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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 460 / 22.3.2002

Hitlers Fünfte Kolonne

Tschechiens EU-Beitritt und die Benes-Dekrete

Offiziell hat die deutsch-tschechische Vergangenheit bei Joschka Fischers jüngstem Prag-Besuch keine Rolle gespielt. Der deutsche Außenminister habe mit seinem tschechischen Amtskollegen und mit Ministerpräsident Milos Zeman "Zukunftsfragen" beraten, hieß es: Tschechiens Beitritt zur EU nämlich. Der aber ist wieder heftig umstritten, seitdem Zeman sich gegenüber einer österreichischen und einer israelischen Zeitung auch zur Frage der "Sudetendeutschen" geäußert hat. Zeman selbst dementierte, er hätte Arafat mit Hitler verglichen. Gesagt aber hat er etwas, das in deutschen Landen ungleich größere Empörung hervorrief: Dass die "Sudetendeutschen" Hitlers Fünfte Kolonne in der Tschechoslowakei waren und dass ihre durch die sog. Benes-Dekrete verordnete Enteignung und Vertreibung 1945/46 eine vergleichsweise "milde Strafe" gewesen sei.

Die 3,2 Millionen Deutschsprachigen im Sudetenland standen dem 1918 gegründeten Staat Tschechoslowakei (CSR) ablehnend bis feindlich gegenüber: Sie hatten die Privilegien verloren, die sie im untergegangenen Habsburgerreich genossen hatten. Dass sie im besonderen Maße von der Wirtschaftskrise seit 1929 betroffen waren, brachte sie noch mehr gegen die CSR auf. Als ihre Interessenvertretung setzte sich in den 30er Jahren die Sudetendeutsche Partei unter Konrad Henlein immer mehr durch. Bei den Kommunalwahlen im Mai/Juni 1938 erreichte sie fast 92 Prozent der Stimmen. Die überwältigende Zustimmung galt nicht etwa einem Folklore-Verein, sondern einer pronazistischen Partei, die zu diesem Zeitpunkt offen für den "Anschluss" an das Deutsche Reich eintrat. Der herabsetzende Begriff einer Fünften Kolonne Hitlers ist für die Sudetendeutschen des Jahres 1938 also keineswegs unpassend. Das findet auch der linksradikalen Neigungen unverdächtige Historiker Klaus-Dietmar Henke (bis 1992 Mitarbeiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, danach der Gauck-Behörde). Henke schreibt: "Zur Fünften Kolonne wurde die mitgliedsstarke Sudetendeutsche Partei, hinter der mittlerweile der Großteil der deutschen Wähler stand, aber erst Ende 1937, als ihr Führer Konrad Henlein sie dem deutschen Reichskanzler als Werkzeug zum Aufbrechen der Ersten Tschechoslowakischen Republik in die Hand gab." (1)

Die Folgen dieses Bündnisses sind bekannt: Auf der Münchener Konferenz im September 1938 wurden die mehrheitlich von Deutschen bewohnten Gebiete der CSR dem Nazi-Reich angegliedert; es folgte der Einmarsch der Wehrmacht in Prag (März 1939) und die Besetzung des westlichen Landesteils, der zum "Protektorat Böhmen und Mähren" wurde. Ziel der brutalen Besatzungspolitik war, wie Heinrich Himmler in einer Radioansprache verkündete, die "Weiterhinausschiebung einer eindeutigen deutschen Volkstumsgrenze", die "endgültige Eindeutschung dieses Raumes". Eine "Bestandsaufnahme in rassisch-völkischer Hinsicht" sollte die den Nazis zur Zwangs-Assimilation tauglich scheinenden Menschen "guten Bluts unserer Art" vom Rest trennen, der nach Osten "ausgesiedelt" - d.h. vertrieben oder ermordet - werden sollte.

Auch wenn diese Politik der "Umvolkung" nicht in vollem Umfang durchgeführt werden konnte - die deutsche Besatzungspolitik war äußerst brutal und opferreich. Mindestens 38.000 Tschechinnen und Tschechen wurden erschossen, 100.000 verließen 1945 die Konzentrationslager als Invaliden. Nach dem erfolgreichen Attentat auf SD-Chef Reinhard Heydrich im Mai 1942 eskalierte der deutsche Terror. Befehle Hitlers und Himmlers, zur "Vergeltung" bis zu 30.000 Menschen zu ermorden, wurden nur wegen der damit verbundenen Nachteile für die Rüstungsproduktion im Protektorat annulliert. Die Rache traf stattdessen das Dorf Lidice, das am 9. Juni 1942 dem Erdboden gleich gemacht wurde; 173 Männer wurden erschossen, 200 Frauen in Konzentrationslager gebracht und 105 Kinder verschleppt. Lidice blieb das Fanal für deutschen Besatzungsterror und tschechischen Widerstand.

Allerdings gab es auch in den deutschsprachigen Gebieten aktive AntifaschistInnen. Nach dem "Anschluss" flüchteten viele ins Ausland, 40.000 Sudetendeutsche kamen in KZs. Generell teilte sich die deutschsprachige Bevölkerung der Tschechoslowakei ebenso wie die im Deutschen Reich in "Opfer, Täter und Zuschauer" (Raul Hilberg). Dass die deutsche Minderheit in einer nach dem Sieg über Nazi-Deutschland neu konstituierten tschechoslowakischen Republik ein massives Problem darstellen würde, war der in London ansässigen tschechoslowakischen Exilregierung um Staatspräsident Eduard Benes frühzeitig klar. Benes ging von der richtigen Überlegung aus, das besiegte Deutschland müsse daran gehindert werden, "seine nationalen Minderheiten für pan-germanistische Ziele zu missbrauchen". Als bestes Mittel dagegen erschien ihm und der Exilregierung die "Eliminierung der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei". Die Alliierten der Anti-Hitler-Koalition waren der gleichen Ansicht.

Unmittelbar am Ende des Krieges begann die "wilde Austreibung" der Deutschen. Die seit Mai 1945 erlassenen Benes-Dekrete (10 von insgesamt 143 behandelten das Problem der deutschen und ungarischen Minderheiten) waren auch der Versuch, diese von Gewalttaten geprägte Phase zu beenden. Als "human" können die Benes-Dekrete dennoch nicht bezeichnet werden. Sie enthielten eine kollektive Verurteilung der "Personen deutscher oder madjarischer Nationalität" als "staatlich unzuverlässige Personen". Der ihnen gehörende Boden sei an "Personen slawischer Nationalität" zu übergeben; Häuser, Geld und Wertpapiere wurden konfisziert, Rentenansprüche verfielen. Hinzu kamen eine allgemeine Arbeitspflicht und Einschränkungen bei der Berufsausübung. Wer als Deutsche/r oder UngarIn die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft annehmen wollte, musste nachweisen, dass er auf der Seite der Tschechoslowakei aktiv am Kampf gegen Nazi-Deutschland teilgenommen hatte. Während etwa 200.000 Deutschstämmige in der Tschechoslowakei bleiben durften, wurden bis Ende 1946 2,9 Millionen Deutsche in das von den Alliierten verwaltete Deutschland und nach Österreich ausgesiedelt.

Dass die Deutschen "nicht auf der Grundlage erwiesener individueller Schuld, sondern als Angehörige einer bestimmten Nation" aus der Tschechoslowakei ausgewiesen wurden, hat Staatspräsident Vaclav Havel schon 1990 ausgesprochen. Eine nachträgliche Rücknahme der Dekrete hat er damit schon deshalb nicht bezweckt, weil das eine in Tschechien äußerst unpopuläre Forderung wäre. Eher wahlkampftaktisch ist der Vorstoß des Oppositionsführers Vaclav Klaus zu sehen, die Benes-Dekrete in den Vertrag über Tschechiens EU-Beitritt aufzunehmen. In einer Kompromissformel der EU-Kommission und der tschechischen Regierung werden die Dekrete als "obsolet" bezeichnet - d.h. sie sind überholt und nicht länger gültig. Eine Einigung auf diese Bewertung allerdings scheitert bislang an der revanchistischen Ablehnungsfront. Dazu gehört neben den Vertriebenenverbänden, der österreichischen sowie der ungarischen Regierung auch die CDU/CSU - und damit mutmaßlich die nächste Bundesregierung. Eine Koalition der "Ewiggestrigen" ist das nicht. Denn offensichtlich lassen sich mit der Vertreibungsgeschichte Politik und Geschäft höchst profitabel verbinden.

Den Vertriebenenverbänden geht es nach wie vor um finanzielle Entschädigungen. Auf sage und schreibe 11 Billionen DM bezifferte Gerhard Zeihsel, der Vorsitzende der Sudetendeutschen Landsmannschaft in Österreich, die den Sudetendeutschen zugefügten Verluste. Die Zahlung auch nur eines Bruchteils dieser Summe würde umgehend zum Staatsbankrott Tschechiens führen. Derselbe Herr Zeihsel hebt aber auch hervor, dass es ihm und seinesgleichen nicht nur ums Geld geht, sondern auch um eine Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs: "Wie die Nürnberger Rassengesetze durch die Niederlage Deutschlands aufgehoben werden mussten, müssen auch die Benes-Dekrete aufgehoben werden." Das sind Töne, die auch den in ihren finanziellen Forderungen weniger größenwahnsinnigen VertriebenenfunktionärInnen gefallen. So stellt auch die CDU-Abgeordnete Erika Steinbach, Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, die antisemitischen Rassengesetze der Nazis mit den Benes-Dekreten auf eine Stufe. Während der Bundestagsdebatte über Zemans "Fünfte-Kolonne"-Verdikt sagte sie: "Bis zum heutigen Tag entschuldigt Zeman die Rassenpolitik (!) Eduard Benes' gegenüber den tschechoslowakischen Staatsbürgern deutscher Volkszugehörigkeit."

Kanzler Schröder vermeidet in dieser Frage jede Konfrontation mit seinem Herausforderer Stoiber, der nebenbei auch noch der oberste Schutzpatron der Sudetendeutschen ist. Um nicht die laufenden Wahlkämpfe zu belasten, hat Schröder seinen geplanten Besuch in Prag abgesagt. Derweil wirbt der EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen (SPD) für die Kompromissformel, die Benes-Dekrete seien "obsolet" - schließlich könne man von Tschechien nicht verlangen, "die Geschichte umzuschreiben". Gernot Erler wiederum, seines Zeichens stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, tat sich mit dem Ausspruch hervor, die Benes-Dekrete seien ein "sehr ernstes Thema für die Beitrittsverhandlungen" und könnten zu einem "gefährlichen Stolperstein" für die EU-Erweiterung werden. Was nur als Mahnung an die tschechische Seite gemeint sein kann, ganz ohne Geschichtsrevision werde es wohl nichts mit der Aufnahme in die EU.

Js.

Anmerkung:

1) Der Weg nach Potsdam. Die Alliierten und die Vertreibung; in Wolfgang Benz (Hrsg.): Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen; Frankfurt am Main 1995, S. 71