbieten wollte, laufen die Transporte in die WAA noch mindestens bis zum Jahr 2005 weiter. Mit den dezentralen Zwischenlagern und der Kapazitätserweiterung der Urananreicherungsanlage in Gronau betreibt Rot-Grün sogar den Neu- bzw. Ausbau der bundesdeutschen Atomanlagen. Und auch das in der Atomgesetznovelle enthaltene Neubauverbot für AKWs bereitet der Atomindustrie keine Probleme. Auf Grund vorhandener Überkapazitäten und des billigen Importstroms auf den europäischen Strommärkten will in den nächsten zehn Jahren ohnehin niemand neue Kraftwerke bauen. Mit so einem Atomausstieg lässt es sich prima leben.
Tom Binger