Titelseite ak
Linksnet.de
ak und Fantômas sind Partner von Linksnet.de

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 460 / 22.3.2002

Das Primat des Militärischen

Kein Ende des Gemetzels in Israel/Palästina

Während die Gewalt im israelisch-palästinensischen Konflikt eine schier unaufhaltsame Dynamik entfaltet, sind praktische Vorschläge zur Verbesserung der verfahrenen Situation rar. Schon beim Verständnis des Konfliktes klaffen auch in der Linken die Meinungen weit auseinander. Was dem einem das heroisch gegen die israelische Besatzung kämpfende palästinensische Volk, ist dem anderen das in seiner Existenz bedrohte Israel im Kampf gegen den palästinensischen Vernichtungswillen.

Das Leben in Israel muss wirklich furchtbar sein dieser Tage. Um eine existenzielle Bedrohung des Staates handelt es sich dabei aber nicht. Zumindest nicht militärisch. Denn Israel ist eine Atommacht mit einigen hundert einsatzbereiten Sprengköpfen und einer allen regionalen Konkurrenten weit überlegenen konventionellen Streitmacht. Hinzu kommt der Rückhalt der USA. Was zwischen Israelis und Palästinensern passiert, gleicht mittlerweile asymmetrischer Kriegführung. Eine hochgerüstete und bestens trainierte israelische Armee kämpft gegen schlecht ausgerüstete, wenn auch zu allem entschlossene palästinensische Guerillas, und die Zivilbevölkerung auf beiden Seiten kriegt am meisten ab. Mit ihrer als "Schneeballkampagne" hübsch umschriebenen kurzfristigen Besetzung immer neuer palästinensischer Bevölkerungszentren scheint die Regierung Sharon den Boden zu bereiten für eine erneute dauerhafte Besetzung der gesamten A-Gebiete, also für die lange angedrohte endgültige Zerschlagung der palästinensischen Autonomiebehörde.

Rückkehr zu dauerhafter Besetzung?

Damit wären wir wieder bei dem angelangt, was der Jerusalemer Soziologe Baruch Kimmerling als "israelisches Kontrollsystem" bezeichnet hat. Israel übt de facto staatliche Souveränität über die - völkerrechtlich nur teilweise definierten - Staatsgrenzen hinaus auch in anderen Gebieten aus, die demnach als besetzt gelten: die Golanhöhen, Westbank, Gaza und Ost-Jerusalem. Zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen in diesem System besteht ein Statusgefälle; weder genießen sie die gleichen Rechte, noch haben sie gleichermaßen Zugang zu Ressourcen und politischer Macht. Nach Kimmerlings Modell ist die Bevölkerung in konzentrischen Kreisen um den Staat herum angesiedelt. Den inneren Kreis bilden jüdische Israelis, danach kommen die nicht-jüdischen StaatsbürgerInnen - Palästinenser, Drusen, Beduinen - und am weitesten vom Zentrum entfernt sind die PalästinenserInnen in den seit 1967 besetzten Gebieten.

Das Oslo-Abkommen von 1993 erschien zunächst wie der Beginn eines Abschieds von diesem konfliktträchtigen Modell. Doch unterm Strich bleibt festzustellen, dass israelische Regierungen den Preis für einen dauerhaften Frieden nicht zahlen konnten oder wollten, zum Beispiel in Bezug auf die Siedlungen. Oslo verkam letztlich zu einem Mechanismus, mit dem Israel sich der Verantwortung für die palästinensischen Bevölkerungszentren entledigen wollte, ohne dabei die Kontrolle über den Großteil des Landes zu verlieren oder das grundsätzliche Kräfteverhältnis anzutasten. Das ist wie ein versuchtes Outsourcing der PalästinenserInnen aus dem israelischen System, ohne jedoch die neue Tochterfirma mit Kapital auszustatten. Die palästinensische Autonomiebehörde war den verschiedenen israelischen Regierungen vor allem als Hilfssheriff bei der Kontrolle der palästinensischen Bevölkerung willkommen, nicht als gleichwertiger Partner in einem politischen Prozess. Diese kurzsichtige und allein auf innenpolitische Spannungen schielende Strategie erlitt unter der Regierung Barak in Camp David Schiffbruch.

Versagt aber der Hilfssheriff, ist er ein heimtückischer Verräter und muss abgesetzt werden; für Ordnung muss dann wieder der Chef persönlich sorgen. Die zum inneren Kreis des Kontrollsystems zählenden jüdischen Israelis haben bei den letzten Wahlen mehrheitlich Sharon gewählt, weil der für eine solche Aufgabe bestens geeignet ist. Ein dreckiger Job, der darin besteht, den palästinensischen Widerstandswillen gegen die israelische Herrschaft zu brechen, um im nächsten Schritt eine politische Lösung diktieren zu können. Die Mehrheit der Israelis glaubt weiterhin an die Legitimität der israelischen Militäraktionen. Benjamin Netanjahu, der wahrscheinliche Herausforderer Sharons bei den nächsten Wahlen, hatte in einem BBC-Interview (12.3.02) sogar die Stirn, auf die Humanität der israelischen Armee zu verweisen, da sie die Flüchtlingslager ja nicht einfach aus der Luft bombardiere, sondern sie Haus für Haus durchkämme und dabei junge Soldatenleben aufs Spiel setze. Dies unterscheide die Armee eindeutig von den palästinensischen Selbstmordattentätern ... Mit dieser Mär von der israelischen Waffenreinheit gibt Netanjahu eine Sicht wieder, die kürzlich sogar vom Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofes, Aharon Barak, geäußert wurde. Es steht nicht gut um die Glaubwürdigkeit des Rechtsstaates in Israel. (Gideon Levy in Ha'aretz, 10.3.02)

Was den PalästinenserInnen heute passiert, ist in der Tat eine existenzielle Bedrohung für die gesamte Gesellschaft. Es geht hier um eine systematische Zerschlagung der militärischen, politischen, ökonomischen, sozialen und medizinischen Infrastruktur der PalästinenserInnen in den besetzten Gebieten. Arafats Regierung im Wartestand ist durch israelische Bombardements und ökonomische Strangulierung weitgehend entmachtet, die Initiative liegt bei den Guerillagruppen und Bombenbastlern, denen Arafat in seiner jetzigen Lage und angesichts der Brutalität der israelischen Armee nichts mehr verbieten kann, selbst wenn er wollte. Aber auch die israelische Armee kann ihnen schließlich nichts verbieten. Die Selbstmordattentäter kommen oft genug aus Gebieten unter völliger israelischer Hoheit (C-Gebiete) und können trotz massivster Sicherheitsvorkehrungen an den Grenzen und innerhalb Israels ihre Ziele erreichen. Auch unter den Israelis sind die meisten Todesopfer ZivilistInnen, nicht Soldaten.

Internationale Einmischung unumgänglich

Aus dieser Perspektive erscheint die aktuelle Lage mehr wie ein Bürgerkrieg zwischen Angehörigen des ersten und des dritten Kreises im israelischen Kontrollsystem denn als ein Krieg zwischen zwei getrennten Systemen. Auf beiden Seiten regieren die Militärs: Sharon baut auf die Überlegenheit der israelischen Armee, und die palästinensischen Guerillas spekulieren auf die niedrigere Leidensfähigkeit der israelischen Gesellschaft im Vergleich zur palästinensischen. Damit kopieren sie eine Strategie, die von der Hizbollah im Südlibanon mit Erfolg umgesetzt wurde. Sie übersehen dabei jedoch, dass der Südlibanon politisch wie ökonomisch nie so eng mit Israel verflochten war, wie die 1967 besetzten Gebiete es sind, und dass einer größeren Menge kriegsmüder BefürworterInnen eines Rückzugs aus den palästinensischen Gebieten eine noch größere Menge von ideologisch hochgeputschten KriegsbefürworterInnen gegenübersteht, die sich durch palästinensischen Terror natürlich bestätigt sehen. Dieser Konflikt droht zu einem Selbstgänger zu werden, der von innen nicht mehr zu stoppen ist.

Auch die weiteren Aussichten sind düster: Sharon hat in den vergangenen Wochen erstmals keine Mehrheit mehr in den Meinungsumfragen gehabt; gerade ist die vereinigte rechtsradikale Liste mit zwei Ministern aus der Koalition ausgestiegen - aus Protest gegen Sharons auch an Washington adressierte Ankündigung, notfalls auch ohne Waffenruhe mit den Palästinensern verhandeln zu wollen. Momentan liegt Sharon in den Umfragen mit Abstand hinter seinem potenziellen Herausforderer Netanjahu, der für eine noch härtere Gangart plädiert. Sharon ist also angezählt. Aus Rücksicht auf die Arbeitspartei als seinem größten verbleibenden Koalitionspartner und unter dem misstrauischen Auge Washingtons kann er sich nicht alles erlauben, was die Logik der Eskalation fordert. Im Likud erwartet man daher vorgezogene Wahlen im kommenden Frühjahr. (Ha'aretz, 10.3.02) Wenn bis dahin weiterhin so viel Blut fließt wie bisher, wird dies Sharon als Versagen angelastet werden. Die Antwort hieße dann Netanjahu. Oder kann sich jemand ernsthaft vorstellen, dass ein Kandidat der völlig abgewirtschafteten Arbeitspartei oder der potenzielle Kandidat eines parteiübergreifenden Wahlbündnisses der Linken, Jossi Beilin, das Rennen machen?

Keine vorstellbare israelische Regierung wird aus eigenem Antrieb die einzig mögliche Lösung des Konfliktes - das Ende der Besatzung - in Angriff nehmen. Es wird also Zeit, sich über mögliche Einflussnahme von außen auf den israelisch-palästinensischen Konflikt Gedanken zu machen. Am einfachsten wäre es natürlich, wenn die USA mit der Drosselung des Geldhahns drohten, an dem Israel hängt. In Ermangelung dieser Möglichkeit sind kreative Lösungsvorschläge gefragt. Etwa die des saudischen Kronprinzen Abdallah, der damit vielleicht die Arabische Liga wieder ins diplomatische Spiel bringen wird. Sein Vorschlag - die komplette Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und den arabischen Staaten gegen den kompletten Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten - ist natürlich aus taktischen Erwägungen im Kontext des von den USA forcierten "Antiterrorkrieges" entstanden. Die arabischen Bündnispartner der USA könnten ihre Bevölkerungen angesichts eines potenziellen Angriffs auf den Irak wesentlich leichter unter Kontrolle halten, wenn nicht gleichzeitig Israel sein komplettes Kolonialregime in den besetzten Gebieten wieder aufrichten würde. Aber ungeachtet der Motive, die zu dieser Initiative geführt haben, ist dies ein guter Vorschlag. Wenn die USA auf diesen Kuhhandel nicht eingehen und ihren Einfluss auf Israel in diesem Sinne geltend machen, sind sie entweder größenwahnsinnig oder blind. Dann bliebe nur noch die UNO in Kooperation mit anderen Großmächten als mögliches Vehikel einer internationalen Einflussnahme auf den Konflikt übrig.

Achim Rohde