"Komisches Gefühl"
Drei Jahre nach den NATO-Bomben beginnt in Pancevo das langsame Sterben
"Immer mehr Leute in der Stadt sterben an Krebs", sagt Ivan Zafirovic fast beiläufig. Der schlacksige junge Mann sitzt in seinem Büro im zweiten Stock des Rathauses von Pancevo und wippt in einem Plastikledersessel. Als einziger Abgeordneter der Grünen Partei im Stadtparlament ist er zuständig für den Umweltschutz. Zafirovic blickt hilflos auf Unterlagen, die sich vor ihm auf dem Tisch stapeln. Es sind Berichte über die ökologischen Folgen der NATO-Bombardements vor drei Jahren. "Heute sterben viel mehr Leute als vor den Bombardements 1999. Aber es ist ein Tabu darüber zu reden", wiederholt er sich.
An 17 Tagen und Nächten trafen im Frühjahr vor drei Jahren Marschflugkörper und Bomben Ziele in der knapp 100.000 EinwohnerInnen zählenden Stadt. Was Zehntausenden Arbeit und bescheidenen Wohlstand einbrachte, wurde zum Fluch für die BewohnerInnen. Pancevo ist einer der wichtigsten Industriestandorte in Jugoslawien. Hier, nur zwanzig Kilometer die Donau entlang flussabwärts hinter der Zwei-Millionen-Metropole Belgrad, konzentriert sich die petrochemische Industrie des Landes. Benzin, Düngemittel, Kunststoffe, Lacke und Öle stellen die ArbeiterInnen im Industrierevier her.
"Am 24. März 1999 um 20:40 Uhr schlugen die ersten Bomben ein", erinnert sich Ivan Zafirovic. Der 24. März war der erste Tag des Krieges, fünf Tage zuvor waren die Hoffnungen auf eine Verhandlungslösung im Kosovo-Konflikt im Schloss Rambouillet bei Paris gescheitert. "Zuerst trafen die Bomben die Fabrik Lola Utva, dort wurden Kleinflugzeuge für die Landwirtschaft montiert", sagt Zafirovic. Dann, in den folgenden Wochen, trafen die Bomben die Raffinerie, die Düngemittelfabrik Azotara und die Kunststofffabrik Petrohjemija. Immer wieder bis zum letzten Tag des Kriegs am 8. Juni, als ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet wurde und sich die jugoslawische Armee aus dem Kosovo zurückzog.
"Es ist ein Tabu darüber zu reden"
Die Bombenangriffe auf Pancevo wurden akribisch dokumentiert. Schon im Oktober 1999, nur vier Monate nach Ende des Krieges, veröffentlichte das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) einen ausführlichen Bericht über die ökologischen Konsequenzen der Bombardements. Die ExpertInnen der Genfer Behörde hatten in den Wochen nach dem Abschluss der Waffenstillstandsvereinbarung Recherchereisen durch Jugoslawien unternommen und mit WissenschaftlerInnen und AugenzeugInnen vor Ort versucht, eine Bestandsaufnahme durchzuführen. Pancevo identifizierten sie neben der Industriestadt Kragujevac als "am schlimmsten" betroffen.
"Es war ein Albtraum", sagt Zafirovic und versucht zu lächeln, denn schließlich ist das alles schon so lange her. "Die Bomben haben große Teile der Tanks getroffen, in denen die Grundstoffe für die Produktion gelagert waren." Insbesondere in der Woche zwischen dem 13. und dem 20. April geriet die Bevölkerung in Panik. In jeder Nacht rasten die Cruise Missiles in das Industriegebiet, das direkt an ein Wohnviertel anschließt. Flammen loderten in den Nachthimmel. Tagsüber blieb es dunkel, weil sich eine gewaltige Rauchwolke über die Stadt wölbte. Erst als es anfing zu regnen, lichtete sich der Himmel. "Auf den Autos, auf den Straßen, überall klebte ein schwarzer schmieriger Schleim", erinnert sich der junge Abgeordnete. "Viele Menschen sind damals aus Pancevo zu Freunden oder Verwandten nach Belgrad oder in andere Städte geflüchtet", erzählt er. "Die Menschen hatten Angst. Viele schwangere Frauen haben abgetrieben, weil sie sich vergiftet vorkamen." Dazu hatten ihnen die Ärzte in den Krankenhäusern geraten.
Die Katastrophe kam unerwartet über die Stadt. Pancevo liegt in der Vojvodina-Region, die Grenze zu Ungarn und Rumänien ist viel näher als Pristina. Von den Auseinandersetzungen im Süden lasen die Menschen nur in der Zeitung. Dass die Fabriken in der Nachbarschaft gefährlich waren, wussten sie allerdings genau. "Die Chemieindustrie war schon immer eine Bedrohung", sagt Zafirovic. "Die Arbeiter hier sterben jung." Beim Aufbau der jugoslawischen Chemieindustrie in den 60er und 70er Jahren spielten Umweltbestimmungen keine wichtige Rolle. Als "Pancevo-Krebs" bezeichneten die Ärzte eine Krankheit, unter der insbesondere die Arbeiter der PVC-Fabrik Petrohjemija litten, ein Krebs, der die Leber befällt. Verantwortlich dafür machten sie hauptsächlich die Chemikalien Ethylen-Dichlorid (EDC) und Vinyl-Chlorid-Monomer (VCM), die Grundstoffe der PVC-Produktion. Der "Pancevo-Krebs" greift nun weiter um sich, denn es sind gerade diese Chemikalien, die durch die NATO-Bomben in großem Umfang freigesetzt wurden.
Das Umweltlexikon beschreibt die Wirkung von Ethylen-Dichlorid: "Hautreizend, narkotisierend, mutagen und karzinogen" ist der Stoff. Die Vergiftungssymptome bestehen aus "Kopfschmerzen, Übelkeit mit Erbrechen, blutigen Durchfällen, Koliken, tiefer Narkose". Langzeitbelastung verursacht "Depressionen und Magenbeschwerden mit Erbrechen". Es drohen "starke Organschädigungen (Leber, Niere, Blut). Erhöhung der Frühgeburts- und Totgeburtenrate". Auch Vinylchlorid wird als "eindeutig Krebs erzeugender Stoff" ausgewiesen. "Es kann kein medizinisch unbedenklicher Grenzwert festgelegt werden, da jede noch so geringe Konzentration schädigend wirkt", heißt es. Für Arbeitsplätze gilt in Deutschland die Überschreitung einer Konzentration von 3 ppm (ml/m3) als nicht mehr tolerierbar. In Jugoslawien liegt der Grenzwert bei 5 ppm (ml/m3).
Die Messteams des Institutes für Gesundheitsschutz in Pancevo haben am 18. April 1999, die Fabriken brannten lichterloh, an verschiedenen Punkten der Stadt eine VCM-Konzentration gemessen, die den jugoslawischen Grenzwert um das 7.200- bis 10.600fache überschritt. Der Berichte der UNEP nennt weitere Zahlen. In der Plastikfabrik Petrohjemija flossen 2.100 Tonnen des giftigen Ethylen-Dichlorid (EDC) aus. 460 Tonnen Vinyl-Chlorid-Monomer (VCM) verbrannten.
Auch andere toxische Substanzen wirbelten mit den Flammen durch die Luft, versickerten im Boden oder flossen in die Donau. Acht Tonnen Quecksilber wurden in Petrohjemija freigesetzt, ein Schwermetall, das sich in der Nahrungskette anreichert. Und in der neben der Plastikfabrik liegenden Raffinerie verbrannten nach Angaben der Genfer ExpertInnen mindestens 80.000 Tonnen Rohöl und Ölprodukte. Dabei entstanden ebenfalls Krebs erregende polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAH).
"Gesundheitssystem ist pleite"
Nicht alle Substanzen wurden unmittelbar durch die Bombardierungen freigesetzt. Zwei Tage nachdem am 13. April die massive Angriffswelle eingesetzt hatte, entschlossen sich die Geschäftsführer der Kunstdüngerfabrik Azotara, 250 Tonnen flüssiges Ammoniak in einen offenen Kanal zu leiten, der in die Donau führt. Dort setzte anschließend ein Fischsterben ein, aber die Azotara-Manager hatten Schlimmeres befürchtet, wären Bomben in die vollen Tanks gefallen. Tatsächlich wurden die entleerten Tanks einen Tag später getroffen.
"Es war gut, dass die UNEP-Experten so schnell vor Ort waren", meint Ivan Zafirovic. "Wir wissen nun, was damals geschah." Aber seitdem sei so gut wie nichts passiert, um die Bevölkerung zu schützen. Zwar könne man die Vergiftung nicht mehr rückgängig machen, aber heute würden die Bauern auf den Feldern Gemüse produzieren, über die damals der schwarze Regen niederging. Noch nicht einmal verlässliche Statistiken über die Todesfälle gibt es, erklärt Zafirovic. "Das Gesundheitssystem ist pleite und es gibt auch keine Vergleichswerte zu früher."
Roeland Kortas ist Chef des Clean-Up-Programms der UNEP. Mit seinen zehn Mitarbeitern sitzt er in einem Büro im Belgrader Stadtviertel Zemun, dort wo Sava und Donau zusammenfließen, um vereint in Richtung Schwarzes Meer zu fließen. Clean Up ist eigentlich das falsche Wort für Kortas' Arbeit. "Bisher wurden keine Maßnahmen ergriffen, um Wasser und Böden in Pancevo zu entgiften", sagt er. "Wir können uns nur auf die dringendsten Aufgaben konzentrieren." Und diese bestehen momentan beispielsweise darin, einen Abwasserkanal zu sichern, der vom bombardierten Pancevoer Industriegebiet in die Donau führt. In diesem Kanal landeten Tonnen gefährlicher Substanzen, die sich weiter zu verbreiten drohen. "Bei der Bombardierung ist die Kläranlage zerstört worden", erläutert Kortas. An anderen Orten versucht die UNEP ausgelaufene Chemikalien einzusammeln, die Verbreitung von kontaminiertem Grundwasser einzudämmen oder hochgradig vergiftete Böden abzutragen. Es geht darum zu verhindern, dass die Schäden nicht noch größer werden, könnte man den Ansatz der UNEP zusammenfassen.
"Die UNEP hat nach dem Krieg in Jugoslawien 26 Projekte identifiziert, die dringend durchgeführt werden müssten, um das Gesundheitsrisiko für die Bevölkerung zu reduzieren. Für die Umsetzung benötigen wir 20 Millionen Dollar", sagt Kortas. Bis jetzt seien bei Sammelaktionen in den europäischen Hauptstädten aber nur 11 Millionen zusammengekommen. Deutschland ist mit 870.000 Dollar dabei. Während die NATO-Staaten in den drei Kriegsmonaten etwa 12 Milliarden Dollar ausgaben, um den Angriff auf Jugoslawien zu führen, scheint nun kein Geld mehr in den Kassen zu sein, um dem Land beim Wiederaufbau zu helfen. "Um wirklich Clean Up durchzuführen, würden wir hunderte von Millionen Dollar benötigen", sagt Kortas. "Aber Umweltschutz ist keine Top-Priorität."
Im Stadtkern von Pancevo sitzen Jugendliche in den Cafes. Straßenverkäuferinnen versuchen eine Zeitung loszuwerden. Lieferwagen biegen um die Ecke. Die Menschen kaufen ein, gehen zur Arbeit oder fahren ins nahe Belgrad, um ins Kino zu gehen. Drei Jahre nach dem Bombardement simulieren die Menschen Normalität. "Die Leute hier versuchen alles zu vergessen", meint Alexandar Weisner. Er ist Mitglied einer Friedensgruppe und hat mit seinen FreundInnen in den vergangenen zehn Jahren den oft aussichtslos scheinenden Kampf gegen Nationalismus und Krieg geführt. Heute versucht er die Menschen auf die Umweltkatastrophe aufmerksam zu machen. Aber die Bevölkerung ist wie gelähmt. "Die Leute haben andere Probleme. Die Arbeitslosigkeit ist hoch und die Löhne liegen bei 150 Euro im Monat. Alle versuchen irgendwie zu überleben", sagt er.
Niemand scheint ein Interesse zu haben, über die Folgen der Bombardements zu reden. "Die Regierung käme doch unter den Druck der Bevölkerung etwas zu tun", meint Weisner. "Aber es gibt kein Geld", sagt er. Nach Angaben des serbischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic haben die NATO-Bombardements Schäden in Höhe von fünf Milliarden Dollar verursacht. Von den versprochenen großzügigen Hilfeleistungen nach dem Sturz Slobodan Milosevic' sind bisher gerade 500 Millionen Dollar überwiesen worden. Überall ist dringender Investitionsbedarf. Krankenhäuser und Schulen sind in einem erbärmlichen Zustand, die ohnehin niedrigen Löhne können oft nicht ausgezahlt werden.
"Fast jeder kennt jemanden, der krank ist
Auch die internationale Gemeinschaft schweigt lieber. Käme die Zerstörung der Fabriken von Pancevo zur Sprache, müssten viele Fragen beantwortet werden, die man in Brüssel, Berlin oder Washington lieber nicht hören möchte. Warum wurden die Fabriken von Pancevo bombardiert, obwohl dort gar keine Waffen hergestellt wurden? Ging es den NATO-Zielplanern also um die Zerstörung eines wichtigen Industriekomplexes, um die Wirtschaftskraft des Landes zu schwächen? Oder wollten sie nur die Raffinerie zerstören, die immerhin die größte in Jugoslawien war und Treibstoffe herstellte? Warum wurden aber dann die Kunststofffabrik und die Düngemittelfabrik an mehreren aufeinander folgenden Tagen bombardiert? In den Zusatzprotokollen zu den Genfer Konventionen steht, dass "Kriegführung, die ausgedehnte, lang anhaltende oder schwere Schäden der natürlichen Umwelt verursacht", verboten ist. Warum hat das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag selbst Ermittlungen gegen die NATO-Planer abgelehnt?
Alexandar Weisner weiß es nicht. Doch er weiß etwas anderes: "Fast jeder hier kennt jemanden, der krank ist. Das ist ein komisches Gefühl."
Boris Kanzleiter