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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 464 / 16.8.2002

Angekündigter Mord

Argentiniens Staat geht mit aller Gewalt gegen Selbstorganisierungsprozesse vor

Darío Santillán und Maximiliano Kosteki sind tot, ermordet von der argentinischen Polizei. Am 26. Juni 2002 wurden sie erschossen - bei einer Straßenblockade im Süden von Buenos Aires. Nur, weil es Fotos gibt, nur, weil diese Fotos auch veröffentlicht wurden, und nur, weil sofort viele Zeugen bereitstanden - nur deshalb steht fest, dass Polizisten die beiden ermordet haben. Gezielt und vorsätzlich: Darío wurde von hinten in den Rücken geschossen, als er sich um den sterbenden Maximiliano kümmerte.

Es war eine ganz normale Straßenblockade, an einem ganz normalen Wintermittwoch in Argentinien. Wie fast jeden Tag irgendwo in oder um Buenos Aires sammeln sich auch an diesem 26. Juni Tausende piqueteros (1), um eine der großen Straßen zu versperren. Dann brennen ein paar Reifen mitten auf der Fahrbahn, vielleicht auch einige Barrikaden. Die einen piqueteros stehen daneben, trinken Matetee - andere sind vermummt und passen auf, dass nichts passiert.

Normalerweise passiert auch nichts, zumindest nichts Gravierendes. Die Vermummung und der Knüppel in der Hand sind zum Symbol der piqueteros geworden, ohne dass die Blockaden je besonders gewalttätig gewesen wären.

An diesem Mittwoch im Juni 2002 ist das anders. Schon eine Woche vorher kursieren in der Stadt Gerüchte, die Polizei wolle mal wieder richtig zuschlagen. Das Ziel der angekündigten Repression scheint klar - anvisiert sind die radikaleren Teile der Bewegung: die MTD (2), die politisch organisierten Arbeitslosen. Besonders eine scheint den Staatsorganen ein Dorn im Auge zu sein: die CTD Aníbal Verón (3). Vor drei Jahren wurde sie gegründet - als Vernetzung kleinerer Stadtteilbewegungen aus dem Süden von Buenos Aires, dort, wo die Armut am größten ist und die Arbeitslosenquote am höchsten.

Selbstorganisation und Blockaden

Schon lange vor den Massenprotesten des vergangenen Dezember fanden sich in den Vororten und Elendsvierteln der Stadt engagierte Leute zusammen, um sich das Nötigste selbst zu organisieren: Baumaterial für die Hütten, billiges Essen für die Bewohner, Bildung für die Kinder. Der Staat hatte sich schon längst jeglicher sozialer Verantwortung entledigt. Von den zahlreichen Armen- und Elendsviertel in der Stadt will er nichts wissen, er will sie auch nicht sehen. Unterstützung gibt es nicht, wenn überhaupt kümmern sich einige kirchliche Gemeinden um die Stadtteile.

Und so machen sich die Bewohner selbst sichtbar - mit den piquetes, den Straßenblockaden und Camps vor Behörden, Rathäusern und Schulen.

Irgendwann vor drei Jahren begann der Vernetzungsprozess: Die kleinen Stadtteilbewegungen MTD schlossen sich zusammen, zu den CTD, den Koordinierungen. Im Süden von Buenos Aires, in Lanús, Quilmes, Almirante Brown und vielen anderen kleinen Vierteln entstand die CTD Aníbal Verón, die heute aus 13 MTD besteht. Dort spielen Partei- oder Gewerkschaftsapparate keine Rolle, weil sie zur Zeit niemand will - auch von den hierarchischen Strukturen der argentinischen Linken möchten sich die MTD nicht vereinnahmen lassen. Zu schlecht sind die Erfahrungen mit Funktionären, die am Ende auch nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind.

Trotzdem wollen die MTD und ihre Koordinierungen, die CTD, gemeinsam mit anderen linken Gruppen und Organisationen agieren - so war es auch für die Aktionen am 26. Juni geplant: Straßenblockaden an nahezu allen neuralgischen Punkten der Hauptstadt (4) Das war in dem neuen plan de lucha beschlossen worden, einem Aktionsplan für den Winter, der mit den gut koordinierten Blockaden am 26. Juni beginnen sollte. Die Forderungen der MTD und CTD sind immer die gleichen und verhallen doch meist ungehört: ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln, ordentliche medizinische Betreuung und bessere Bildungsmöglichkeiten.

Am 26. Juni hatte die CTD Aníbal Verón einen der wichtigsten Blockadepunkte übernommen, die Brücke Pueyrredón nach Avellaneda, im Süden der Hauptstadt. Was dort passierte, hatte so wohl niemand erwartet - obwohl die Gerüchte über die angekündigte Repression schon in der Stadt waberten. Die piqueteros wurden von einem Großaufgebot an Polizei erwartet, in einen Kessel getrieben und angegriffen. Mit allem, was die Polizisten dabei hatten: Mit Knüppeln, Gummigeschossen und Tränengas. Die Menge rannte auseinander, die Polizisten hinterher. Es gab zahlreiche Verletzte und Festnahmen.

Und dann erschossen die Polizisten Maximilano Kosteki (25) und kurz darauf Darío Santillán (21) - im Bahnhof von Avellaneda. Der Kommissar, der später auf den Fotos zu sehen ist - mit gezogener Waffe, in den Momenten als Darío noch lebte und sich über den sterbenden Maximilano beugte - dieser Kommissar Franchiotti leitete den Einsatz. Er erklärte der Presse wenig später, er wisse nichts von irgendwelchen Toten. Und später: die piqueteros hätten Konflikte untereinander ausgetragen, dabei sei es wohl auch zu Schusswechseln gekommen.

"Se mataron entre ellos" - diese Version war auch die, die zunächst in den bürgerlichen Medien verbreitet wurde. Denn dass die piqueteros gefährliche Straftäter und Räuber seien, das ist immer noch die Meinung vieler. Und das war auch das Bild, das Polizei und Medien in den ersten Stunden nach den Morden fleißig transportierten. Schließlich habe der argentinische Innen-Geheimdienst SIDE schon seit Wochen gewusst, dass ein militanter Flügel der piqueteros Gewalttätigkeiten provozieren wolle. Deshalb hätte man schon zwei Wochen vorher beschlossen, alle Blockaden zu verhindern und keine piqueteros in den Bereich der Hauptstadt zu lassen. Ergebnis dieser Beschlüsse war eine kalkulierte brutale Repression, die in den Stunden nach den Morden ihre Fortsetzung fand in zahlreichen Festnahmen und Razzien in den südlichen Stadtteilen. Auch dort wurde scharf geschossen, die Treffpunkte durchsucht, gestürmt; ein Klima wie zu Zeiten der Diktatur - so die Aussagen der Älteren.

Gezielter staatlicher Mord

In der Öffentlichkeit sollten die piqueteros und gerade dieser radikalere Teil der Bewegung, die sich den alten Strukturen von Parteien und Gewerkschaften verwehren und eine funktionierende Selbstorganisierung aufgebaut haben, als gewalttätig, bewaffnet und gefährlich dargestellt werden. Mit dem Image der gefährlichen Gewalttäter sind die piqueteros auch den fortschrittlicheren Kräften der Mittelschichten suspekt. Und genau dieses Image versuchen die Politiker der etablierten Parteien zu forcieren. Denn vor einem haben sie besonders Angst: Dass sich piqueteros, die frustrierte Mittelschicht und die traditionellen linken Parteien zusammentun könnten, um gemeinsam nach Strategien und Lösungen jenseits der IWF- und Weltbankpolitik zu suchen. Das gilt es in den Augen des argentinischen Establishment zu verhindern.

Im Falle der Repression in Avellaneda scheint diese Strategie aber gescheitert, denn die öffentliche Meinung kippte, als schon am Tag nach den Schüssen in den Zeitungen und im Internet Fotos auftauchten mit den Bildern vom Mord. Kommissar Franchiotti und einige seiner Kollegen wurden festgenommen und zehntausende demonstrierten spontan zur Casa Rosada, dem Sitz der argentinischen Regierung.

Die beiden Ermordeten waren in der CTD Aníbal Verón organisiert. Maximiliano Kosteki in der MTD Puente Perón und Darío in der MTD Lanús. Darío war 21 Jahre alt, gerade hatte er seinen Schulabschluss nachgeholt. Er lebte im Viertel La Fe, einem Armenviertel, das hauptsächlich aus Blechhütten und primitiven Steinbauten errichtet wurde.

Es ist eines der besser gestellten Armenviertel, denn hier kann man schon die Resultate der Selbstorganisierung bewundern. Dank Leuten wie Darío, die ihre gesamte Kraft in den Aufbau dieses Viertels gesteckt haben. Nur so konnte ein Gemeinschaftshaus aus Stein entstehen, in dem billig erworbene Nahrungsmittel gelagert und verkauft werden, in dem die Kinder Nachhilfe bekommen und die Erwachsenen Alphabetisierungskurse, in dem die Versammlungen stattfinden und das soziale Leben des Viertels.

An den Wänden klebt die letzte Ausgabe der Red-Acción, einer linken Zeitung, die den MTD nahe steht und die von ANRed, einer kleinen linken Nachrichtenagentur mit Infos versorgt wird. Mitten im Raum stehen lauter uralte Schulbänke, auf denen die jüngeren Kinder sitzen und Hausaufgaben machen - die älteren helfen. Manchmal wird ein Video gezeigt, mit Filmen aus den 60er und 70er Jahren, als es in Argentinien Kino-Basisgruppen gab, die einfach zu verstehende Filme über Imperialismus und Ausbeutung, über Organisierung und Repression drehten. Am Ende singen die Zuschauer mit, wenn es da heißt y viva, y viva la olla popular. (5) Und mitten drin - Darío, der in der Werkstatt des Viertels arbeitete, mit dem Ziel, die vielen Holz- und Blechhütten endlich in Steinbauten zu verwandeln, die dem Regen besser trotzen. Darío, der die treibende Kraft der MTD Lanús war, der andere von der Selbstorganisierung überzeugte und der so stolz war, dass sie sogar eine Bibliothek im Viertel errichtet hatten.

Von dieser Form der Arbeit weiß die Öffentlichkeit zumeist nichts. Bis zum Dezember des vergangenen Jahres schaute die europäisch geprägte Mittelschicht der Hauptstadt fast ausschließlich mit Verachtung, Abscheu, zum Teil sogar mit Hass auf diese aus ihrer Sicht dreckigen, dunkelhäutigen und lauten Demonstrierenden, wenn diese hin und wieder in das Zentrum von Buenos Aires vordrangen. Das hat sich geändert, zumindest ein bisschen.

Mittelschichten und suspekte Subjekte

Mit dem corralito, dem Einfrieren der Sparguthaben auf den Banken, setzten auch immer mehr Vertreter der Mittelschichten den Fuß auf die Straße, um zu protestieren. (6) Und ein Teil von ihnen begann sogar, sich mit den piqueteros zu solidarisieren. Aber es sind nur die fortschrittlicheren Teile der Mittelschicht, die an einer Zusammenarbeit interessiert sind, z.B. die, die sich in den asambleas, den Stadtteilversammlungen organisieren. Die asambleas beschaffen Lebensmittel, veranstalten Volxküchen und versuchen, ihre Delegierten mit denen der MTD und CTD zu koordinieren. Und seitdem Abend für Abend hunderte, manchmal tausende aus den Elendsvierteln in die Hauptstadt kommen, um den Müll nach Verwertbarem zu durchsuchen, nach Metallen, nach Papier, nach Kleidung, nach Plastik, nach Essen - seitdem gibt es in den asambleas eine Initiative für Mülltrennung. So soll denen, die mit der Müllverwertung ihr Geld verdienen, die Arbeit erleichtert werden. Auf den asambleas werden Fragebögen verteilt, auf denen "Müllgeber" und "Müllsammler" sich gegenseitig über ihre Wünsche und Bedürfnisse aufklären und sich somit kennen lernen.

Bald ist in Argentinien Wahl. Für März 2003 sind die vorgezogenen Wahlen angesetzt, im November dieses Jahres finden die parteiinternen Ausscheidungen statt. Und wer einmal Wahlkampf in Argentinien miterlebt hat, weiß, dass in dieser Zeit noch mehr Demonstrationen stattfinden als sonst schon. Hoffentlich gewinnt die Repression nicht die Oberhand.

ari

Anmerkungen:

1) Piqueteros - Straßenblockierer. Seit ein paar Jahren sind die piquetes, die Straßenblockaden, das politische Mittel der argentinischen Arbeitslosenbewegung.

2) MTD - Movimiento de Trabajadores Desocupados, übers. Arbeitslosenbewegung. Die MTD sind nach Stadtvierteln organisiert und heißen auch meist so wie der jeweilige. Es sind selbstorganisierte Basisorganisationen, die nach dem Rotationsprinzip Delegierte auf die jeweiligen Vernetzungs- und Koordinierungstreffen entsenden. Sie kümmern sich um Lebensmittel, Baumaterial, medizinische Versorgung, (politische) Bildung, etc.

3) CTD - Coordinadora de Trabajadores Desocupados, übers. Arbeitslosenkoordination. Eine CTD fasst verschiedene MTD zusammen.

4) Die Hauptstadt, ist im Süden von einem Flüsschen begrenzt, über den nur wenige Brücken führen. Die Grenze im Westen und Norden bildet eine große Straße, über die wenige aber wichtige Einfallstraßen führen. Deswegen lässt sich der Verkehr in Buenos Aires sehr wirkungsvoll lahm legen.

5) y viva y viva la olla popular - es lebe die Volxküche. Lied aus dem Film "Me matan si no trabajo y si trabajo me matan" (Sie töten mich, wenn ich nicht arbeite und wenn ich arbeite, töten sie mich), 1974 von der Kinobasisgruppe "Cine de la Base" über den Streik der Fabrik INSUD in Buenos Aires gedreht.

6) siehe auch die Artikel "Überlebensstrategie und Kampf", ak 462, S. 20 und "Tage der Hoffnung und des Zorns", ak 458, S. 24