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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 460 / 22.3.2002

Anklage: Selbstverteidigung

Weil sie sich gegen Nazi-Überfälle wehrte, steht eine türkische Familie vor Gericht

Notwehr oder Angriff? Diese Frage haben die Ermittlungsbehörden offensichtlich schon beantwortet: Im sächsischen Pirna ist die Familie Sendilmen wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung in mehreren Fällen angeklagt. Am 12. März begann im Amtsgericht Pirna der Prozess. Die Familie soll grundlos "Jugendliche auf Kneipentour" attackiert haben. Seit 1997 betreibt die Familie eine Gaststätte in Pirnas Altstadt und wird immer wieder von Neonazis bedroht. Der Fortgang des Prozesses wurde auf unbestimmte Zeit vertagt.

Vor fünf Jahren zog die türkische Familie Sendilmen in die ostsächsische Kleinstadt Pirna. Seitdem betreibt sie in der Jacobäerstraße die Gaststätte "Antalya-Grill" - allerdings nicht ungestört: Mehre Male überfielen Neonazis die Gaststätte, provozierten und bedrohten die fünfköpfige Familie. Allein im Jahr 2000 ist es zu mindestens vier Auseinandersetzungen mit Rechtsextremen gekommen. Bis zu 30 Neonazis standen manchmal vor dem Haus, vor allem am Wochenende und mitten in der Nacht.

Am 1. Mai 1998 randalierten rechte Jugendliche zum ersten Mal vor der Gaststätte: 20 Stühle seien dabei kaputt gegangen, sagt Adem Sendilmen. Seine Anzeige bewirkte nichts, die Täter fühlten sich ermutigt. Die Provokationen gehen weiter, die Familie sieht sich von der Polizei im Stich gelassen. Die Polizei habe auf ihre Notrufe nicht oder erst sehr spät reagiert, so die Familie.

Im Oktober 2000 hat die Familie Sendilmen Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Polizei Pirna eingereicht. Die Polizei Pirna wehrt die Vorwürfe ab. Auch die Staatsanwaltschaft Dresden sieht keine Versäumnisse der Polizei. Zurückgewiesen wird ebenfalls die Kritik der gewerkschaftsnahen Aktion Zivilcourage, die lokale Polizei habe das Treiben der Skinheads Sächsische Schweiz (SSS) jahrelang verharmlost und Beschwerden nicht ernst genommen.

Nazis provozieren und attackieren

Die 1997 gegründete und 2001 verbotene Organisation zählt rund 120 Mitglieder und etwa 200 Sympathisanten, die fest verankert in ihren Gemeinden sind: ein Sozialarbeiter bei der Arbeiterwohlfahrt, Söhne von Kaufleuten aus der Region, von Kommunalpolitikern und Polizeibeamten. Wegen dieser engen Verflechtungen waren offensichtlich auch Polizeibeamte aus der Region nicht informiert worden, als 200 Beamte des sächsischen Landeskriminalamtes im Juni 2000 die Wohnungen von Neonazis südöstlich von Dresden durchsuchten. Der Fund: Zwei Kilogramm Sprengstoff, Granaten, Gewehre, Pistolen, Zündvorrichtungen und Nazi-Propaganda.

Warten, bis der "Antalya-Grill" kurz und klein geschlagen wird? Zusehen, wie das Haus angezündet wird, und dabei sicher sein, dass die Polizei keine Tatverdächtigen aufspüren wird? Am 14. Januar 2001 kurz nach Mitternacht bewaffnen sich die Eltern Adem und Keziban Sendilmen sowie zwei Söhne und die Tochter mit Stöcken, weil Neonazis vor dem Lokal stehen. Mit Stöcken und Eisenstangen sollen sie auf die Gruppe Jugendlicher eingeschlagen haben. Einem jungen Mann soll mit einem Dönermesser die Hose aufgeschlitzt worden sein. Die Folge: Kratzer am Hintern. Der Mutter wird zudem vorgeworfen, einen Kochtopf mit heißer Flüssigkeit geholt und auf die Jugendlichen geschüttet zu haben.

Wieder erstatteten die Neonazis Anzeige gegen die Familie. Die Methode: So lange bedrohen und provozieren, bis sich die Angegriffenen wehren, dann gleich ausreichend Zeugen bereit haben, die belegen, wie aufbrausend und gewalttätig doch die Ausländer seien. Kommt die Polizei, geben sie sich als unschuldige Opfer. Die örtliche Presse berichtet von Türken, die mit dem Dönermesser auf Jugendliche losgehen. Der Ruf der Gaststätte ist ruiniert. Der Umsatz geht zurück. Der Stress, schlaflose Nächte und die Attacken haben das Ehepaar Adem und Keziban Sendilmen krank gemacht.

Polizei und Bevölkerung schaut weg

Polizei und Staatsanwaltschaft stellen die Situation so dar, als hätte die Familie Sendilmen die Jugendlichen auf einer Kneipentour aus dem Nichts heraus angegriffen. Teilen der Familie droht eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Die fünf VerteidigerInnen der Familie Sendilmen werfen der Staatsanwaltschaft vor, einseitig ermittelt zu haben. Zudem beanstandeten sie, dass das Gericht nur Zeugen geladen hat, die gegen die Familie aussagt. "Es gibt zahlreiche Zeugen - Gäste und Nachbarn - die anderes beobachtet haben, aber es wurden ausschließlich Nazizeugen und Belastungszeugen geladen," sagt der Verteidiger Ulrich von Klinggräff.

Als Zeugen geladen sind die "Geschädigten" - Neonazis und teils ehemalige Mitglieder der SSS. Mindestens drei von ihnen sind, neben weiteren ehemaligen Mitgliedern der SSS, wegen "Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung" angeklagt. Der Prozess vor dem Landgericht Dresden wird voraussichtlich im Sommer dieses Jahres beginnen.

Die Anwälte beantragten, die Ermittlungsakten gegen SSS-Mitglieder hinzuzuziehen, um sich ein Bild von den Zeugen zu machen und um das zu klären, was eigentlich Aufgabe der Ermittlungsbehörden gewesen wäre: inwieweit die "Geschädigten" und Mitglieder der SSS in geplanter und organisierter Form den "Antalya-Grill" der Familie Sendilmen angegriffen haben. In der Begründung der Verbotsverfügung des Sächsischen Innenministeriums für die militante Neonaziorganisation SSS sei ausdrücklich auf die Angriffe gegen die Gaststätte "Antalya-Grill" hingewiesen worden, so die Verteidigung. Zitiert wird dort ein internes Schreiben der SSS, in dem es heißt, dass "davon ausgegangen werden muss, dass sich in den Räumen über dem Geschäft regelmäßig linke Gewalttäter treffen. Über Lösungen des Problems durch Söldner sollte nachgedacht werden." Bei einem "Geschädigten" und Zeugen wurden bei den Hausdurchsuchungen im Vorfeld des SSS-Verbotes zudem steckbriefartige Informationen über Ausländer und Linke aus der Region beschlagnahmt.

Der Amtsrichter Jürgen Uhlig bewilligte den Antrag der Verteidigung. Die Ermittlungen gegen die SSS sollen in den Prozess miteinbezogen werden, das Gericht will sich die Akten beschaffen. Der Prozess ist auf unbestimmte Zeit vertagt.

Anke Schwarzer