Kuratieren gegen den Strich
Die documenta_11 will den Blick für postkoloniale Perspektiven auf die Kunst schärfen
Eine ideale Ausstellung ist nach Okwui Enwezor wie "eine Zecke im öffentlichen Körper". Der Kurator der elften documenta plädiert für eine "engagierte Kunst", die sich wieder verstärkt auf gesellschaftliche und politische Prozesse bezieht, Missstände benennt und die in ihrem Anspruch auf Veränderung zielt. Ein zentrales Anliegen Enwezors ist es, nicht-westliche Perspektiven aufzugreifen. Ob und wie dies gelingt, kann bis zum 15. September in Kassel geprüft werden.
Seit 1955 findet die documenta alle vier Jahre, mit wechselndem Kurator (und 1998 der ersten Kuratorin), mit wachsendem Budget und ZuschauerInnenzahlen in Kassel statt. Die aktuelle documenta lohnt sich aber nicht nur für an zeitgenössischer Kunst Interessierte. Der Kurator Okwui Enwezor hat es sich zur Aufgabe gemacht, einen Beitrag zur "Globalisierung" der Kunstszene zu leisten. Dieses Schlagwort ist im Kunstbetrieb ebenso fehl am Platz wie im politischen und/oder wirtschaftlichen Kontext. Wäre es hier angebrachter von Triadisierung zu reden, da es sich um eine Ballung von politischer und wirtschaftlicher Macht in den drei Wirtschaftsblöcken Nordamerika, Europa und Asien (vor allem Japan) handelt, gilt ähnliches auch für die Kunst. Auch im Kunstbetrieb gibt es Zugangsbeschränkungen, die die Teilnahme strukturieren und begrenzen. Ebenso werden und wurden die theoretischen Grundlagen fast ausschließlich im europäischen und nordamerikanischen Raum entwickelt. Die Frage, was Kunst ist, wird in einem diskursiven Raum immer neu verhandelt. Und an diesem Diskurs sind vor allem westliche Institutionen beteiligt, deren Interessen und Fragestellungen aus ihrer westlichen Perspektive resultieren.
In den 80er Jahren begann in der europäischen Ausstellungspraxis die Auseinandersetzung mit nicht-westlicher Kunst. Eine wichtige Frage, die bis heute noch nicht abschließend geklärt wurde, war dabei in welchen Ausstellungsräumen beispielsweise afrikanische Kunst angemessen präsentiert werden kann. Ethnologische Museen schienen weniger Schwierigkeiten zu haben, den Kontext der Kunstwerke zu vermitteln, allerdings wurde den Arbeiten hier nicht der gleiche Status zuerkannt, wie er von Kunstmuseen verliehen wird. Der erste Versuch 1989 in Paris aktuelle Kunst aus unterschiedlichen Regionen der Welt gemeinsam auszustellen, demonstrierte die Grenzen des westlichen Kunstbegriffs. Stehen beispielsweise afrikanische Plastiken zusammenhangslos neben den europäischen Arbeiten, kann als Reaktion des Publikums bestenfalls Unverständnis, schlimmstenfalls die Mystifizierung anscheinend archaischer Ausdrucksweisen erwartet werden. Die Reduktion nicht-westlicher Kunst auf folkloristische Ästhetik ist ein roter Faden, der sich durch die gesamte Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts zieht.
Chris Ofili beispielsweise ist ein schwarzer Künstler, der in England geboren und ausgewachsen ist und an Kunsthochschulen in London und Berlin ausgebildet wurde. Die BesucherInnen seiner Ausstellungen waren jedoch eher auf der Suche nach seinen "afrikanischen Wurzeln". So dass er sich schließlich entschloss seine Bilder auf getrocknete Elefantenköttel zu stellte, die er aus dem Londoner Zoo bezieht. Bezeichnenderweise ist er erst durch diese Arbeiten im westlichen Kunstbetrieb bekannt geworden. Das Fremde ist eben doch nicht so fremd, dass "wir" (EuropäerInnen) nicht sehr genaue Vorstellungen von dem "Anderen" haben, die sich nach Möglichkeit bestätigen sollen.
"Zecke im öffentlichen Körper"
Im letzten Jahrzehnt wurde in der Kunstpraxis immer wieder nach Annährungsmöglichkeiten gesucht. Dabei entwickelten sich Begrifflichkeiten wie "Peripherie" und "Zentrum". René Block beispielsweise nannte 1998 eine Ausstellung in Kassel Echolot. Neun Fragen an die Peripherie. Als Zentrum sollte Kassel verstanden werden, andere Länder wurden ausgeecholotet. Dabei ist es mehr als ein Nebenwiderspruch, wenn die ausstellenden KünstlerInnen aus dem Iran, Ägypten oder dem Libanon stammen, sie aber ihren Lebens- und Arbeitsschwerpunkt längst in westliche Kunstmetropolen wie New York, London oder Paris verlegt haben. Diese Arbeiten als Arbeiten der Peripherie auszustellen ist kontraproduktiv, da dies die gegebenen Machtkonstellationen im Kunstbetrieb verschleiert. Nach wie vor gilt, dass KünstlerInnen in westlichen Metropolen verankert sein müssen, um in der internationalen Kunstszene beachtet zu werden.
Die vielfältigen Ausstellungen der 90er Jahre zum Thema Welt-Kunst (1) machen die zunehmende Ausdifferenzierung im Umgang mit nicht-westlicher Kunst deutlich. Die Austragungsorte und die KuratorInnen situieren sich allerdings in der überwiegenden Mehrheit weiterhin im Westen. Den Diskurs und damit auch die Kunstproduktion bestimmen also nach wie vor westliche TheoretikerInnen und Institutionen. Dies ändert sich erst langsam durch die Biennalen, in denen zeitgenössische Kunst ausgestellt wird und die in den letzten Jahren auf allen Kontinenten stattfanden.
Einen weiteren Beitrag zu diesen Perspektivwechseln könnte nun die documenta_11 liefern. Das scheint schon in den strukturellen Vorgaben, wie beispielsweise der Teambildung durch Okwui Enwezor, angelegt. Bereits 1997 bei der Biennale in Johannesburg übertrug er die Ausrichtung der Ausstellung an sechs KuratorInnen aus unterschiedlichen Teilen der Welt, von denen er lediglich erwartete, nationale Präsentationen zu vermeiden. Dieses postnationale Konzept setzte er auch in Kassel um. Nachdem die Findungskommission ihn zum Kurator der documenta_11 bestimmt hat, wählte er Carlos Basualdo, Ute Meta Bauer, Susanne Ghez, Sarat Maharaj, Mark Nash und Octavio Zaya zu seinen Co-KuratorInnen. Dieses Team entwickelte die Struktur der Ausstellung. Die documenta_11 - das sind fünf Plattformen. Zum ersten Mal ist Kassel nicht der alleinige und damit zentrale Austragungsort der Kunstschau. Die Parzellierung in fünf Plattformen gibt der documenta_11 ihren Untertitel: "Entortung". Die ersten vier theoretisch orientierten Plattformen wurden im vergangenen Jahr in Wien/Berlin, Neu Delhi, der karibischen Insel St. Lucia und Lagos durchgeführt. Unterschiedliche Auswirkungen der Globalisierung standen im Blickfeld. Wie wichtig es dem KuratorInnenteam erschien, einer Fokussierung auf die documenta in Kassel als einer "westlichen Institution" (Enwezor) entgegenzuwirken, zeigt sich auch darin, dass das Gesamtbudget von 12,8 Millionen Euro gleichmäßig auf die verschiedenen Austragungsorte verteilt wurde.
Die erste mehrwöchige Plattform fand unter dem Titel Democracy Unrealized in Wien und Berlin statt. Ausgangspunkt war der Gedanke, dass die Definition des Begriffs "Demokratie als unvollendeter Prozess eine Möglichkeit biete, das aufzuzeigen, was die liberale Demokratie verspricht, aber nicht halten kann." (2) Zahlreiche WissenschaftlerInnen sowie einige VertreterInnen politischer Kampagnen und Organisationen, wie kein mensch ist illegal oder Arquitectos sin Fronteras, diskutierten über Probleme, die sich aus dem universellen Geltungsanspruch der neoliberalen Wirtschaftsordnung und damit eng verknüpft der liberalen Demokratievorstellung ergeben. Die zentralen Themen waren Menschenrechte, globale Gerechtigkeit, kulturelle Identitäten, Migration, Transformation von Staaten und die Vorstellung von Staatsbürgerschaft.
Experimente mit der Wahrheit: Rechtssysteme im Wandel und die Prozesse der Wahrheitsfindung und Versöhnung lautete der Titel der zweiten Plattform in Neu Delhi. Hier kamen neben WissenschaftlerInnen hauptsächlich VertreterInnen der nationalen und transnationalen Justiz zu Wort. Diskutiert wurden Rechtssysteme, das Problem der willkürlichen Staatsgewalt, die Rolle von Wahrheitskommissionen. Nach Okwui Enwezor ging es dieser Plattform "nicht nur [um] die Untersuchung der zentralen Argumente von Wahrheitskommissionen, die den Kern gerichtlicher und sozialer Methoden angesichts staatlicher Repressionen und Gewaltanwendungen bilden, sondern auch [um] eine sachliche Reflexion anderer komplexer Konflikte (ethnischer, rassistischer, religiöser und sektiererischer) zu ermöglichen, die dem Diskurs von Wahrheitsfindung und Versöhnung vordergründig nicht anzugehören scheinen."
Die karibische Insel St. Lucia war Veranstaltungsort der dritten Plattform: Kreolität und Kreolisierung. Hier wurden postkoloniale und postimperiale Identitätsformen diskutiert, die sich auf Grund wachsender kultureller Diversität innerhalb der Nationalstaaten verändern. Begriffe wie Hybridität, métissage und Kosmopolitismus wurden auf ihre Tauglichkeit überprüft, diese Veränderungen auszudrücken. Anliegen der Plattform war es, Vorstellungen von Kreolität und Kreolisierung als Phänomene der Städte zu untersuchen. "In der Lücke arbeitend, in der altmodische und überholte Begriffe von Zentrum und Peripherie, Authentizität und Andersheit nicht mehr als stabile Kräfte im Bereich der Kultur einsetzbar sind, möchten wir die urbanen Schauplätze der Kreolität und der Kreolisierung erforschen."
Entortung statt Zentralismus
Der Veranstaltungsort der letzten theoretischen Plattform war Lagos. Unter Belagerung. Vier afrikanische Städte. Beleuchtet wurde die urbane Situation der Städte Freetown, Johannesburg, Kinshasa und Lagos. Themen waren u.a. Krieg, Kriminalität, AIDS und Bevölkerungswachstum. Als ReferentInnen geladen waren vor allem ArchitektInnen und SoziologInnen aus verschiedenen afrikanischen Städten, die die Paradoxie zwischen Rückständigkeit und inhärenter Dynamik analysierten. Denn neben den beschränkt arbeitsfähigen staatlichen Institutionen würden sich in diesen Städten neue Arten von Beziehungen und Austausch, Überleben und Auskommen, Solidarität und Widerstand entwickeln. Diese zu benennen, sei - so das Fazit - ein wichtiger Schritt Entwicklungen voranzutreiben, die sich nicht an den Vorgaben der Industrienationen orientieren.
"Die Plattformen sind zunächst einmal ein Weg, nicht nur die intellektuelle Biografie der Ausstellung aufzubauen, sondern auch die Konstruktion und das Umfeld, in dem eine solche Ausstellung entsteht, sichtbar zu machen. Ein wichtiger Aspekt dabei ist, dass es bestimmte Diskurse gibt, die für die zeitgenössische Kunst von großer Bedeutung sind, die aber nicht als Objekte in eine Ausstellung integriert werden können. Die Idee ist also ein Netzwerk von Beziehungen zu knüpfen." So formuliert Okwui Enwezor die angestrebte Wirkungsweise der Plattformen. Inwiefern sich tatsächlich bleibende Netzwerke und Beziehungen haben knüpfen lassen, ist zum heutigen Zeitpunkt nicht zu beantworten.
documenta als Forum nicht- westlicher Kunst
Natürlich können diese Plattformen keine Antworten auf die komplexen Effekte der Globalisierung bereitstellen, aber sie führen fundiert neue Fragestellungen an die Kunst und den Kunstbetrieb heran, und verlassen inhaltlich und formal den eurozentrischen Standpunkt. Das Konzept, die documenta auch in andere Regionen der Welt zu tragen, wurde oft kritisiert. Befürchtet wurde, dass die Kunst nicht mehr im Mittelpunkt stehe, Einzelne fühlten sich mitunter vom Diskurs ausgeschlossen. Nun ist es richtig, dass die Kunst bisher nicht im Mittelpunkt stand. Ebenso war durch die örtliche Aufteilung die Teilhabe an allen Plattformen fast unmöglich (wie übrigens allzu oft in dieser angeblich so nah zusammenrückenden Welt).
Aber dafür hat das KuratorInnenteam die Chance genutzt, die documenta auch zum Forum nicht-westlicher Themen zu machen. Von den 118 auf der documenta vertretenen KünstlerInnen und Künstlerkollektiven kommen mehr als die Hälfte aus dem Süden bzw. weisen eine migrantische Herkunft auf. Ob sich Enwezors Anspruch, den westlichen Kunstbetrieb für einen postkolonialen Blick zu öffnen, realisieren lässt, wird sich nun in Kassel zeigen. Bestenfalls bleibt am Ende bei den BesucherInnen und KunstkonsumentInnen Irritation, schlimmstenfalls endet die documenta_11 bei der Suche nach Elefantenkötteln.
Matilda Felix
Anmerkungen:
1) Die andere Moderne. Zeitgenössische Kunst aus Afrika, Asien und Lateinamerika, Berlin 1997, Inklusion: Exklusion. Kunst im Zeitalter von Postkolonialismus und globaler Migration, Graz 1997; Vielfaches Echo. Zeitgenössische Kunst zwischen den Kulturen, Stuttgart 1998; Cities on the Move, Wien, Bordeaux, Tokio und London 1998/99; Kunstwelten im Dialog. Von Gaugin zur globalen Gegenwelt, Köln 1999/2000; South meets West, Accra, Bern 1999/2000
2) Die Zitate stammen aus der umfangreichen Präsentation der documenta_11 im Internet (www.documenta.de). Hier sind auch Videomitschnitte aus den Plattformen abrufbar. Alle Plattformen werden in einzelnen Publikationen dokumentiert, die ab Juni im Hatje Cantz Verlag erscheinen.