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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 463 / 21.6.2002

Antisemitismus als politisches Projekt

Möllemann, Westerwelle und ihre Vorgänger

"Wir sind nicht schuld, die Nationen sind nicht schuld, wenn sie sich gegen die Juden erheben, sondern die Juden sind schuld, wenn sie die Nationen bis aufs Blut reizen" - das war die Botschaft des am Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland florierenden "modernen Antisemitismus". "Die Juden sind schuld am Antisemitismus" verkünden auch die "postmodernen" Antisemiten des Jahres 2002. Steckt mehr dahinter als das Spekulieren auf Wählerstimmen? Hat politischer Antisemitismus im 21. Jahrhundert wieder Aussicht auf Erfolg?

Der Historiker Moshe Zimmermann hat in seinem Aufsatz "Die ,Judenfrage' als die ,soziale Frage`" (1) bedenkenswerte Beobachtungen über "Kontinuität und Stellenwert des Antisemitismus vor und nach dem Nationalsozialismus" notiert. Er sieht zwei Ursachen für den Rückgang des Antisemitismus in Europa nach 1945: "In Europa schwächte sich der Antisemitismus ab, eben weil die ,soziale Frage` neu formuliert wurde oder mindestens weil die Shoah den Antisemitismus unrespektabel machte." Letzteres wurde von Horkheimer und Adorno nach 1945 auf die - wörtlich genommen natürlich falsche - Formel gebracht: "Es gibt keine Antisemiten mehr."

Was aber hat die "Judenfrage" mit der "sozialen Frage" zu tun? Für diejenigen, die am Ende des 19. Jahrhunderts den Antisemitismus zum Kristallisationspunkt einer politischen Bewegung machten, war beides mehr oder weniger identisch. Am deutlichsten formulierte das Otto Glagau: "Die soziale Frage ist die Judenfrage. (...) Los von den Juden, und die soziale Frage ist gelöst!" Wilhelm Marr, der als Begründer des Begriffs Antisemitismus gilt, vermengte beides noch mit der "nationalen Frage", die durch die Verdrängung der Juden zu lösen sei.

Der "moderne" Antisemitismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts kombinierte die Stereotypen der traditionellen christlichen Judenfeindschaft mit pseudo-naturwissenschaftlichen Rassentheorien; Gobineaus "Essai sur l'inegalité des races humaines" erschien 1853-55 in Paris. In Deutschland war der protestantische Hofprediger Adolf Stoecker dann ab 1879 der "erste Politiker, der den Antisemitismus erfolgreich als wirksames Instrument der Massenmobilisierung einsetzte" (Helmut Berding). Stoeckers Agitationsmuster schildert Berding so: "Zuerst sprach er die Sorgen und Nöte seiner Zuhörer an, zeigte Verständnis für ihre miserable Situation, gab dem Liberalismus und Sozialismus, den wichtigsten politischen Gegnern des protestantischen Konservativismus, die Schuld daran, stellte als eigentlichen Drahtzieher das Judentum hin und lenkte auf diese Weise die Unzufriedenheit der Menschen von den politisch herrschenden und verantwortlichen Kreisen auf die jüdische Minderheit ab." (2)

Während Stoecker und seine Christlich-Soziale Partei sich zum Rassenantisemitismus nicht eindeutig erklärten, vertraten extreme antisemitische Vereinigungen die Vorstellung von einem germanisch-jüdischen Rassenantagonismus. Wilhelm Marr, der Begründer der Antisemiten-Liga, rief das "Germanentum" dazu auf, im Kampf gegen das die Weltherrschaft erstrebende "Semitentum" seinen eigenen Untergang zu verhindern. Theodor Fritsch ging in seinem "Antisemitenkatechismus" noch weiter und forderte die "Ausscheidung der jüdischen Rasse aus dem Völkerleben." Unüberhörbar sind hier Anklänge an den nazistischen "Erlösungsantisemitismus" (Saul Friedländer), der sich dann im Völkermord an den europäischen Juden materialisierte.

Antisemitismus als
kultureller Code

Nach anfänglichen Erfolgen auch bei Reichstagswahlen fristeten die antisemitischen Parteien bald ein Schattendasein. Ihr politisch-ideologischer Einfluss aber war immens, besonders unter Studenten, Handwerkern, Händlern, Bauern, kleinen Angestellten, Staatsbeamten und Intellektuellen. Deren Vereinigungen wurden neben nationalistischen Organisationen, von denen vor allem der "Alldeutsche Verband" zu nennen ist, zu den bedeutendsten Trägern des Antisemitismus im deutschen Kaiserreich. Der Antisemitismus wurde zunehmend zur Weltanschauung, er verwandelte sich in "ein Symbol, ein Kürzel für ein ganzes System von Ideen und Einstellungen", in einen "kulturellen Code" (Shulamit Volkov). Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich dieser kulturelle Code durchgesetzt. Seine "Nützlichkeit" beschreibt Shulamit Volkov so: "Da er im wesentlichen verbal blieb und für die Entscheidung der wichtigeren Tagesfragen wenig praktische Bedeutung hatte, war er um so besser geeignet, symbolischen Wert anzunehmen." (3) Anders gesagt: Antisemitismus als kultureller Code ist ein "zum Symbol erhobener Judenhass", im Kaiserreich stand er gleichzeitig für Anti-Modernismus, Antifeminismus, aggressiven Nationalismus, Expansion des Reiches, Rassismus, Antisozialismus, Militarismus und Unterstützung einer autoritären Regierung.

Dass Antisemitismus auch im neuen Deutschland zum kulturellen Code werde, behauptete der Historiker Wolfgang Wippermann schon Ende 1998. Den Anschlag auf das Grab des langjährigen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, sah Wippermann auch in Verbindung mit der "Hoffähigmachung des Antisemitismus". Im taz-Interview (22.12.98) sagte Wippermann: "Die sogenannte Ausländerfeindlichkeit - eigentlich ja blanker Rassismus - ist zum kulturellen Code dieser Gesellschaft geworden. Die Vorstellung, wir könnten die Juden davon ausnehmen, weil sie ja was Besonderes sind, ist falsch. Allgemeiner Rassismus ergreift notwendigerweise auch den Antisemitismus. Und der wird in allen gesellschaftlichen Schichten stärker, teilweise noch unter der Hand, aber teilweise auch schon nicht mehr unter der Hand." Als Beispiele nannte Wippermann den Streit um das Berliner Holocaust-Mahnmal, die Vorwürfe gegen Ignatz Bubis nach dessen Kritik an Martin Walser ("geistige Brandstiftung") und die Medienkampagne zum "Schwarzbuch des Kommunismus", gipfelnd in der Behauptung Stéphane Courtois', die Juden instrumentalisierten die Shoah.

Dass "jüdische Geschäftemacher" aus dem Leid der NS-Opfer Gewinn ziehen würden, war auch ein gängiger Vorwurf in der Debatte um die Entschädigung ehemaliger ZwangsarbeiterInnen. Allein an dieser Frage lässt sich, auch in der als "seriös" geltenden Presse, die systematische Verwendung antisemitischer Stereotypen nachweisen: die weltumspannende Macht des Judentums, die Gerissenheit und Geldgier des "jüdischen Anwalts aus New York", jüdische Unversöhnlichkeit und Rachsucht. Durch die Verwendung dieser Stereotypen wird das Täter-Opfer-Verhältnis umgekehrt: Die deutsche Industrie, der Staat, am Ende gar der Steuerzahler erscheinen als Opfer einer jüdischen Erpressung. Lars Rensmann, der diesen Diskurs untersucht hat, spricht von "Motiven des sekundären Antisemitismus", die einer "kollektiven Selbstverteidigung" der Deutschen dienen. Sie zielten darauf, "die ,nationale Identität` als Opfergemeinschaft zu konstruieren und zu rehabilitieren." (4)

Im Entschädigungsstreit hatten sich deutsche Politiker, an vorderster Front Lambsdorff und Schröder, vornehmlich als Interessenvertreter der deutschen Industrie und ihres Begehrens nach "Rechtssicherheit" engagiert. Die ideologische Begleitung überließen sie weitgehend den Medien - die klassische Arbeitsteilung zwischen Staatsapparat und "Zivilgesellschaft". Wenn heute eine als demokratisch und verfassungstreu akzeptierte Partei systematisch mit antisemitischen Stereotypen Politik macht, dann ist das einerseits für die bundesdeutsche Gesellschaft nicht neu (siehe den nebenstehenden Artikel); andererseits ist es mehr als ein Rückfall in die 1950er Jahre. Waren damals alte Nazis die Träger dieser Politik, so sind es heute die jung-dynamischen Karrieristen der Generation Guido und der nur unwesentlich ältere Möllemann mit seiner "arabisch imprägnierten Judenfeindschaft" (Micha Brumlik).

Es gibt keinen bloß "taktischen" Antisemitismus

Die Schutzbehauptung, Möllemann und sein Ziehsohn Karsli hätten nur die israelische Politik gegenüber den PalästinenserInnen kritisieren wollen und das müsse doch erlaubt sein, ist leicht zu durchschauen: Ihre angebliche Israel-Kritik war von vornherein von antisemitischen Stereotypen überlagert: die Gleichsetzung der Sharon-Regierung mit den Nazis, die erdrückende Macht der von Juden beherrschten Presse, die Juden als Verursacher des Antisemitismus, schließlich Möllemanns rassistische Argumentation, Karsli könne gar kein Antisemit sein, da er als gebürtiger Syrer selbst ein "Semit" sei. Die FDP-Führung, namentlich Kanzlerkandidat Westerwelle, hat wochenlang allenfalls "unglückliche Formulierungen" beanstandet und gleichzeitig durch Attacken gegen den Zentralrat der Juden ("unanständig", "ehrverletzend") einen wesentlichen Beitrag zur Kampagne geliefert. Erst als die ganze Partei dabei in die Defensive geriet, ihre "Geschlossenheit" und die "Führungsstärke" des Vorsitzenden ins Gerede kamen, steuerte Westerwelle um. Wobei er mit seinem Bekenntnis, gezielt im "rechtspopulistischen Lager" (d.h. unter rechtsextremen WählerInnen) für die FDP werben zu wollen, seine strategische Übereinstimmung mit Möllemann erklärte.

Die in etlichen Kommentaren zu lesende These, Ziel der Möllemann-Westerwelle-FDP sei die Schlagzeilen produzierende "Regelverletzung" um jeden Preis, geht am Kern der Sache vorbei. Die FDP hat nicht irgendein beliebiges "Tabu" gebrochen, sie hat gezielt das antijüdische Ressentiment geschürt und dabei auch die voraussehbare Empörung einkalkuliert. Es geht ihr dabei nicht nur um die Stimmen der immer wieder genannten wahlberechtigten Muslime. Der Spiegel (3.6.) sieht die FDP auch sozialpolitisch in der Offensive, um "die Massen zu finden (...) Der Umgang mit der deutschen Geschichte soll zum Testfall für das neue Selbstverständnis avancieren." Das Testergebnis kann die Matadoren des "Projekt 18" durchaus zufrieden stellen: Nach Umfragen (ZDF und Die Zeit) halten 28 Prozent der Deutschen Möllemanns Vorwürfe gegen Friedmann für gerechtfertigt; nur 9 Prozent sehen die FDP auf dem Weg nach rechts.

Ob Möllemann und Westerwelle Antisemiten im ideologischen Sinne sind oder nicht, ist für die Bewertung ihrer Kampagne nebensächlich. "Die Unterscheidung zwischen echtem und vorgeschobenen Antisemitismus ist unhaltbar und irreführend", schreibt Shulamit Volkov - entscheidend sind seine Folgen: 30.000 fast ausschließlich zustimmende Briefe und E-Mails will Möllemann bekommen haben, Haider und Schönhuber gratulierten, REPs und NPD klatschen Beifall. Zwar musste er sich dem öffentlichen Druck ein Stück weit beugen, er bleibt aber im Amt, seine Bataillone innerhalb und außerhalb der FDP stehen geschlossen zu ihm - ein Beispiel für das "Bündnis von Elite und Mob" (Jan Philipp Reemtsma), das für Hannah Arendt eines der Erfolgsmomente des Nationalsozialismus war.

Ob sich die Sache für die FDP bei der Bundestagswahl am 22. September auszahlt, bleibt offen. Eindeutig verschoben hat sich das, was als politisch erlaubt gilt. Der kulturelle Code der "selbstbewussten Nation" hat sich durch die gezielte Konfrontation mit dem Zentralrat der Juden erweitert; von "denen" muss sich ein gestandener deutscher Politiker nichts mehr sagen lassen, er darf sogar seinerseits eine Entschuldigung fordern, wenn er des Antisemitismus bezichtigt wird. Von der SPD, die sich lautstark entrüstet, kommt in dieser Frage keine Gegenwehr. So galt Schröders Sorge einmal mehr dem durch Möllemann beschädigten "deutschen Ansehen" in der Welt und der dadurch eingeschränkten Regierungsfähigkeit des potenziellen liberalen Koalitionspartners. Schröders Treffen mit Martin Walser war ein Signal an die gleiche Klientel, die auch Westerwelle und Möllemann umwerben. Die deutsche Sozialdemokratie, so die Botschaft, ist "selbstkritisch, aber auch selbstbewusst patriotisch" (SPD-Generalsekretärs Müntefering). Im Verein mit dem deutschen Nationaldichter Günter Grass wies Schröder zudem die Kritik an Walsers neuestem Roman pauschal zurück - einem Buch, das Elke Schmitter im Spiegel (3.6.) überzeugend als "antisemitisch und diffamierend" beschrieben hat.

Js.

Anmerkungen:

1) In: Christof Dippe, Rainer Hudemann, Jens Petersen (Hrsg.): Faschismus und Faschismen im Vergleich; Köln (SH-Verlag) 1998

2) Helmut Berding: Moderner Antisemitismus in Deutschland; Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1988

3) Shulamit Volkov: Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert; München (C.H. Beck) 1990

4) In: Rolf Surmann (Hrsg.): Das Finkelstein-Alibi. "Holocaust-Industrie" und Tätergesellschaft; Köln (PapyRossa) 2001; vgl. auch Rezension in ak 449