do-commentieren 11
Auf der documenta geht es bei aller Globalität um Differenzen und Grenzen
Am 28. Juli wurde bei der elften documenta in Kassel Zwischenbilanz gezogen. Am fünfzigsten von hundert Ausstellungstagen befand sich mit 302.765 auch die Zahl der BesucherInnen bei der Hälfte der insgesamt anvisierten 600.000. Zum Vergleich: die documenta X sahen ca. 631.000 BesucherInnen.
Die Zahlen stimmen also, nur von dem Konzept der fünf unterschiedlichen Plattformen ist kaum noch die Rede. Das KuratorInnenteam um Okwui Enwezor hatte die elfte documenta an sechs unterschiedlichen Orten stattfinden lassen und die Ausstellung als letzten Bestandteil definiert (vgl.: ak 463). Direkte Bezüge und Querverweise zwischen Ausstellung und den Tagungen, auf denen eine theoretische Auseinandersetzung zur wirtschaftlichen und politischen Situation im Postkolonialismus erfolgte, werden in Kassel nicht gemacht, sind vielleicht gar nicht intendiert gewesen. Stattdessen werden die Positionen der KünstlerInnen präsentiert, die den Zustand der Welt betont subjektiv beschreiben. Die 118 KünstlerInnen der documenta entwerfen dabei ein vielseitiges Bild.
Formal sind viele Werke Dokumentationen, allerdings ohne Anspruch auf Wahrheit und Gültigkeit. Die subjektiven Befragungen lassen die Arbeiten zu Kommentaren werden, die den BesucherInnen die Möglichkeit geben, die Welt aus unterschiedlichen Perspektiven wahrzunehmen. Anders ausgedrückt: Mit Hilfe der neue Medien: Fotografie, Film, Video wird in Kassel do-commentiert.
Die Atlas Group stellt sich als Stiftung vor, die libanesische Gegenwartsge-schichte erforscht. Die ausgestellten Arbeiten wollen also keine Kunstwerke, sondern archivarisch gesammelte Ergebnisse dieser Forschungen sein, und diesem Anspruch werden sie auf den ersten Blick gerecht. Allerdings tauchen schnell Fragen auf. Warum sammelt ein Historiker Bilder von den Zielläufen beim Pferderennen und verbringt seine Zeit damit, die Entfernung von Zielgerade und Pferdekopf im Moment des Fotografierens zu ermitteln? Was für einen Sinn macht es, die Automarken der im Libanon gezündeten Autobomben zu sammeln? Bei näherer Betrachtung werden diese seriösen Präsentationen unglaubwürdig. Tatsächlich handelt es sich nicht um Archivmaterial, das der Gruppe (mit nur einem Mitglied Walid Ra'ad) zugespielt wurde. Das Bemühen um die Darstellung und die Erfahrbarkeit historischer Wahrheit wird hier torpediert.
Bernd und Hilla Becher fotografierten zwischen 1958 und 1973 Fachwerkhäuser des Siegener Industriegebietes. Auf schwarz-weiß Fotos wird ein Fachwerkhaus nach dem anderen - manchmal auch in Gruppenformation - gezeigt. Mit einem ethnologisch zu nennenden Interesse wird eine europäische Bauweise abgelichtet. Die Häufung der zwar unterschiedlichen aber dennoch gleich scheinenden Häuser lässt sie suspekt erscheinen. Das Künstlerpaar veranlasst die Betrachtenden, eine Außenperspektive einzunehmen. Sie machen Gewohntes befremdlich.
Pavel Braila thematisiert Grenzen und Differenzen zwischen Russland und Westeuropa anhand des Zugverkehrs. Sein Video Shoes for Europa zeigt die notwendige Umstellung der Spurweite von Zuggleisen bei der Fahrt von Moldawien nach Rumänien. Drei Stunden dauert der Arbeitsprozess an der Grenzstation Ungheni, der den Zug (und die in ihm sitzenden und schlafenden Passagiere) an die westeuropäische Normalspur anpasst. Eine Arbeit, die mit dem Kulturbahnhof einen entsprechenden Rahmen hat.
Die Unüberwindbarkeit der europäischen Grenze dokumentiert die italienische Künstlergruppe Multiplicity. Gegenstand der Arbeit A Journey Through a Solid Sea ist der Untergang eines Schiffes mit 283 Flüchtlingen an Bord zwischen Malta und Sizilien am 26.12.1996. Dieser Untergang, bei dem die meisten Beteiligten starben, wurde in der Öffentlichkeit verschwiegen. Erst nachdem sich Kleidungsstücke und Leichenteile in den Netzen der italienischen Fischer mehrten, wurden Ermittlungen durchgeführt. Multiplicity präsentiert die Ereignisse aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Satellitenaufnahme des entsprechenden Tages zeigt ein unbewegtes Europa, die Unterwasseraufnahmen lediglich ein Wrack. Erst die Videointerviews mit in unterschiedlicher Weise Involvierten macht die Zusammenhänge deutlich.
Die Österreicherin Lisl Ponger hat in Genua nach Spuren der Proteste gegen den G8-Gipfel gesucht. Mit ihrer Anwesenheit wollte sie eine AktivistInnengruppe unterstützen, die von der Polizei festgehalten wurde. Auf ihren Fotos stehen nicht die Menschen im Mittelpunkt, sondern die Einschreibungen des Protestes in das Stadtbild. Diese Spuren sind manchmal schwer zu entziffern und wahrscheinlich in Genua schon vernichtet, aber Lisl Pongers Fotografien dokumentieren sie.
Die documenta flimmert. Elektronische und bewegten Bilder haben die Leinwand weitestgehend ersetzt. Interviews und Dokumentationen nehmen einen breiten Raum ein. Nicht alle Werke lassen sich spontan (politisch) entschlüsseln. Manche bleiben für BetrachterInnen mit europäischem Hintergrund zunächst unverständlich. Hier wird eine intensivere Beschäftigung mit außereuropäischen Problemen und Sichtweisen - die im Untertitel der Ausstellung geforderte Entortung - nötig. Wer zur documenta fährt - und dies sei hiermit empfohlen - sollte sich zum einen Zeit nehmen und zum anderen nicht versuchen, alles zu sehen.
Matilda Felix