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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 462 / 17.5.2002

Was macht eigentlich Bin Laden?

Der vermutlich erste Nachruf

Das absolut Böse hat einen neuen Namen: Osama bin Laden. Mit gewaltiger Propagandamacht sorgten die USA und ihre Verbündeten dafür, dass die Anschläge vom 11. September einen Namen und ein Gesicht bekamen. Unter Umständen könnten sie somit zu den wahren Helfershelfern seiner Vision werden.

Auf einer US-amerikanischen Internet-Seite, die Jokes über Bin Laden, Afghanen, Araber und andere fucking Muslims gewidmet ist (www. sanfords.net/Osama_bin_laden_jokes/), ist der folgende, nach bekanntem Muster gestrickte Abbrüller zu finden:

"It is the year 2042, and a father and his son walk the streets of lower Manhattan. Approaching the site where the WTC used to be in the end of the 20th century, the father sighs and comments, ,to think that right here used to be the Twin Towers ...` The son, not understanding, asks his father: ,What are the Twin Towers?` The father smiles and looks at the son, and explains, ,The Twin Towers were two huge buildings that used to be here until 2001, when the Arabs destroyed them.` The son looks up to his father, and asks, ,And what are the Arabs?`"

Der Witz lebt von dem augenzwinkernden Einverständnis, dass selbstverständlich jeder Besucher dieser Seite sofort versteht, auf welche Weise man die Araber bis zum Jahr 2042, in dem die Erzählung spielt, so gründlich "entsorgt" haben wird, dass Kinder nicht einmal mehr das Wort kennen.

Es sind keineswegs nur Jugendliche in einer problematischen Entwicklungsphase, deren Namen man vielleicht nach dem nächsten Schulmassaker auf den Titelseiten lesen wird, die sich seit dem 11. September mit Feuereifer an der Produktion solcher patriotischen Jokes beteiligen. Scharen von ebenso primitiven wie populären US-amerikanischen Witzbolden, angeführt von Jay Leno, bedienen die offenbar unersättliche und völlig enthemmte Nachfrage des Publikums. Brutale Tötungsfantasien nicht nur gegen Bin Laden, sondern gegen "die Taliban" und jeden, der sonst noch irgendwo drohend oder leichtsinnig im Wege herumsteht. "Rösten", "grillen" und "toasten" sind in diesem Zusammenhang besonders beliebte Tätigkeitsworte. Das ist der unfassbare Humor einer Zivilisation, die ein Massenvernichtungsmittel - eine Bombe, die auf der Fläche eines Fußballfeldes garantiert jedes Leben auslöscht - als "Daisy Cutter", Gänseblümchen-Schneider, verniedlicht.

Viele Witze machen sich auch einfach nur mit zynischer Arroganz über die Armut und Rückständigkeit des Gegners lustig. Jay Leno im Oktober 2001: "Sie sagen, wir wollen Afghanistan in die Steinzeit bomben. Na, das wäre doch immerhin ein Fortschritt." - Ebenfalls Jay Leno, etwa zur gleichen Zeit: "Bin Laden ist der reichste Mann in Afghanistan. Er hat drei Esel in der Garage."

Dieser Rülpser aus übersattem Bauch kommt immerhin der Wahrheit sehr viel näher als alle Lügengeschichten, die Bin Laden in kilometerweit ausgedehnten, raffiniert ausgestatteten, voll klimatisierten unterirdischen Bunkersystemen vermuteten, wie man sie aus den James-Bond-Filmen kennt.

Bin Laden selbst ist seit Dezember vergangenen Jahres ohne Angabe seiner neuen Adresse verschwunden. Anfang Mai vermutete das US-Magazin Newsweek ihn im nordwestpakistanischen Grenzgebiet. Mit gestutztem Bart und anscheinend gesundheitlich voll auf der Höhe sei er, zusammen mit seinem Vize al-Zawahiri, in einem Dorf gesehen worden. Kurz zuvor, Mitte April, hatte der türkische Geheimdienst, der Zeitung Hürriyet zufolge, Bin Laden in Kaschmir ausgemacht - wohin es übrigens vor bald 2000 Jahren auch Jesus Christus nach seiner Auferstehung verschlagen haben soll.

Es gibt jedoch keinen sachlich begründeten Zweifel, dass Bin Laden bald nach seinem letzten Video-Auftritt, das war vermutlich Anfang Dezember, ums Leben gekommen ist. Der Zeitpunkt ergibt sich daraus, dass Bin Laden in diesem - erst Ende Dezember von al-Dschasira gesendeten - Video die Angriffe auf das World Trade Center und das Pentagon als drei Monate zurückliegend bezeichnete. Außerdem erwähnte er den amerikanischen Bombenangriff auf eine Moschee in Khost "vor einigen Tagen", bei dem 150 Menschen ums Leben gekommen seien. Datum dieses Angriffs war der 16. November.

Bemerkenswert ist, dass Bin Laden in diesem Video zweimal von seinem Tod sprach: "Ganz gleich, ob Osama getötet wird oder überlebt, das Erwachen hat begonnen" und "Amerikas Ende hängt nicht ab vom Überleben dieses Dieners Gottes".

Die sieben Leben des Osama bin Laden

Mangels anderer glaubwürdiger Schilderungen von Bin Ladens Ende könnte stimmen, was die englischsprachige pakistanische Zeitung Observer Ende Dezember unter Berufung auf einen nicht näher bezeichneten Taliban-Sprecher berichtete: Bin Laden, der an einer schweren Lungenkrankheit gelitten habe, sei Mitte Dezember, während der amerikanischen Angriffe auf das Berggebiet von Tora Bora, aus Mangel an medizinischen Behandlungsmöglichkeiten gestorben. Etwa 30 Menschen - enge Kampfgefährten, Familienmitglieder und einige afghanische Freunde - seien bei seinem Begräbnis dabei gewesen. "Bin Laden war zufrieden, dass er nicht umsonst starb. Er hatte das Gefühl, den Moslems die hegemonistischen Pläne und die Verschwörungen der Ungläubigen gegen den Islam bewusst gemacht zu haben", zitierte die pakistanische Zeitung ihre Quelle.

Möglich ist aber ebenso, dass Bin Laden - und vielleicht auch sein gesamter Führungskreis - durch die massiven Luftangriffe ums Leben kam. Unwahrscheinlich hingegen ist, dass er heute noch lebt und seit fünf Monaten kein politisches Lebenszeichen mehr von sich gegeben hat. Er hätte sich, wäre er entkommen, diesen öffentlichen Triumph über seine Verfolger sicher nicht entgehen lassen. Spätestens jedoch die israelischen Militäraktionen gegen die Palästinensergebiete, die Ende März begannen, hätten seine Stellungnahme herausgefordert.

Bis zu seinem letzten Video-Auftritt, Anfang Dezember, hatte Bin Laden von diesem Medium einen geradezu verschwenderischen und nicht unbedingt uneitlen Gebrauch gemacht. Warum sollte er darauf verzichten, zumal Videos verhältnismäßig leicht herzustellen sind, wenn auch nicht in so perfekter Form wie einige von Bin Ladens Propagandafilmen.

Ein Mitte April von al-Dschasira gesendetes "neues" Video bestätigt die Wahrscheinlichkeit, dass Bin Laden tot ist. Einerseits macht das kunstvoll zusammengestückelte Band deutlich, dass Überlebende des Bin-Laden-Kreises es aus Propagandagründen für notwendig halten, aktuelle Präsenz zu demonstrieren. Andererseits wird an dem Film offensichtlich, dass ihnen von Bin Laden selbst nur altes - wenn auch bis dahin unveröffentlichtes - Material zur Verfügung steht.

Osama bin Laden, 1957 als siebzehntes Kind eines der reichsten und einflussreichsten Unternehmer Saudi-Arabiens geboren, beendete 1979 sein Bauingenieursstudium und reihte sich in den wachsenden Strom der Freiwilligen aus aller Welt ein, die zur Teilnahme am "Heiligen Krieg" gegen die sowjetischen Interventionstruppen nach Afghanistan kamen. Mit der vermutlich größten Geheimdienst-Operation seit Ende des Zweiten Weltkriegs, mit einem Etat von vielen Milliarden Dollar, steuerte die US-Regierung in den 80er Jahren die Rekrutierung und Ausbildung von Mudschaheddin, "heiligen Kriegern", in allen Ländern der islamischen Welt. Einsatzgebiet: Afghanistan. Ziel: Schwächung der Sowjetunion. Bin Ladens politische Laufbahn begann als Organisator und Finanzier einer internationalen Kette solcher Rekrutierungsbüros. Eine seiner Filialen lag damals sogar in Brooklyn, mitten in New York.

Der von den USA angeschobene und instrumentalisierte "Heilige Krieg" gegen die Sowjetunion führte in Afghanistan Tausende von religiösen Eiferern und Abenteuerlustigen aus Saudi-Arabien, Ägypten, Pakistan, Jemen, Algerien, aus Teilen der Sowjetunion wie Tadschikistan und Tschetschenien, und sogar aus Jugoslawien und Albanien zusammen. Die Idee einer internationalen islamischen Kampfgemeinschaft, in der staatlichen Realpolitik autoritärer Regime bisher nicht mehr als eine schillernde Seifenblase und eine verlogene Propagandaformel, nahm im afghanischen Dschihad, "powered by USA", erstmals praktische Gestalt an.

Von Afghanistan aus wirkte die gemeinsame Kampferfahrung zurück auf die zahlreichen Herkunftsländer der Mudschaheddin. Das verstärkte sich naturgemäß nach dem Abzug der sowjetischen Streitkräfte Ende der 80er Jahre, als Tausende von "arbeitslos" gewordenen Kämpfern in die Heimat zurückfluteten und dort den Kampf fortsetzten. Ob Tschetschenien oder Bosnien, Kosovo oder Kaschmir: Überall spielten die Afghanistan-Veteranen eine entscheidende Rolle. Sie brachten aus Afghanistan nicht nur ihre Kampferfahrung mit, sondern auch die Siegesgewissheit, dass selbst eine Weltmacht militärisch zu besiegen sei.

Terror und ein Leben wie
James Bond

Bin Laden kehrte 1989 nach Saudi-Arabien zurück. Als das saudische Regime 1991 sein Territorium den USA als Ausgangsbasis für den Krieg gegen Irak zur Verfügung stellte, übte er so heftige Kritik, dass er ausgebürgert wurde. Die islamistische Junta des Sudan, die sich 1989 an die Macht geputscht hatte, nahm Bin Laden und hunderte andere Afghanistan-Veteranen auf. Dem Druck, den die USA und Saudi-Arabien deswegen ausübten, hielt das sudanesische Regime jedoch nicht lange stand. 1996 musste Bin Laden das Land wieder verlassen; seither lebte er in Afghanistan.

Bin Ladens um 1988 gegründeten "internationalen Terrornetzwerk" al Qaida werden zahlreiche Anschläge und Anschlagversuche angelastet. Die wichtigsten:

- 29. Dezember 1992: Explosion einer Bombe in einem Hotel in Aden (Jemen), in dem US-Truppen auf dem Weg zum UNO-Einsatz in Somalia Zwischenstation machen. Zwei tote Touristen.

- 26. Februar 1993: Bombenanschlag auf das World Trade Center.

- 13. November 1995: Bombenanschlag auf ein militärisches Ausbildungszentrum der USA in der saudischen Hauptstadt Riad. Sieben Tote, darunter fünf US-Soldaten.

- 25. Juni 1996: Bombenanschlag auf eine Wohnanlage der US-Streitkräfte in Dhahran, die sogenannten Khobar Towers. 19 Tote.

- 7. August 1998: Fast zeitgleiche Bombenanschläge gegen die amerikanischen Botschaften in Nairobi (Kenia) und Dar Es Salaam (Tansania). Insgesamt 224 Tote.

- 12. Oktober 2000: Sprengstoff-Angriff gegen das amerikanische Kriegsschiff "USS Cole" im Hafen von Aden (Jemen). 17 Mannschaftsmitglieder werden getötet.

Die Beweise, die diese Angriffe mit Bin Laden in direkte, materielle Verbindung bringen sollten, blieben in allen Fällen dürftig. Auch die Existenz eines riesigen internationalen Terrornetzes mit angeblich mehreren tausend jederzeit aktionsbereiten Mitgliedern in 60 oder 70 Ländern blieb bis heute zweifelhaft. Dagegen spricht vor allem die Tatsache, dass es seit dem 11. September weltweit nicht eine einzige Aktion gegeben hat, vielleicht mit der einzigen Ausnahme des Attentats an der Synagoge in Djerba, Tunesien, die al Qaida zugeschrieben wurde. Im gleichen Zeitraum gab es aber mindestens ein Dutzend vom FBI ausgegebene, angeblich höchst konkrete Warnungen vor unmittelbar bevorstehenden neuen Anschlägen.

Polit-Ikone powered by USA

Bin Laden hat die Behauptung, an der Planung irgendwelcher Aktionen direkt beteiligt zu sein, immer wieder als irreal zurückgewiesen. Seine Aufgabe und Funktion sei es, zum Kampf gegen die "Allianz von Kreuzrittern und Zionisten sowie deren Kollaborateure" aufzurufen. Nicht mehr, nicht weniger. Vielleicht, so Bin Laden, seien einige der Anschläge durch seine Aufrufe veranlasst oder gefördert worden, Inschallah.

Vor allem der globalisiert gleichgeschalteten Propaganda der USA und ihrer Verbündeten ist es zu verdanken, dass die eher anonymen Angriffe vom 11. September gegen zwei zentrale Symbole des "US-Imperialismus" - es gab nicht einmal eine Bekenner-Erklärung - einen Namen und ein Gesicht bekamen. Mehr auf Grund dieser ganz primitiv personalisierenden und schamlos übertreibenden Propaganda der Gegenseite als wegen seiner eigenen, in ihrer religiösen Weitschweifigkeit schwer verdaulichen Statements wurde Bin Laden kurzzeitig zur Polit-Ikone der Unzufriedenen und Empörten überall in der islamischen Welt.

Sein Appell zur Einheit aller Gläubigen weltweit beruhte dennoch auf einer Illusion. Selbst die Staaten der Arabischen Liga, die kaum ein Fünftel aller Muslims der Welt umfassen, sind heillos zersplittert, nicht nur handlungsunfähig, sondern auch handlungsunwillig auf Grund ihrer totalen Abhängigkeit von den USA und Europa. Sollten sich allerdings in der amerikanischen Politik diejenigen Kräfte durchsetzen, die unter der Kampfparole eines "Vierten Weltkriegs gegen den militanten Islam" - als dritten Weltkrieg zählen sie die erfolgreich abgeschlossene Konfrontation mit der Sowjetunion - einen unkontrollierbaren Flächenbrand im gesamten Nahen und Mittleren Osten entfachen wollen, könnten die Thesen Bin Ladens eine zweite Chance erhalten.

Knut Mellenthin