Schrecken ohne Ende
Krieg und Terror in Israel/Palästina
Die entsetzlichen Bilder des aktuellen israelisch-palästinensischen Krieges übertreffen die Befürchtungen auch vieler pessimistischer BeobachterInnen, die eine ähnliche Entwicklung seit Jahren vorhergesagt haben. Im Anschluss an das "Pessach-Massaker" eines palästinensischen Selbstmordattentäters in einem Hotel in Netanja ist die Regierung Sharon zur lange angekündigten Zerschlagung der palästinensischen Autonomiebehörde übergegangen, der sie die volle Verantwortung für diese perfide Art des Terrorismus anlastet.
Bei der schrittweisen Eroberung sämtlicher palästinensischer Bevölkerungszentren handelt es sich ungeachtet aller offiziellen Verlautbarungen um mehr als eine zeitlich begrenzte Polizeiaktion-Ziel ist die militärisch abgestützte Umstrukturierung des israelischen Kontrollsystems. Dafür spricht die Tatsache, dass entgegen der bislang geltenden israelischen Politik nun auch der mächtige Sicherheitsdienst des Jibril Rajoub weitgehend zerschlagen wurde. Rajoubs Apparat war das mit Abstand bedeutendste Exekutivorgan der palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland. Er war gleichzeitig derjenige palästinensische Sicherheitsdienst, der zum aktivsten und verlässlichsten Partner der Israelis bei der bilateralen Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen wurde. Rajoubs Leute hatten sich bislang nicht an bewaffneten Aktionen gegen Israelis beteiligt, die Gebäude seiner Organisation waren daher auch bislang nicht zum Ziel israelischer Angriffe geworden. Der Hamas gilt Rajoub als Kollaborateur der Israelis, weil er bis zur Eroberung seiner Basen durch die israelische Armee dort Hamas-Mitglieder gefangen hielt. Andere Sicherheitsdienste Arafats hatten ihre Hamas-Gefangenen schon seit längerem freigelassen.
Ohne diesen Apparat steht Arafat im Westjordanland nunmehr endgültig ohne eine operative Hausmacht da. Die weiterhin von allen Seiten an ihn gerichteten Forderungen, den palästinensischen Terror wirksam zu bekämpfen, sind scheinheilig und realitätsblind. Die israelische Armee hat damit eine Situation geschaffen, in welcher der Warlordisierung der besetzten Gebiete Tür und Tor geöffnet ist.
Israel könnte auf zweierlei Art reagieren: Es könnte versuchen, sich - wie angekündigt - "nach getaner Arbeit" aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen und sich durch eine Art Chinesischer Mauer von der Westbank abzuschotten. Ein solches Modell ist zwar in Israel gerade ziemlich populär, aber auf Grund der engen Verflechtung zwischen israelischem Kernland und den Siedlungen in den besetzten Gebieten nur schwer umzusetzen. Im Übrigen würde Sharon für eine derartige "Lösung" nur so lange eine Mehrheit hinter sich haben, wie keine palästinensischen Selbstmordattentäter nach Israel eindringen. Das ist aber nicht zu verhindern.
Die Alternative wäre die längerfristige Übernahme der Ordnungsmacht durch Israel in den ehemals autonomen Gebieten. Ein solches Szenario widerspricht freilich israelischen Interessen: Bei erneuter Besetzung der Autonomiegebiete fiele Israel auch die Verantwortung für die palästinensischen Bevölkerungszentren zu, mit allen juristischen und sonstigen Konsequenzen, nicht zuletzt in Bezug auf etwaige palästinensische Schadenersatzforderungen vor israelischen Gerichten. Zudem bietet ein solches Szenario die Garantie für kontinuierliche Verluste unter den dort stationierten israelischen Truppen und für die Fortsetzung der Selbstmordattentate innerhalb Israels.
Arafat ohne Hausmacht
Denn das von Israel proklamierte Ziel, den Terror militärisch zu besiegen, ist unerreichbar. Auch nach einem etwaigen Rückzug der Israelis aus den Autonomiegebieten werden die Attentate nach einer Phase der Restrukturierung des palästinensischen Untergrundes bald wieder einsetzen. Im Unterschied zu der Phase vor der israelischen Invasion wird es aber jetzt keine Autonomiebehörde mehr geben, die auch nur als rudimentäre Ordnungsmacht auftreten könnte. Letztendlich wird vor allem Hamas gestärkt aus diesem Machtvakuum hervorgehen. Der Hass auf die Besatzung, der immer öfter in einen blinden Hass auf alle Juden ausufert, dürfte nach den gegenwärtigen Erfahrungen der PalästinenserInnen mit den israelischen Truppen die Reihen der Selbst-Mörder noch weiter anschwellen lassen. Diese individualisierte Form des nationalen Kampfes ist im buchstäblichen Sinne selbstzerstörerisch, politisch erreicht sie exakt das Gegenteil von dem, was ihre Strategen sich davon offenbar erhoffen. Doch mit Rationalität hat dieser Konflikt nur noch wenig zu tun, hier sind kriegslüsterne Psychopathen am Werk, denen jedes Verständnis fehlt für die letztlich alternativlose Notwendigkeit der Koexistenz beider Gesellschaften.
Es ist schon gespenstisch: Nachdem noch vor kurzem einige Hundert israelische Wehrdienstverweigerer von sich reden machten und Hoffnungen auf eine wirksame innerisraelische Opposition gegen die Politik der Regierung Sharon nährten, sind mittlerweile knapp 30.000 (von insgesamt 425.000) Reservisten mobilisiert. Fast niemand widersetzte sich dem Einberufungsbefehl. Zwar gibt es im israelischen Sprachgebrauch die Figur einer "schwarzen Flagge", welche über offensichtlich illegitimen Befehlen eines Offiziers an seine Untergebenen wehe und letzteren die Pflicht zur Verweigerung dieser Befehle signalisiere. Doch die Zustimmungsraten für Sharon sind im Zuge der israelischen Offensive von 45 Prozent im März auf momentan 62 Prozent angestiegen. Die überwiegende Mehrheit der jüdischen Israelis unterstützt diesen Krieg. (Gideon Lévy in Ha'aretz, 7.4.02) Dabei ist das, was die israelische Armee gegenwärtig in den besetzten Gebieten anrichtet, wohl kaum mit dem Begriff "legitime Selbstverteidigung" zu beschreiben. Dieser Krieg ist ein Angriffskrieg, den Israel selbst gewählt hat, eine folgenschwere Katastrophe, die nur das Gegenteil dessen erreichen wird, was Sharon & Co. angeblich damit bezwecken, nämlich die Verbesserung der Sicherheitslage für israelische BürgerInnen. Es geht vielmehr darum, die Kraft der palästinensischen Nationalbewegung nachhaltig zu brechen und eine unter der jüdisch-israelischen Wählerschaft mehrheitsfähige politische Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes zu diktieren.
Die öffentliche Debatte in Israel hat sich seit dem Beginn der Offensive nochmals radikalisiert, mittlerweile wird auch die lange als tabu geltende "Transferlösung" offen diskutiert. Dahinter verbirgt sich der Wunsch einer steigenden Anzahl jüdischer Israelis, sich des Problems zu entledigen, indem die palästinensische Bevölkerung zur Auswanderung bewegt wird. "Keine Araber - Kein Terror" ist dieser Tage ein häufig zu hörender Slogan. Betrachtet man die Praxis der israelischen Armee in ihrer gegenwärtigen Offensive, so liegt ein solcher Plan tatsächlich im Bereich des Vorstellbaren: Die Lebensbedingungen der PalästinenserInnen werden zur Zeit durch systematische Zerschlagung der gesamten Infrastruktur, ökonomische Strangulierung und andauernde Übergriffe gegen ZivilistInnen unerträglich gemacht. Die meisten Schauplätze des Kampfes sind zur geschlossenen militärischen Zone erklärt worden, so dass Journalisten keinen oder nur punktuellen Zutritt dort haben.
Palästinensische Eliten unter Migrationsdruck
Nach bislang nicht überprüfbaren Berichten kommt es in den besetzten Gebieten gegenwärtig zu zahlreichen Verletzungen der 4. Genfer Konvention (zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten) durch die israelische Armee. Dadurch entsteht de facto ein Auswanderungsdruck, dem sich vor allem die gebildeten und besitzenden Schichten in der palästinensischen Gesellschaft längerfristig wohl kaum entziehen würden, sollte die Lage weiterhin so perspektivlos bleiben. Eine Abwanderung der Eliten aber wäre der Beginn des endgültigen Zerfalls der palästinensischen Gesellschaft.
Eine endlose Krise in Israel/Palästina ist für die Stabilität aller arabischen Staaten in der Region eine ernste Gefahr. Mangelnde Legitimität machten arabische Regime in den vergangenen Jahrzehnten gerne mit anti-israelischer Rhetorik wett, da sie sich damit der Sympathie der Massen sicher sein - und diese so von hauseigenen Problemen ablenken konnten. Heute ist das Problem der arabischen Regime, dass sich ihre Bevölkerungen mit überwältigender Mehrheit mit den PalästinenserInnen identifizieren, die arabischen Staaten sich aber keine militärische Konfrontation mit Israel leisten können und auch keinen unnötigen Ärger mit den USA riskieren wollen.
Diese ungemütliche Lage trägt erheblich zur Instabilität der arabischen Regime bei. Auch deswegen fand der saudische Friedensplan letztlich die schnelle Unterstützung der gesamten Arabischen Liga. Aus dieser Gemengelage könnte schnell ein regionaler israelisch-arabischer Krieg werden, den Israel zwar dank seiner militärischen Überlegenheit gewinnen dürfte, der aber das Land empfindlich schwächen und die gesamte Region auf Dauer destabilisieren würde. Sollten die USA schließlich den angekündigten Sturz Saddam Husseins in Angriff nehmen, ohne den israelisch-palästinensischen Konflikt in einigermaßen erträgliche Bahnen gelenkt und eine politische Perspektive eröffnet zu haben, so wird die gesamte Region in Aufruhr versinken. Die einzigen politischen Gewinner einer Destabilisierung der Region wären muslimische Fundamentalisten. Schöne Aussichten.
Was also ist zu tun? Die Notwendigkeit einer Internationalisierung des Konfliktes scheint ja mittlerweile von allen relevanten Akteuren akzeptiert zu werden. Über die Art und Weise einer internationalen Einflussnahme auf den israelisch-palästinensischen Konflikt bestehen jedoch weiterhin große Meinungsverschiedenheiten. Die USA scheinen sich nur insoweit darauf einlassen zu wollen, als es ihrem "Antiterrorkrieg" nutzt. Es sieht bislang nicht so aus, als signalisiere die kürzliche Änderung in Bushs Rhetorik eine wirkliche strategische Rückstufung der amerikanischen Unterstützung für Israel.
In der EU wird derweil schon über die Verhängung von Wirtschaftssanktionen gegen Israel und die Entsendung internationaler Friedenstruppen in das Konfliktgebiet diskutiert. Die deutsche Regierung fände es sogar angebracht, nach dem Vorbild der internationalen Protektorate in Mazedonien, Kosovo und Afghanistan ein multilaterales Truppenkontingent zusammenzustellen, dem auch Bundeswehrverbände angehören sollten. Selbst seriöse Leute wie der grüne Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Deutsch-Israelischen Arbeitskreises (DIAK), Christian Sterzing, plädieren für eine Entsendung deutscher Soldaten nach Israel. Man kann gar nicht so schnell gucken, wie die rot-grüne Regierung deutsche Großmachtpolitik salonfähig zu machen sucht. Nur noch eine Minderheit findet die Vorstellung deutscher Truppen in Israel/Palästina vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte unerträglich. Das könnte auch für Israelis gelten, die auf Grund des miesen Rufes der UN in Israel UN-Blauhelmen weit misstrauischer begegnen würden als Truppen "befreundeter" Staaten. Aber so weit ist es noch nicht.
Bleibt die Forderung nach Wirtschaftssanktionen gegen Israel, die auch von einer Gruppe namhafter palästinensischer und israelischer Intellektueller in einem Ende März veröffentlichten "Aufruf an die globale Zivilgesellschaft" erhoben wurde. Sicher ist es an der Zeit, Rüstungsexporte nach Israel einzustellen. Solange aber die USA nicht mitziehen, die den militärisch-industriellen Komplex Israels mit jährlich über 2 Milliarden Dollar subventionieren, bleibt eine solche Aktion rein symbolisch. Ähnliches gilt für das Einfrieren ökonomischer Beziehungen mit Israel. Wirtschaftssanktionen würden die ohnehin schon angeschlagene israelische Volkswirtschaft zusätzlich schwächen, zu einem Anstieg der bereits jetzt hohen Arbeitslosigkeit führen und zu einer weiteren Erosion der israelischen Mittelschichten beitragen. Solche Maßnahmen würden den Druck auf das politische System Israels erhöhen; es wäre aber keineswegs vorhersehbar, welche politischen Tendenzen dadurch gestärkt würden. Im Angebot sind Kriegstreiber, Volksverhetzer und religiöse Fundamentalisten einerseits und eine bislang kaum messbare zivilgesellschaftliche Gegenbewegung andererseits. (zur Erosion der israelischen Mittelschichten siehe Hanna Kim in Ha'aretz, 29.3.02) Übrigens: Bei der ersten kurzfristigen Besetzung Ramallahs durch die israelische Armee im März häuften sich die Berichte über Soldaten, die palästinensische Haushalte regelrecht ausgeraubt hätten, bevor sie abzogen. Ökonomischer Druck wird nach unten weitergegeben - auch das ist eigentlich eine Binsenweisheit, die bereits beim Wirtschaftsembargo gegen den Irak zu beobachten war und ist.
Deutsche Truppen bald auch im Nahen Osten?
Ohne die USA als größtem Handelspartner Israels blieben Wirtschaftssanktionen letztlich ohnehin wirkungslos. Und für den zweitgrößten Handelspartner Israels, nämlich Deutschland, bleiben derartige Maßnahmen auf Grund der nahe liegenden Assoziation mit dem Boykott jüdischer Geschäfte nach 1933 und der zu erwartenden Stärkung antisemitischer Ressentiments in der deutschen Gesellschaft ein Ding der Unmöglichkeit.
Was können deutsche Linke in dieser verfahrenen Situation überhaupt tun? Nicht viel. Angesichts ihrer politischen Bedeutungslosigkeit könnten sie wenigstens die Zeit nutzen, um ein kritisches Verständnis der strukturellen Gründe für diese katastrophale Entwicklung in Israel/Palästina zu entwickeln. Der traditionelle Antiimperialismus wie auch die antideutschen Meinungspeitschen haben jedenfalls keine tragfähigen Analysen anzubieten und sollten schnellstens entsorgt werden.
Achim Rohde