Gratwanderungen in Kashmir
Krise zwischen Indien und Pakistan ist auch Folge des "Krieges gegen den Terror"
Eine Million Soldaten stehen sich in der Kashmir Region an der indisch-pakistanischen Grenze gegenüber. Indien beschuldigt Pakistan der Unterstützung islamistischer Terrorgruppen in der Provinz. Pakistan beschuldigt Indien des Staatsterrorismus gegen die kashmirische Bevölkerung. Beide haben recht. Der seit Jahrzehnten anhaltende Konflikt droht ein weiteres Mal zum Krieg zu eskalieren. Mitverantwortung trägt der US-geführte "Feldzug gegen den Terrorismus", auch wenn US-Vizeaußenminister Richard Armitage in der Region mittels Krisendiplomatie versucht, die Wogen zu glätten.
Die Auseinandersetzungen um die Kashmir-Region haben eine lange Vorgeschichte, die bis zur Teilung des südasiatischen Subkontinents 1947 zurück gehen. Die Parzellierung wurde damals nach heute allzu bekannten und gefürchteten religiös-ethnischen Kriterien durchgeführt: Mehrheitlich von MuslimInnen bewohnte Gebiete sollten Pakistan sein und mehrheitlich von Hindus bewohnte Gebiete wurden Indien zugeschlagen.
Das größte Interesse an der religiös-etnischen Teilung hatten die britischen Kolonialherren. Eine Unabhängigkeit ganz Indiens hätten den Staat nach dem Zweiten Weltkrieg zum mit Abstand bevölkerungsreichsten Land der Erde und sehr schnell zu einer Weltmacht vom heutigen Range Chinas gemacht. Anstatt dessen bekämpfen sich heute zwei Nationalstaaten und setzen alle Ressourcen gegeneinander ein, vier Mal bereits in Kriegen.
Ethnisch-religiöse Teilungsideologie
Der pakistanische Staatsgründer, Mohammad Ali Jinnah, muss als zweite Quelle der Teilung genannt werden. Er konnte durch das britische Teilungskonzept selbst zum Staatsmann aufsteigen. Die interreligiös und säkular orientierten indischen Staatsgründer Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru trifft sicherlich am wenigsten Schuld an der Teilung. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass schon damals viele Aktivisten ihrer Indian National Congress Partei hindu-nationalistisch beeinflusst waren. Sie bildeten eine dritte Quelle der Teilung, denn die Pogrome gegen die jeweils andere religiös-ethnisch Gruppe vor und während der Unabhängigkeit gingen sowohl von nationalistisch-fundamentalistischen Muslim- wie auch Hindu-Gruppen aus.
Die permanente Kriegsdrohung zwischen Indien und Pakistan führt zu einer Radikalisierung auf beiden Seiten. So waren die Pogrome gegen MuslimInnen im indischen Bundesstaat Gujarat im März diesen Jahres auch eine Folge der Drohungen gegen Pakistan, das in Indien mit einem extremistischen Muslim-Staat identifiziert wird. Und die aktuelle Kriegsdrohung wiederum verdeckt die hindu-nationalistische Verantwortung der regierenden Indischen Volkspartei (BJP), die jüngst viele Regionalwahlen verlor und nun durch extremistische Pogrome versucht, ihre letzte Bastion in einem großen Bundesstaat, in Gujarat, zu halten.
Der heutige Bundesstaat Jammu und Kashmir ist der einzige mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit in Indien. Die Ansprüche Pakistans beruhen immer noch auf der ethnisch-religiösen Teilungsideologie der englischen Kolonialmacht. Jammu und Kashmir gehört heute zu Indien, weil 1947 der damalige Maharaja von Kashmir, Hari Singh, trotz der muslimischen Bevölkerungsmehrheit einen Vertrag unterschrieb, der Kashmir an Indien angliederte. Darauf drangen von der pakistanischen Armee ausgerüstete Truppen von Norden her nach Kashmir ein und wollten den Bundesstaat annektieren, wogegen die indische Armee von Süden her nach Kashmir einrückte und die Truppen bis zur noch heute gültigen "Line of Control" zurück schlug.
Der nördliche Teil gehört heute zu Pakistan und wird dort offiziell "Free Pakistan" genannt - auch das ist eine nicht ganz zutreffende Umschreibung der Lage. Nach den Kämpfen von 1947 erklärten sowohl die Vereinten Nationen in einer Resolution als auch der indischen Präsident Nehru, dass die Bevölkerung von Kashmir selbst in einer Abstimmung über ihre Zugehörigkeit entscheiden solle. Dabei ging es aber immer nur um den Anschluss Kashmirs entweder an Indien oder an Pakistan. 1951 fanden indische Bundesstaatswahlen in Kashmir statt und es gewann der ehemalige Bündnispartner Nehrus, Sheikh Abdullah. Einen Artikel in der indischen Verfassung, der Kashmir einen Sonderstatus zuspricht, legte Abdullah nun in Form einer groß angelegten Autonomie aus: nur Außenpolitik, Verteidigung und Medien sollten der Indischen Union überlassen werden, für alle anderen Bereiche beanspruchte Abdullah Autonomie. Das ging Nehru jedoch zu weit, 1953 verhaftete er Abdullah und 1954 erließ er zwei Gesetze, durch die die Autonomie drastisch eingeschränkt wurde. Von den ursprünglichen Versprechen einer Abstimmung der Bevölkerung war nun keine Rede mehr.
In den folgenden Jahren fanden zwar immer wieder Landtagswahlen statt, denen jedoch regelmäßig der Ruch der Wahlfälschung zu Gunsten der delhi-freundlichen Partei National Conference anhing, so auch 1987, als Farooq Abdullah, der Sohn des vormaligen Sheikh Abdullah, die Wahlen gewann. Als er 1988 die Strompreise erhöhte, entwickelte sich die in der Geschichte Kashmirs einzige bisher deutlich ausmachbare Massenbewegung mit primär sozialen Zielen. Abdullah ließ die Bewegung niederschlagen, worauf immer mehr AktivistInnen zur nun Auftrieb erhaltenden Jammu und Kashmir Liberation Front (JKLF) übergingen und einen Guerillakrieg um ein freies Kashmir führten, das auch das nördliche, pakistanische Kashmir umfassen sollte. Dort residierte ihr Anführer, Amanullah Khan, der allerdings auch pakistanischer Repression ausgesetzt war.
Repression und Islamisierung
Gegen die Guerilla setzte Delhi Militär ein, das sich seither einer Vielzahl dokumentierter Menschenrechtsverletzungen schuldig machte. Eingesetzt wurden meist ortsfremde Hindu-Soldaten, die bald nahezu jede/n MuslimIn als SympathisantInnen der Guerilla oder später der IslamistInnen betrachteten und entsprechend behandelten.
Der permanente militärische Belagerungszustand und die Stationierung von 400.000 indischen Sicherheitskräften - jetzt sind es sogar 600.000 - ließ in den vergangenen Jahren immer mehr Menschen in Kashmir sich von Indien abwenden. Diverse Guerillagruppen gewannen an Zulauf. Pakistan nutzte diese Situation aus, denn an einem unabhängigen Kashmir hat es kein Interesse. Als die pakistanische Regierung, und zwar ganz unabhängig davon, ob sie gerade demokratisch gewählt oder vom Militär dominiert war, damit scheiterte, die JKLF durch Infiltration und Waffenhilfe zu ihrem willigen Instrument zu machen, wandte sie sich 1991 ganz von ihr ab. Statt dessen baute sie über den pakistanischen Geheimdienst ISI mit den Hizb-ul-Mujahidin, Harkat ul Ansar und Al-Faran islamistische Gegenguerillas in Kashmir auf. Deren Kämpfer wurden von Pakistan bewaffnet und ausgebildet, bestanden personell aber noch mehrheitlich aus islamistischen Kashmiris. Sie bekämpften nicht nur die indischen Sicherheitskräfte, sondern auch die JKLF und forderten den Anschluss an Pakistan. Als schließlich die indische Armee militärisch die Oberhand behielt, gab Pakistan gegen Mitte der neunziger Jahre ganz die Zurückhaltung auf und infiltrierte die kashmirischen Guerillas mit Söldnerkämpfern, die aus Pakistan, Afghanistan oder diversen arabischen Staaten stammten.
Heute ist in Kashmir nicht nur jede Unabhängigkeitsbewegung zerschlagen oder islamisiert, auch die ganze Gesellschaft hat sich verändert und konnte dem permanenten Kriegsdruck nicht standhalten. Die muslimische Bevölkerung Kashmirs praktizierte eigentlich einen mystischen Sufi-Glauben, der ähnlich dem Hinduismus mit einem Mentor/Guru funktioniert, auf die täglichen Riten und die zentrale Position der Moschee verzichtet, traditionell tolerant gegenüber religiösen Minderheiten ist und Frauen große Freiheiten einräumt. Die Islamisierung des militärischen Unabhängigkeitskampfes brachte jedoch die Purdah (Absonderung der Frauen von den Räumen der Männer) und die Verschleierung der Frauen mit sich. Die Moschee wurde politisiert und nachdem Parlament und bürgerliche Öffentlichkeit auf Grund der indischen Armeepräsenz immer weniger funktionierten, erlaubten die politischen Freitagsgebete in den Moscheen die einzigen Möglichkeiten der Unmutsäußerung. Der Inhalt wurde aber nun von Islamisten diktiert.
Die islamistischen Guerillas führten Anfang der neunziger Jahre auch Anschläge auf die hinduistische Minderheit im Kashmir-Tal durch, worauf eine Massenevakuierung und -auswanderung der sich nicht mehr sicher fühlenden Hindu-Familien aus dem Kashmir-Tal nach Jammu einsetzte - eine Entwicklung, die der indischen Regierung nicht ungelegen kam und die sie mit einem vorschnellen Evakuierungsplan eher förderte. Danach konnten die Armee-Einheiten um so legitimierter und ungestörter handeln. Die indische Regierungspolitik fing damals selbst an, nach ethnisch-nationalistischen Kategorien Politik zu machen, obwohl damals noch die bürgerliche Kongress-Partei regierte, auf deren Konto schon die Hindu-Muslim-Zusammenstöße 1992/93 gehen, und nicht wie heute die hindu-nationalistische BJP.
1999 haben Indien und Pakistan in Kargil am nördlichen Rand der "Line of Control" einen Grenzkrieg geführt und damit gezeigt, dass sie trotz ihrer jeweiligen Atomtests von 1998 jederzeit zu einem Krieg bereit sind. Ob das Konzept der atomare Abschreckung im Falle Indiens und Pakistans greift, ist durchaus offen. Viele Tendenzen deuten in Richtung Krieg, und daran trägt der Westen erhebliche Verantwortung.
Die USA haben Indien schließlich vorgemacht, wie sie "Terrorismus" bekämpfen, nämlich durch Krieg auf dem Territorium, aus dem die "TerroristInnen" vermeintlich herkommen. Seit 1989 gibt es immer wieder von Pakistan inoffiziell unterstützte islamistische Attentate in Kashmir mit Opferzahlen, die oft den 34 vom jüngsten Anschlag am 14. Mai nahe kommen oder sie sogar übersteigen. Bis zum "Antiterrorkrieg" in Afghanistan hat selbst die indische herrschende Klasse bei diesen Attentaten nie ernsthaft darüber nachgedacht, deswegen einen Krieg mit Pakistan auf dessen Territorium zu inszenieren. Selbst Kargil war ja in indischen Augen ein Verteidigungskrieg.
Der nationale Diskurs der BJP-Regierung und der dominanten Medien in Indien hat mittlerweile Maßstäbe gesetzt, hinter die sie schwerlich zurück können, ohne das Gesicht zu verlieren. Wenn selbst der gemäßigte Premier Atal Behari Vajpayee bereits nach dem Anschlag vom 13.12.01 auf das indischen Parlament in Delhi davon sprach, dass eine Milliarde InderInnen eine Antwort erwarteten, dann schwang dabei auch tatsächlich mit, dass davon ausgegangen wird, Indien habe vier Mal mehr EinwohnerInnen als die USA und daher auch vier Mal so sehr das Recht, einen Krieg gegen den "Terror" nach deren Vorbild zu führen. Die US-Diplomatie wird sich angesichts der jüngsten Krise schwer tun, diese mobilisierende Rhetorik einzudämmen, noch dazu wenn sie immer wieder erklären muss, was sie nicht erklären kann: Dass nämlich die USA etwas dürfen, was Indien wiederum keineswegs zugestanden wird, nämlich Krieg führen wo immer und wann immer sie wollen.
USA Vorbild
beim "Krieg gegen Terror"
Der pakistanische Militärherrscher Pervez Musharraf andererseits hat am 12.1.02 fünf islamistische Organisationen in Pakistan verboten und versprochen, die Waffenhilfe für Organisationen in Kashmir einzustellen, ohne seine Ansprüche auf Kashmir aufzugeben. Praktisch hat sich an der Situation jedoch nichts verändert. Anschläge gibt es nach wie vor, und die inoffizielle Unterstützung der TerroristInnen durch Pakistan ist höchst wahrscheinlich.
Indien wiederum wird Kashmir keinesfalls aufgeben. Im öffentlichen Diskurs wird dabei meist ein Argument angeführt, das auch von europäischer Seite nach der Erfahrung Jugoslawiens nicht ganz von der Hand zu weisen ist: Das Dominoprinzip, wonach die Unabhängigkeit eines Bundesstaates eine ganze Kettenreaktion nach sich ziehen könnte. Gerade in Indien ergäben sich da vielerlei Möglichkeiten und ganze Horrorszenarien nationalistischer Gemetzel täten sich auf, ist das Land doch durchzogen von ethnisierten Konflikten.
Lou Marin
Dieser Artikel ist eine vom Autor aktualisierte und von der ak-Redaktion bearbeitete Version eines Artikels aus graswurzelrevolution februar 2002/266.