Rasterfahndung: Suchmaschine der Innenminister
Konkret nutzlos, juristisch umstritten - vor allem gefährlich
"Neues aus der Mottenkiste", so betitelte jüngst die Deutsche Richterzeitung einen Beitrag zur Rasterfahndung. In der Mottenkiste war die Rasterfahndung verschwunden, nachdem sie lange vom früheren BKA-Präsidenten Horst Herold als unverzichtbares Fahndungsinstrument gepriesen wurde. Jetzt nach dem 11. September 2001 ist die Rasterfahndung wieder reaktiviert worden, wenn auch verblüffender Weise gar nicht zur Fahndung nach terroristischen Tätern. Denn unter Fahndung versteht man die Suche nach bekannten oder unbekannten Tätern zum Zwecke der Strafverfolgung. Aber darum geht es bei der gegenwärtig stattfindenden Rasterfahndung nicht.
Die momentane Rasterfahndung erfolgt auf Grundlage der Polizeigesetze der Länder. Sie soll der Gefahrenabwehr dienen, also der Verhinderung künftiger Straftaten, nicht der Verfolgung bereits begangener Straftaten. Der Generalbundesanwalt wollte nämlich von dem ihm bundesweit mit § 98a StPO zur Verfügung stehenden Instrument der Rasterfahndung zum Zwecke der Strafverfolgung gerade keinen Gebrauch machen. Hintergrund dürfte sein, dass es äußerst zweifelhaft gewesen wäre, ob für eine solche Rasterfahndung die gesetzlichen Voraussetzungen gegeben waren. Denn zum Zwecke der Strafverfolgung kann die Rasterfahndung nur eingesetzt werden, wenn ein Anfangsverdacht einer Katalogstraftat, etwa nach § 129a StGB gegeben wäre.
Die Strafbarkeit gem. § 129a StGB setzt allerdings voraus, dass die Vereinigung mindestens eine Teilorganisation im Geltungsbereich des Grundgesetzes hat (organisatorischer Inlandsbezug). Nicht ausreichend ist es, wenn Mitglieder einer ausländischen Vereinigung, sei es auch für längere Zeit, ohne selbstständige Organisationsstruktur im Inland operieren. Da eigenständige Teilorganisationen des so genannten Al-Qaida-Netzwerkes in Deutschland nicht ersichtlich sind, lag somit der Verdacht einer Katalogtat i.S.d. § 98 a Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht vor. Zwar ist die Einführung eines § 129 b StGB in Vorbereitung, der die Regelung des § 129 a StGB auch auf ausländische Vereinigungen erstrecken soll, auf der Grundlage des bisher geltenden Rechts konnte aber eine strafprozessuale Rasterfahndung nicht wegen des Verdachts des Bestehens einer terroristischen Vereinigung durchgeführt werden.
Die Innenminister der Länder entschieden sich daher, von dem in den Landesgesetzen der Länder auch zum Zwecke der Gefahrenabwehr aufgenommenen Instrument Gebrauch zu machen. Damit begannen die nicht unerheblichen Probleme der Polizei.
Gefahrenabwehr ersetzt Strafverfolgung
Problem 1: In einigen Bundesländern gab es keine Bestimmungen über die Rasterfahndung, in Bremen war sie sogar kurz zuvor aus dem Polizeigesetz gestrichen worden. Wie in solchen Zeiten üblich dauerten die gesetzlichen "Nachbesserungen" aber nicht allzu lange und auch Schleswig-Holstein, Niedersachen und Bremen hatten wieder gesetzliche Regelungen zur Rasterfahndung. Diese sind notwendig, weil seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Volkszählung im Jahre 1983 jede Verwendung und Weitergabe von Daten einer gesetzlichen Grundlage bedarf.
Problem 2: Die gesetzlichen Voraussetzungen der Rasterfahndung sind von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich: Zum Teil steht die Rasterfahndung - ähnlich etwa wie Durchsuchungen oder Festnahmen - unter Richtervorbehalt. Dies ist etwa in Berlin, Brandenburg, Hessen, NRW und Sachsen-Anhalt der Fall. In den anderen Bundesländern dagegen reicht die Anordnung mehr oder weniger hoch stehender Beamter. Auch variieren die Bedingungen für die Rasterfahndung erheblich: Ist etwa in Berlin, NRW oder Hessen eine gegenwärtige Gefahr für den Bestand der Sicherheit eines Bundeslandes oder des Bundes oder für Leib und Leben und Freiheit erforderlich, kann in Niedersachsen schon zur Bekämpfung erheblicher Straftaten gerastert werden - die fangen beim gewerbsmäßigen Fahrraddiebstahl an.
Problem 3: Ins Visier nahm man allein stehende islamische/arabisch(-stämmig)e männliche Studierende, die vor allem dadurch auffallen, dass sie unauffällig sind: keine ausländerrechtlichen Beschränkungen, keine Straftaten. Dies ergibt sich aus einem vom Bundeskriminalamt (BKA) erstellten Täterprofil. Deren Daten sollten von den Landespolizeibehörden bei den Universitäten und Einwohnermeldeämtern erhoben werden und an das BKA - das keine Befugnis zur Rasterfahndung hat - weitergeleitet werden. Sorgen der Betroffenen, hier öffentlich stigmatisiert zu werden, versuchte NRW-Innenminister Behrens mit den Worten zu zerstreuen: "Die Rasterfahndung ist ein modernes Fahndungsmittel, ähnlich einer Suchmaschine im Internet, die nicht im Widerspruch zu den Prinzipien unseres Rechtsstaates steht." Der kleine Unterschied zwischen geschützten persönlichen Daten bei Universitäten und Einwohnermeldeämtern und öffentlich im Internet zugänglichen Daten ist Behrens anscheinend nicht ganz bewusst.
Die zur rechtsstaatlichen Sicherung des Verfahrens eingeschalteten Amtsrichter erwiesen sich für die Polizeibehörden als keine allzu große Hürde: So benötigte etwa das Amtsgericht Düsseldorf knapp 24 Stunden, um die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen der Rasterfahndung zu überprüfen. Später benötigten die Gerichte Monate für die Prüfung der Rechtsmittel der Betroffenen. Auf Grund der Beschwerden der Betroffenen wurde die Rasterfahndung dann in Hessen und Berlin gänzlich gestoppt, in NRW eingeschränkt.
Als Problem erwies sich hier ein offenkundiger Gegensatz: Während nach den gesetzlichen Bestimmungen die Rasterfahndung nur zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr, also eines schon entstandenen Schadens bzw. eines mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bevorstehenden Schadens zulässig war, verkündeten Bundesregierung und Länderregierungen, die Lage sei ruhig, es gäbe keine konkreten Hinweise auf Anschläge von "Terroristen in Deutschland". Demgegenüber hieß es in dem Antrag des hessischen Landeskriminalamtes an das Amtsgericht Wiesbaden: "Das BKA führt zur Gefährdungssituation im Falle eines Militärschlages aus, dass für den Fall eines Angriffes US-amerikanischer Streitkräfte gegen Ziele in Afghanistan und/oder der anderen Unterstützerstaaten mit hohen Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung mit einer Vielzahl von Demonstrationen unter großer Beteiligung der in Deutschland lebenden muslimischen Bevölkerung zu rechnen ist. Daneben sind Gewalttaten durch extremistische islamische Kreise in der Bundesrepublik Deutschland einzukalkulieren. Des weiteren müssen schwere Straftaten bis hin zu terroristischen Straftaten durch fanatisierte Einzeltäter und Kleingruppen in Betracht gezogen werden." Einmal abgesehen davon, dass diese "Täterkreise" rein gar nichts mit den so genannten Schläfern zu tun haben, nach denen angeblich gesucht wurde, so erscheint doch die damit gleichzeitig zum Ausdruck gebrachte Gefährdungslage jedenfalls für die afghanische Zivilbevölkerung nicht unrealistisch - realistischer jedenfalls als manche Hoffnung auf einen "sauberen Krieg".
Exakt dieser Widerspruch zwischen öffentlich und gegenüber den Gerichten geäußerter Lageeinschätzung wurde den Polizeibehörden in Hessen und Berlin zum Verhängnis. Unter Bezugnahme auf die Erklärungen der Bundesregierung, die seit Ende September 2001 darauf hinwies, es seien keine Anzeichen ersichtlich, dass die Verübung terroristischer Gewalttaten bevorstehe, wurde die Anordnung der Rasterfahndung durch das Landgericht (LG) Berlin am 15.1.02 aufgehoben. Ebenso in Hessen durch das LG Wiesbaden am 6.2.02: "Die Antragsbegründung ist auf Vermutungen gestützt. Trotz monatelanger intensiver Fahndungen ist der Antragsteller mit seinem Vorbringen über das Stadium von Mutmaßungen nicht hinausgekommen." Dem Einwand, die Bundesregierung habe hier keine rechtlichen Erklärungen abgeben wollen, hielt das Landgericht entgegen, die Bundesregierung sei mit den ihr zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen mehr als jede andere Stelle in der Lage, das Vorliegen einer gegenwärtigen Gefahr zu beurteilen. Wörtlich: "Dass auf diese Beurteilung kein Verlass wäre, darf wohl nicht angenommen werden."
Mentalität des Schützengrabens
Anders als in Hessen entschieden die Gerichte in NRW: Das LG Düsseldorf sah in seinem Beschluss vom 29.10.2001 eine gegenwärtige Gefährdung schon deshalb, weil die Bundesregierung die uneingeschränkte Solidarität mit den USA auch mittels militärischer Unterstützung bekundet habe und "seitens der hinter den Anschlägen vom 11.9.2001 vermuteten Organisation spätestens seit der Militäraktion gegen Afghanistan Vergeltungsschläge gegen die an den militärischen Aktionen beteiligten Staaten angekündigt wurden". Diese Einschätzung wurde später durch das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf ausdrücklich gebilligt, das sogar von einer "notstandsähnlichen Situation" sprach.
Kassiert wurde vom OLG Düsseldorf hingegen die Rasterfahndung, so weit sie deutsche Staatsangehörige betrifft, denn NRW-Innenminister Behrens hatte seine Suchmaschine gleich auf die gesamte männliche Bevölkerung im terrorismusfähigen Alter angesetzt. Unabhängig von Staatsangehörigkeit und Religion oder auch Studentenstatus wurden die persönlichen Daten aller in NRW lebenden Männer zwischen 18 und 41 Jahren an das Polizeipräsidium Düsseldorf übermittelt, insgesamt allein von den Einwohnermeldeämtern die Daten von 4.669.224 Personen. Ausländischen Studierenden mit als "verdächtig" eingestufter Staatsangehörigkeit attestierte das Gericht eine wenn auch schwache Gefahrennähe, weshalb diese Personen zu Recht als verdächtig eingestuft würden, immerhin noch 10.937 Personen.
Die Verwaltungsgerichte (VG) Mainz und Hamburg freilich segneten die Rasterfahndung ab: Insbesondere das VG Mainz begründete gleich eine weltweite Zuständigkeit der Polizisten aus Rheinland-Pfalz. Da am 11. September in New York auch deutsche Strafrechtsnormen verletzt worden seien, sei auch die Polizei zur Verhinderung dieser Straftaten zuständig. Die offenkundige Schwäche dieser Argumentation verbarg man hinter starken Worten. Der Staat müsse "zur Aufrechterhaltung seines Ordnungsgefüges seine Maßnahmen der Dimension der jeweiligen Herausforderung" anpassen, wobei sich das Gericht sinnigerweise auf das Urteil zum § 218 bezog, aus dem sich eine Schutzpflicht des Staates zum Schutz des Lebens ergebe. Erwogen wird auch eine rechtliche Verpflichtung des Staates, "zur Verwirklichung der Menschenrechte weltweit beizutragen". Viel Arbeit, die da auf die kleine Landespolizei in Rheinland-Pfalz zukommt, aber es handelt sich dabei nur um "selbstverständliche und erwartete staatliche Präventivmaßnahmen". Kein gutes Haar ließ man an den Kollegen vom Landgericht Berlin. Deren Entscheidung wird nicht nur für falsch gehalten, nein, sondern sie steht gleich "mit tragenden Rechtsprinzipien nicht in Einklang" - dabei hatten die Richter in Berlin nur geprüft, ob die tatsächlichen Voraussetzungen der Rasterfahndung gegeben waren.
Wenige Tage später antworteten die Richter des OLG Frankfurt, die die Beschwerde des hessischen Innenministers gegen die Einstellung der Rasterfahndung zurückwiesen: "Mit der Übertragung der Entscheidungskompetenz und Verantwortung auf die Gerichte ist zugleich die Erwartung verbunden, dass sich die zur Entscheidung berufenen Richterinnen und Richter - auch in Krisenzeiten - nicht von eigenen Emotionen oder Emotionen anderer, sondern ausschließlich vom Gesetz leiten lassen." Damit ist zugleich der Kern des Problems beschrieben: An Stelle von Vernunft und Besonnenheit herrschte nach dem 11. September eine Mentalität des Schützengrabens. Ohne dass in Deutschland auch nur eine Person verletzt wurde, brachen die innenpolitischen Dämme. Man kann sich kaum ausmalen, wie es hier zu Lande aussähe, wenn tatsächlich einmal die "Innere Sicherheit" auf dem Spiel stünde.
Der 11. September hatte so die Funktion eines innenpolitischen Katalysators. Der münstersche Strafrechtsprofessor Welp kommentierte dies treffend mit den Worten: "Wir haben im Moment ein Klima, in dem fast alles, was unter der Marke Sicherheit verkauft wird, auch durchgeboxt wird." Und die nächsten Schritte sind schon angekündigt: CDU und FDP in Hessen wollen das Polizeigesetz des Landes ändern und die Richter vom Landgericht Wiesbaden und des OLG Frankfurt künftig für unzuständig erklären.
RA Wilhelm Achelpöhler,
Münster