Eine Justiz im Exil
Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen in Guatemala
Kampf gegen die Straflosigkeit in Lateinamerika - Teil 4
Nachdem ak-Autor Knut Rauchfuss in früheren ak-Ausgaben dargestellt hat, wie der Prozess der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen in Chile, Argentinien und Peru verläuft (ak 458, 459 und 460), beschreibt er im vierten Teil dieser Artikelreihe die schwierigen Bedingungen, unter denen Menschenrechtsorganisationen und Wahrheitskommission in Guatemala um Aufklärung und Verurteilung der unzähligen Verbrechen kämpfen, die vor allem von staatlichen Organen verübt worden sind.
Einer der Hauptfaktoren für die vielen Menschenrechtsverletzungen ist die Straflosigkeit der Täter", bekräftigte Comandante Gaspar Ilom anlässlich der Unterzeichnung des Menschenrechtsabkommens von 1994, das zwei Jahre später in einen Friedensvertrag zwischen Regierung und dem guatemaltekischen Guerillaverband URNG mündete. "Deshalb muss Straflosigkeit unterbunden werden."
Bei den 1990 aufgenommenen Verhandlungen hatten Regierung und Guerilla zunächst ein Rahmenabkommen und später zehn Teilabkommen mit mehr als 300 Einzelvereinbarungen abgeschlossen, die Grundlage des endgültigen Friedensvertrages wurden. Neben Abkommen zu sozialen und ökonomischen Fragen, zu kulturellen Rechten der indigenen Bevölkerung und der Rückkehr der Flüchtlinge, beschäftigten sich vier Teilverträge mit Menschenrechtsfragen, Entmilitarisierung und Demokratisierung des Landes. Die Regierung verpflichtete sich, Todesschwadronen zu demobilisieren, und garantierte Reformen zum Umbau der Justiz.
Bischof Gerardi: erschlagen
Fast sechs Jahre später versinkt Guatemala erneut in Rechtlosigkeit und Terror. JournalistInnen, Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen und Justizangehörige stehen ebenso wie Gewerkschaftsleute, AktivistInnen linker Parteien und Basisorganisationen wieder auf den Abschusslisten von Todesschwadronen. Doch allen Drohungen und Attentaten zum Trotz wird der Kampf gegen die Straflosigkeit unermüdlich fortgesetzt.
Im Sommer 1997 nahm die guatemaltekische Wahrheitskommission (CEH) ihre Arbeit auf. Ihr waren von Beginn an enge Grenzen gesetzt, denn ein halbes Jahr zuvor hatte das Parlament eine Generalamnestie für alle "im Zuge des Konflikts" begangenen Menschenrechtsverletzungen erlassen. Zugleich war es der CEH untersagt, in ihrem Bericht Verantwortliche namentlich zu benennen, und der Bericht selbst darf nicht als Beweismaterial in Strafverfahren genutzt werden.
Dennoch verstand es die CEH, die verbliebenen Spielräume maximal zu nutzen. Es gelang ihr, die Verbrechen als Verstöße gegen internationale Abkommen zu definieren, so dass sie nicht länger unter das Amnestiegesetz fielen. So wurden z. B. die Verbrechen an der indigenen Bevölkerung erstmals eindeutig als Völkermord klassifiziert. Völkermord und Folter werden nicht durch die Amnestie gedeckt.
Der Bericht beziffert die Zahl der Ermordeten und der "Verschwundenen" zwischen 1962 und 1996 auf mehr als 200.000 und dokumentiert 669 Massaker, von denen 626 durch Staatsorgane verübt wurden. Die detaillierte Dokumentation von Zeit- und Ortsangaben sowie die Benennung von verantwortlichen Institutionen erlaubt den mühelosen Rückschluss auf die Namen der Täter, obgleich der Bericht diese nicht explizit nennt.
Darüber hinaus analysierte die CEH die gesellschaftlichen Ursachen, die zum Ausbruch des Bürgerkrieges geführt haben, einschließlich ihrer sozioökonomischen Faktoren, und leitete daraus Empfehlungen für eine gesellschaftliche Umgestaltung ab, die für eine langfristige Demokratisierung des Landes unerlässlich ist. Die von der CEH empfohlenen Maßnahmen umfassen in sechs Paketen das Gedenken an die Opfer, die Entschädigungsfrage, die Schaffung einer Kultur des gegenseitigen Respekts und der Achtung der Menschenrechte, den Demokratisierungsprozess, die Förderung des Friedens und die Etablierung einer Überwachungskommission zur Umsetzung der insgesamt 84 Empfehlungen. Zu diesen zählen u.a. einschneidende Beschränkungen staatlicher und militärischer Macht, wie die Auflösung des militärischen Geheimdienstes und des Generalstabs des Präsidenten, die Beschränkung militärischer Aufgaben auf die Landesverteidigung, die Trennung von Armee und Polizei und die Einführung eines Zivildienstes. Guatemala solle als multiethnische Nation die Rechte der indigenen Bevölkerung garantieren und Rassismus über strukturelle Reformen im Rechts- und Bildungssystem bekämpfen.
Aber nicht nur die CEH arbeitete an der Aufklärung der Verbrechen. Bereits 1995 hatte das Menschenrechtsbüro der katholischen Kirche das Projekt zur Wiedergewinnung der historischen Erinnerung REHMI begonnen. REHMI steht für eine Wahrheitssuche "von unten", die neben der Beweisaufnahme auch das kollektive Gedächtnis in den ländlichen Gemeinden zu stärken sucht, Forderungen der Opfer aufgreift und Namen von Tätern nennt.
Zwei Tage, nachdem Bischof Gerardi den Abschlussbericht von REHMI öffentlich vorgestellt hatte, wurde er am 26. April 1998 erschlagen. Die Untersuchung des Mordes wie auch der nachfolgende Prozess gegen die Täter zeigen, dass der Kampf gegen die Straflosigkeit für MenschenrechtlerInnen heute abermals zum Kampf auf Leben und Tod geworden ist.
So präsentierte das Innenministerium vier Tage nach dem Mord zunächst einen 24-jährigen Alkoholiker als verdächtigen Einzeltäter. Dieser sei bei der Tat beobachtet worden. Wer dies einen politischen Mord nenne, so Innenminister Mendoza, verbreite unbegründete Spekulationen. Doch selbst PolizeiexpertInnen meldeten Zweifel an. Nicht zuletzt hatte der Verdächtige ein Alibi für die Tatnacht. Trotzdem wurde er für drei Monate in Haft gehalten. Als schließlich erste Spuren für eine Tatbeteiligung des Priesters Mario Orantes sprachen, wurden ein Mord aus Eifersucht konstruiert und Gerüchte über eine gemeinsame Geliebte bzw. eine homosexuelle Beziehung zwischen den Priestern in die Öffentlichkeit lanciert.
Staatsanwalt und Richterin: geflohen
Das Menschenrechtsbüro des Erzbistums glaubte an einen politisch motivierten Mord und ermittelte selbst. Die Spur führte zu zwei weiteren möglichen Tatbeteiligten: zu dem ehemaligen Oberst Disrael Lima Estrada und zu seinem Sohn Byron Lima Oliva, Mitglied der Präsidentengarde. Gegen beide wurde jedoch mehr als anderthalb Jahre lang keine Anklage erhoben. Der Anwalt der Militärs lenkte die Verdächtigungen gegen den Schatzkanzler des Erzbistums. Andere "Ermittlungen" bezichtigten den Direktor des Menschenrechtsbüros als Drahtzieher. Ein knappes Jahr verstrich, ohne dass der amtierende Untersuchungsrichter Beweise vorgelegt hätte. Auf Drängen des Erzbischofs wurde er abgelöst und Richter Henry Monroy mit dem Fall beauftragt.
Monroy entließ die Untersuchungshäftlinge. Ein Taxifahrer hatte ausgesagt, er habe am Tatort ein Militärfahrzeug beobachtet. Nach einer Serie von Morddrohungen flüchteten Zeuge und Untersuchungsrichter nach Kanada ins Exil. Ihnen folgte ein weiterer Zeuge, ein Unteroffizier, der in einem Club des Generalstabs erfahren hatte, dass vier Personen unter der Leitung des Sicherheitschefs in der Tatnacht die Residenz Gerardis überwacht hätten. Staatsanwalt Otto Ardon schickte Blutproben verdächtiger Offiziere an Speziallabors des FBI, welches einige der Proben der Tat zuordnete. Danach musste auch Ardon fliehen. Viele andere Prozessbeteiligte berichteten von Drohungen und ergriffen die Flucht. Neun Augenzeugen des Verbrechens bezahlten ihre Aussage mit dem Leben.
Ardons Nachfolger Celvin Galindo trug weitere Beweise zusammen und erhob im September 1999 Anklage. Einen Monat später erhielt er, nach Todesdrohungen gegen seine Kinder, in Deutschland politisches Asyl. Im Haus der dann vorsitzenden Richterin Yasmín Barrios explodierte eine Granate. Barrios - zugleich auch Vorsitzende des Verfassungsgerichtes - erhielt weitere Drohungen und wurde von einem Militärhubschrauber verfolgt, bis sie schließlich kurz vor der Urteilsverkündung das Land verließ.
Am 8. Juni 2001 verkündete ihr Nachfolger schließlich unter massiven Todesdrohungen das Urteil. Das Gericht befand einstimmig drei hohe Militärs für schuldig, an dem Mordkomplott beteiligt gewesen zu sein: neben jenen Militärs, auf deren Spur die Ermittlungen des Menschenrechtsbüros geführt hatten, auch den ehemaligen Geheimdienstler Obdulio Villanueva. Sie wurden zu 30 Jahren Haft verurteilt. 20 Jahre erhielt der Priester Orantes wegen Komplizenschaft. Die Urteile schlossen einen Straferlass explizit aus, betonten ausdrücklich politische Motive als Beweggründe für den Mord und ordneten die zusätzliche Eröffnung eines Prozesses gegen dreizehn weitere mutmaßlich Tatbeteiligte an, unter ihnen auch der Chef der Präsidentengarde, die in der Urteilsbegründung als Institution für den Mord verantwortlich gemacht wird. Die Richter stützten sich dabei auf Aussagen, die der geständige Byron Lima Oliva im Prozess gemacht hatte. Dieser hatte erklärt: "Das war kein persönliches Verbrechen. Es geht um ein Problem des Generalstabs des Präsidenten und des nationalen Heeres."
Menschenrechts-
Büros: überfallen
Mit dem Mord an Gerardi begann eine bis heute andauernde Kette von Übergriffen. Amnesty International (AI) zählte 81 Drohungen gegen Justizangehörige alleine in der ersten Hälfte des Jahres 2000. Im Folgejahr wurden acht AnwältInnen, RichterInnen und ZeugInnen ermordet und mehrere Büros von Menschenrechtsorganisationen überfallen. Der Entführungsversuch an einer Berichterstatterin von AI scheiterte. Unmittelbar nach dem Mord an Gerardi warfen Unbekannte Handgranaten in die Wohnung eines Journalisten, der über ein Massaker der Armee aus dem Jahr 1995 recherchiert hatte, und in das Haus von Miguel Angel Albizúrez, der zum Präsidium der Allianz gegen die Straffreiheit gehört. Julio Arango, der staatliche Menschenrechtsbeauftragte, erhielt in diesen Tagen mindestens 40 telefonische Todesdrohungen. Roberto González, der stellvertretende Generalsekretär der linken Oppositionspartei "Demokratische Front Neues Guatemala" (FDNG), wurde von einer Gruppe schwerbewaffneter Männer auf offener Straße erschossen. Auch Jorge Soto, Generalsekretär der URNG, berichtete von massiven Drohungen gegen VertreterInnen der ehemaligen Guerilla-Organisation.
Nach Angaben der UN-Verifikationsmission für Menschenrechte in Guatemala (MINUGUA) wurden seit Unterzeichnung des Friedensabkommens 215 Menschen ermordet, die meisten von ihnen nach April 1998. Nur in 3% der Fälle verhafteten die Behörden Tatverdächtige.
Gleichzeitig versuchen Menschenrechtsorganisationen in Guatemala selbst, weitere Verbrechen zur Anklage zu bringen. Überlebende von Massakern erhoben im Mai 2000 Klage gegen den ehemaligen Diktator Lucas García (1981-1982.) Zeitgleich mit der Urteilsverkündung im Fall Gerardi reichten 20 Gemeinden Klage gegen den Ex-Diktator (1982-1983) und heutigen Parlamentspräsidenten Ephraim Rios Montt ein. Seine Immunität war im März 2001 wegen Betruges bei der Festsetzung von Alkoholsteuern aufgehoben worden. Das Gericht hatte die Klage zunächst angenommen, das Verfahren jedoch nach wenigen Monaten wieder eingestellt. Auch ein Verfahren gegen drei weitere hohe Militärs, die des Mordes an der Anthropologin Myrna Mack beschuldigt werden, wurde nach sieben Jahren im Oktober 2001 ausgesetzt.
Verantwortlich: niemand
Keiner der für diese Verbrechen Verantwortlichen wurde bislang zur Rechenschaft gezogen. Die Mehrzahl der Vereinbarungen des Friedensvertrages wurden ebenso wenig erfüllt wie die Empfehlungen der Wahrheitskommission.
Vor diesem Hintergrund reichte die Stiftung der Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú im Dezember 1999 Klage wegen Völkermordes gegen zunächst acht hohe Militärs vor dem obersten Gerichtshof Spaniens ein. Unter ihnen drei ehemalige Staatschefs, ein Verteidigungs- und ein Innenminister sowie ein Generalstabs- und zwei Polizeichefs. Im Vorfeld einer Anhörung über die Zuständigkeit des spanischen Gerichts im Mai dieses Jahres wurde der Schatzmeister der Stiftung in einem Café erschossen.
Knut Rauchfuss