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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 462 / 17.5.2002

Leben, quer gelesen

Giorgio Agambens Analyse biopolitischer Macht

Der Hype hält sich in Grenzen. Giorgio Agambens Homo Sacer kann Negri/Hardts Empire (vgl. S. 32), was Rezensionenmenge und Aufregungsgrad betrifft, nicht toppen. Kontrovers diskutiert wird die Schrift des italienischen Philosophen trotzdem. Ihre zentrale Botschaft: Politische Macht ist da besonders effektiv, wo es scheinbar gar nicht um Politik, sondern um "den Menschen", um "Ethik" oder um "das Leben" geht. Die deutsche Übersetzung ließ lange auf sich warten. Jetzt liegt sie vor. "Provokant gefährlich" sagen die einen. "Wegweisend" die anderen. Wahrscheinlich stimmt beides.

Eine offene Tür. Dahinter: Leere. Ein Mann vom Lande begehrt Einlass - vergeblich, denn ein Hüter bewacht die Tür, dahinter das geheimnisvolle Vakuum. Eine Szene zwischen zwei Menschen, einer Tür und dem Nichts. Und doch repräsentiert diese Szene eine allgemeine und verhängnisvolle Verstrickung. Denn der Hüter wendet keine Gewalt an. Seine bloße Präsenz sorgt dafür, dass es dem Mann unmöglich ist, durch die offene Tür einzutreten. So verharren beide, Hüter und Suchender, vor der offenen Tür. Ein Leben lang.

Franz Kafkas Erzählung "Vor dem Gesetz" ist von unzähligen OberstufenschülerInnen und PhilosophInnen interpretiert worden. Auch Agamben liest sie als Parabel auf die Funktionsweise gesellschaftlicher Macht: Hinter der offenen Tür die Autorität des Gesetzes, vor der Tür das ausgelieferte Subjekt, dem es, ohne dass ihm Zwang angetan wird, unmöglich ist einzutreten und unmöglich wegzugehen. Kafkas Geschichte soll zeigen: Die Unterwerfung unter gesellschaftliche Machtstrukturen funktioniert nicht, obwohl, sondern gerade weil sich im Innern der Macht nichts - bloß Leere - verbirgt. Und der Bann, der über dem Mann vom Lande liegt und ihn scheinbar außerhalb der Autorität des Gesetzes, tatsächlich aber innerhalb seiner Macht gefangen hält, diesen Bann nennt Agamben "die ursprüngliche Struktur der souveränen Beziehung." (1)

Die Titelfigur des Buches, der heilige Mensch, war nach römischem Gesetz eine Person, die nicht nur heilig, sondern auch vogelfrei war. Homo Sacer darf getötet werden, ohne dass der Mörder sich des Mordes schuldig machen würde. Das Gericht spricht ihn im selben Maße "heilig", wie es ihn verflucht. Agamben interessiert nicht, wie viele historische Homine Sacris es tatsächlich gegeben hat. Im Unterschied zu verschiedenen antiken und modernen Interpreten, die die widersprüchliche Figur Homo Sacer als Überbleibsel eines archaischen religiösen Rechts deuten, ist sie bei Agamben die elementare Fassung einer paradoxen Logik, die auf das Leben zielt, es heilig spricht und gleichzeitig der ständigen Möglichkeit der Vernichtung aussetzt, nämlich: Biopolitik.

Verurteilt, heilig, vogelfrei

Und um genau diese biopolitische Logik dreht sich das ganze Buch. Agamben arrangiert sie in zahlreichen Varianten und präsentiert sie den Lesenden wie ein unorthodoxes chemisches Experiment. Ist das die endlich gefundene Formel, die das Geheimnis von Macht erklärt? Und wie lässt sich die Leere im Innern der Macht begreifen - oder gar in Politik übersetzen? Das lässt das Buch offen. Ebenso wie die Frage, ob nicht andere Macht-Formeln denkbar sind und ob diese Formeln nicht nur Geschichte bedingen, sondern ihrerseits geschichtlich gedacht werden sollten. Was übrigens die Hauptkritik ist, die man zu Agamben derzeit äußert: dass er historisch so undifferenziert ist. Was unbestreitbar zutrifft.

Dass es Homo Sacer tatsächlich gegeben hat und dass er außerdem für die gesamte politische Geschichte des Westens paradigmatisch ist - das kann man Agamben glauben oder man lässt es bleiben. Historisch belegt er es nicht. Der Homo Sacer könnte im Prinzip auch eine Figur aus Harry Potters Zauberwelt sein, geht es doch letztlich nur um die ihr innewohnende Denklogik. Und in dieser spielt der Begriff des Lebens, genauer des "nackten Lebens" eine zentrale Rolle.

Agamben nennt dieses nackte Leben griechisch zoé, im Unterschied zu bíos, der politischen Existenzweise. Bei ihm ist die Spaltung des Lebens in zoé und bíos ebenso fundamental in die politische Struktur des Westens eingelassen wie eine andere Spaltung: die zwischen dem Recht und seiner eigenen Aussetzung im Ausnahmezustand. Die Macht entspringt aus dieser Sicht dem Recht, über die Grenze zwischen Normalfall und Ausnahmezustand zu entscheiden. Zoé und Ausnahmezustand gehen so eine verhängnisvolle Verbindung ein. Homo Sacer will also zeigen, wie durch "das Leben" eine Grenze zwischen Regel und Ausnahme gezogen wird, so dass schließlich zoé, das nackte Leben, den Ausnahmezustand bewohnt, aus ihm eine Zone macht, in der das Leben auf biologisches Existieren reduziert oder längst zum Tode verurteilt ist. Konsequenter Fluchtpunkt der ganzen Geschichte(n), die Agamben erzählt: die nationalsozialistischen Vernichtungslager.

Dass das Leben in der Moderne zu einem zentralen Gegenstand von Politik geworden ist, hatte lange vor Agamben schon Foucault klargestellt. Ihm ging es darum zu zeigen, wie die Disziplinierung des individuellen Körpers in Schule, Gefängnis und Kaserne mit der Regulierung der Bevölkerung zusammenfällt. Er nannte dieses Zusammenspiel aus individueller und kollektiver Zurichtung Bio-Macht. Agamben konvertiert auch die Bio-Macht in Formel-Format: Steigerung des "Lebenswertes" (Regel). Daraus folgt zwingend: Vernichtung "unwerten Lebens" (Ausnahmezustand).

Was Agamben entlang dieser Formel ausdrücklich bearbeiten will, sind zwei grundlegende Versäumnisse: das Versäumnis Foucaults, die nationalsozialistischen Vernichtungslager in die Analyse der Biomacht einzubeziehen, und das Versäumnis Hannah Arendts, in ihrer Totalitarismusanalyse Biopolitik mitzudenken. Diese Zusammenführung von Arendt und Foucault unternimmt Agamben im ständigen Dialog mit Walter Benjamin, dessen Werk er in Italien herausgegeben hat. Diese unterschiedlichen Perspektiven münden in einer Skizze von Biopolitik als totalitäre Struktur, die keineswegs auf totalitäre Systeme beschränkt ist. Und durch seine Argumentation zieht sich der warnende Appell, die Gefahr der dauerhaften Installation von Ausnahmezuständen auch in der Gegenwart nicht zu unterschätzen.

"Wertes" und "unwertes" Leben

Selbst die Idee der Menschenrechte zeigt sich aus biopolitischer Perspektive von einer beängstigenden Seite. Seit der Französischen Revolution unauflöslich an die Idee der Nation gebunden, würden Menschenrechte nur deshalb als Besitz des Menschen gedacht, weil "Mensch" nun mal die logische Voraussetzung des Staatsbürgers ist. Aber paradoxerweise gelte eben auch, dass es keinen Ort für so etwas wie den "Menschen an sich" in der politischen Ordnung des Nationalstaates gibt. Für Agamben ist klar: Erklärt man bestimmte Menschen zum schützenswerten Objekt der Menschenrechte, dann degradiert man sie zu einer Art lebendem Ausnahmezustand, angewiesen auf humanitäre Zuwendung, ohne eigene politische Rechte. Tatsächlich erscheinen aus dieser Sicht die Niederlagen folgerichtig, die Anrufungen von Menschenrechten in Zonen des Ausnahmezustandes ständig einstecken müssen, sei es im Jugoslawienkrieg, in Ruanda oder in der Ausländerbehörde.

Für Agamben ist der Flüchtling eine Art moderner Homo Sacer. Denn Flüchtlinge bringen die Differenz zwischen Geburt und Nation ebenso ans Licht wie das "heimliche" Fundament moderner Biopolitik: das nackte Leben, permanent der Drohung vollständiger Entrechtung ausgesetzt. Wenn man das "Flüchtlingsproblem" als humanitäres und nicht als politisches Problem versteht, dann verbleibt man, meint Agamben, schlicht in harmonischer Symmetrie zur Staatsmacht. Er schlägt also vor, die politische Philosophie ausgehend von der Figur des Flüchtlings neu zu begründen: jenseits der Logik des zoé, die zugleich die Logik des Nationalstaates ist. Es geht letztlich um nicht weniger als darum, Politik und Existenz jenseits der Kategorien "Volk", "Staat" und "Nation" neu zu entwerfen. Wie aber solche Entwürfe aussehen könnten, wie Leben, Recht und Politik jenseits des Nationalstaats denkbar ist, das ist leider nicht Thema von Agamben.

In Homo Sacer ist die völlige Preisgabe des Lebens ein mörderisches Potenzial, das in die Logik der westlichen Moderne eingeschrieben ist. Die Reduktion auf "nacktes Leben", ohne Urteilsspruch zum Tode verurteilt, wurde in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern in radikalster Form realisiert. Aber für Agamben sind auch heutige Intensivstationen, auf denen "hirntote" PatientInnen liegen, oder Flüchtlingslager Orte des Ausnahmezustandes und des "nackten Lebens", Grenzzonen zwischen Leben und Tod. Und gerade diese Verbindung scheinbar völlig unzusammenhängender historischer und politischer Phänomene macht die Provokation des Buches aus.

Denn dahinter steht in der Tat die implizite Behauptung, dass es keinen fundamentalen Unterschied zwischen liberalem und faschistischem Staat gibt. Was historisch unhaltbar ist. Die taz-Rezensentin bringt dieses Problem mit einer Frage auf den Punkt: "Wenn Demokratie und Diktatur nicht mehr unterscheidbar wären, wie Agamben behauptet, warum sollte eine Gesellschaft dann gegen den Rechtsradikalismus mobilisieren?" (2) So einleuchtend die Frage, so legitim auch die Gegenfrage: Wenn Demokratie und Faschismus einander "wesensfremd" sind, wie lässt sich dann erklären, dass Rechtsradikalismus "in der Mitte der Gesellschaft" entsteht?

Wobei, so herum gefragt, die Versuchung groß ist, nach überhistorischen Erklärungsformeln zu suchen. Und in der Tat hat man bei der Lektüre von Homo Sacer immer wieder den Eindruck, dass die Chiffre, die einst so praktisch zur Erklärung von allem, dem Leben, der Politik, dem Menschen und der Welt eingesetzt werden konnte, nämlich der Klassenkampf, hier überaus klug und eloquent ersetzt wurde durch eine neue Chiffre: die Biopolitik, was wiederum nichts anderes heißen würde, als mit einem totalitären Konzept Totalitarismuskritik zu betreiben. Umgekehrt könnte man Agamben allerdings mit genauso viel Recht vorwerfen, den Zusammenhang von Biopolitik und Kapital vollständig im Dunkeln gelassen zu haben, was wiederum bedeutet, dass das Buch "Homo Sacer" gewiss nicht die ganze Welt und auch nicht bloß die Struktur von Herrschaft erklären kann. Kurz: Antworten finden sich in diesem Buch nicht. Stattdessen stellt es Fragen, die wichtig sind, wenn man sich mit der systematischen Illegalisierung von Flüchtlingen, mit Menschenrechtskriegen und mit "Anti-Terror-Staaten", kurz mit der Einrichtung im permanenten Ausnahmezustand nicht abfinden will.

Zonen zwischen Leben und Tod

Kafkas Mann vom Lande erfährt am Ende seines Lebens, dass die Tür des Gesetzes nur für ihn allein offen stand: "Hier konnte niemand Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn", sagt der Hüter dem Sterbenden. Unterliegt das Leben tatsächlich unvermeidlich dem paradoxen Fluch des Gesetzes? Die apokalyptische Figur Homo Sacer legt das nahe. Und es macht Sinn, ihre perfide Logik zu verstehen. Zum Beispiel, um der dieser Logik folgenden Entpolitisierung von Themen wie "Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit, Körper und Medizin" entgegenzutreten. (3) Und doch ist klar, dass apokalyptische Figuren zwar analytische, nicht aber politische Perspektiven bereithalten.

Stefanie Gräfe

Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main 2002 (Orig. 1995), 10 EUR

Anmerkungen:

1) Agamben 2002, S. 62

2) Ulrike Herrmann, in: taz, 30.4.02

3) Thomas Lemke, in: Frankfurter Rundschau, 16.3.02

Literatur:

Agamben, Giorgio: Ohne Bürgerrechte bleibt nur das nackte Leben. Giorgio Agamben über Abschiebung und Lager ohne Namen. Interview mit Beppe Caccia. In: Jungle World 28/2001

ders.: Jenseits der Menschenrechte. Einschluss und Ausschluss im Nationalstaat. In: Jungle World 28/2001

Foucault, Michel: Leben machen und sterben lassen. Zur Genealogie des Rassismus. Ein Vortrag. In: Lettre International 62

Kafka, Franz: Vor dem Gesetz. In: Das Urteil und andere Erzählungen. Frankfurt am Main 1982