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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 465 / 20.9.2002

Marineblau in den sozialen Krieg

Die neue französische Regierung setzt auf Repression

"Marineblau muss wieder zur Modefarbe werden", hatte der Minister für kommunale Angelegenheiten, Patrick Devedjian, bereits im Mai dieses Jahres getönt - Marineblau ist die Dienstfarbe der französischen Polizei. Geht es nach dem neuen Innenminister - Pardon: "Minister für Innere Angelegenheit und Innere Sicherheit" - Nicolas Sarkozy und dem ihm beigeordneten Devedjian, dann soll diese Farbe künftig immer stärker das Straßenbild prägen.

Seit Anfang Juli unternahmen die Marineblauen in den Banlieues, den Trabantenstädten des Pariser Ballungsraums, einige spektakuläre Operationen. Etwa im Morgengrauen des 16. Juli in der Hochhaussiedlung Cité Pablo Picasso in Nanterre, wenige Kilometer westlich von Paris. 270 eingesetzte Polizisten erbeuteten immerhin 256 Gramm Haschisch. Das Ziel sei es schließlich nicht, "unmittelbare Ergebnisse zu erzielen", erklärten die Verantwortlichen für den Großeinsatz gegenüber Le Monde (24. Juli 2002). Es gehe vielmehr darum, "ein Kräfteverhältnis in einem Quartier herzustellen, das zu den schwierigsten in der Stadt zählt", und um den "psychologischen" Faktor. Aber was rechtfertigt den Einsatz der Sicherheitskräfte eigentlich, wenn keine konkreten Straftaten verfolgt werden, ja nicht einmal feststeht, dass welche vorliegen?

Nach offizieller Sprachregelung soll den "rechtsfreien Räumen" in den vor allem von Einwanderern und ihren Nachfahren bewohnten Vorstädten sowie der "Schattenökonomie" der Kampf angesagt werden. Es klingt mitunter, als bereite eine Armee sich darauf vor, eine feindliche Festung einzunehmen.

Die "Innere Sicherheit" hat für die konservative Regierung unter Jean-Pierre Raffarin höchste Priorität. Dass es ihr dabei nicht zuletzt auch darum geht, die bei den Wahlen im Frühjahr stark angewachsene Klientel der extremen Rechten auf ihre Seite zu ziehen, wird offen ausgesprochen. "Ich habe die Botschaft vom ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl empfangen", sagte etwa Justizminister Dominique Perben Ende Juli im Parlament, offenkundig von den knapp 20 Prozent der Stimmen sprechend, die am 21. April dieses Jahres für die beiden neofaschistischen Präsidentschaftskandidaten Jean-Marie Le Pen und Bruno Mégret abgegeben wurden. Und er fügte hinzu: "Das war eine Botschaft der Besorgnis, der Verärgerung oder jedenfalls der Unzufriedenheit bezüglich der Fragen der Inneren Sicherheit." Und der Vorsitzende der Gesetzeskommission des Parlaments, Pascal Clément, erklärte: "Wir müssen zeigen, dass wir den Verzweiflungsruf der Franzosen verstanden haben." Jener Franzosen, die Le Pen wählten.

Von 6 Milliarden Euro zusätzlicher Mittel für Polizei und Justiz war vor den Wahlen die Rede. Daraus sind jetzt 5,6 Milliarden für die Polizei und 3,7 Milliarden für die Justiz geworden, jeweils im Zeitraum 2003 bis 2007. Von dem Geld sollen unter anderem 13.500 zusätzliche Polizisten und Gendarmen eingestellt werden - obwohl die Wirtschaftszeitung La Tribune am 28. August feststellte: "Rekord-Neueinstellungen bei Polizei und Justiz in zehn Jahren", und zwar im Rückblick auf die Dekade 1990 bis 2000. Während dieser zehn Jahre war die Zahl der Beamten des Innenministeriums um 27.700 und jener des Justizministeriums um 13.400 gestiegen.

Le Pen weist
die Richtung

Die Polizei untersteht in Frankreich dem Innen-, die Gendarmerie aber dem Verteidigungsministerium. Doch beide Korps sollen jetzt, unter den Fittichen Sarkozys, einander angenähert werden. So wurden im Mai dieses Jahres aus Polizei, Gendarmerie und weiteren Exekutivorganen - der Steuerfahndung oder dem Zoll beispielsweise - die "Regionalen Eingreifgruppen" (GIR) geschaffen. Bei der leicht missratenen Großoperation in Nanterre handelt es sich um einen der ersten spektakulären Einsätze dieser neuen Sondereinheiten.

Hinzu kommen soll eine Polizei-Reserve in Zivil, die vor allem aus pensionierten Beamten bestehen soll - seit 1996 und noch bis 2005 gehen die Jahrgänge jener Polizisten in Pension, die nach den Unruhen des Mai 1968 in großer Zahl rekrutiert worden waren. "Anlässlich außergewöhnlicher Ereignisse oder Krisensituationen muss der Staat auf Reservisten zurückgreifen können, wenn die inneren Sicherheitskräfte sich als ungenügend herausstellen", heißt es in dem Gesetz zur Polizeireform, das Innenminister Sarkozy am 10. Juli vorlegte und das Ende Juli im Schnelldurchgang verabschiedet worden ist.

11.000 neue Gefängnisplätze sollen gebaut werden, dafür gibt es jetzt seit Juni ein eigenes Staatssekretariat "für die Immobilienprogramme der Justiz". Auch im Justizwesen sollen mehr als 10.000 neue Stellen entstehen. Und das alles, obwohl allgemein Stellenstreichungen im öffentlichen Dienst anstehen. Deutlicher als die jetzige Regierung könnte man nicht ausdrücken, was Soziologen wie Loic Wacquant und Pierre Bourdieu den "Übergang vom Sozial- zum Strafstaat" genannt haben.

Einer der heiklen Punkte der Anfang August verabschiedeten Justizreform ist die Ausweitung der Kronzeugenregelung. Diese Bestimmung, welche die Rechte der Verteidigung vor Gericht weitgehend aushebelt, war ursprünglich in vielen westlichen Ländern im Bereich der Terrorismus- und Mafiadelikte eingeführt worden. Im Juni 2001 war eine entsprechende Kronzeugenregelung in Frankreich für jene Straftaten, auf die mehr als fünf Jahre Haft stehen, eingeführt worden. Die neue Regierung hat in ihrer Justizreform jetzt die Schwelle auf drei Jahre Haft Strafdrohung abgesenkt - damit sind die Mehrzahl der im französischen Strafgesetzbuch enthaltenen Delikte erfasst.

Dieser weitgehende Eingriff in das Recht auf Verteidigung hat auch innerhalb der liberal-konservativen Rechten erheblichen Widerspruch ausgelöst. "Seit 1789 haben selbst die autoritärsten Regime diesen Schritt nicht gewagt", kritisierte der wirtschaftsliberale Politiker und ehemalige Anwalt Claude Goasguen, Abgeordneter der neuen bürgerlichen Einheitspartei UMP. Dennoch stimmte die Rechte am Ende geschlossen für die Reform.

Geändert werden soll hingegen das "Gesetz zur Stärkung der Unschuldsvermutung", das erst am 25. Juni 2000 einstimmig verabschiedet worden war. Davor war Frankreich mehrfach durch den Europäischen Gerichtshof wegen übermäßiger Länge und Häufigkeit der Untersuchungshaft gerügt worden. Die jetzt beschlossenen Bestimmungen verleihen dem Staatsanwalt neue Vollmachten: Er kann auf dem Wege der Eilklage die Entscheidung des Untersuchungsrichters, eine Freilassung anzuordnen, blockieren.

Reservisten "lösen" soziale Konflikte

Daneben stieß es auf besonders harsche Kritik bei Menschenrechtsorganisationen, Richter- und Anwältegewerkschaften, dass Justizminister Perben 3.300 juges de proximité (etwa: bürgernahe Richter), eine Art Laienrichter auf Teilzeit, ernennen will. Es soll sich um Personen handeln, die zwar - etwa als Anwälte oder Hochschullehrer - Rechtskenntnisse, aber keine besondere Richterausbildung haben. Anders als "echte" Richter sind sie nicht unabhängig, sondern werden von der Staatsanwaltschaft ernannt, die ihrerseits an Weisungen des Justizministers gebunden ist. Diese Laienrichter, gegen deren Entscheidungen keine Berufungs- oder Revisionsinstanz vorgesehen ist, sollen für "kleinere" Rechtsstreitigkeiten im Zivil-, aber auch im Strafrecht, etwa bis zu einer Geldstrafe von 45.000 Euro oder bis zur Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf Zeit, zuständig sein. Und selbst im sensiblen Bereich der Jugendgerichtsbarkeit sollen sie Recht sprechen, womit die klassische Sonderstellung der Jugendrichter ein gutes Stück weit ausgehebelt wird.

Mit der traditionellen, vor allem auf Erziehung ausgerichteten Rolle der Kinder- und Jugendgerichtsbarkeit ist es ohnehin vorbei. Denn zu Perbens Justizreform gehört auch, dass Kinder und Jugendliche künftig bereits ab 13 Jahren eingesperrt werden können: Zunächst sollen sie in geschlossene Erziehungsheime verwiesen werden können, und wenn sie sich dem zu entziehen suchen, dann geht es ab ins Gefängnis. Die Jugend, vor allem die Immigrantenkids aus den Trabantenstädten, haben die Minister Sarkozy und Perben ohnehin erklärtermaßen im Visier. So sollen im Falle der "Beleidigung einer Lehrperson" SchülerInnen künftig bis zu sechs Monaten Haft drohen. Die Lehrergewerkschaften, mit Ausnahme der rechten Minderheitsgewerkschaft SNALC, haben die neue Bestimmung bereits scharf kritisiert.

Auch soll den Eltern straffällig gewordener Jugendlicher die Familienunterstützung (Kindergeld oder Familiensozialhilfe) auf Dauer gesperrt werden können. KritikerInnen monieren, dass dadurch bereits in schweren Krisenprozessen befindliche Familien noch stärker die soziale Treppe hinab gestoßen werden und eine Art familiärer Kollektiv- oder Sippenhaftung eingeführt werde. Im Wahlkampf hatten sich vor allem die beiden rechtsextremen Kandidaten Jean-Marie Le Pen und Bruno Mégret vehement für diese Idee stark gemacht.

Schon im Herbst will Sarkozy neue Delikte schaffen. Diese wurden bereits "symbolisch" im Vorspann zum Gesetz über die Polizeireform aufgelistet. Dieses Verfahren wurde allerdings vom Verfassungsgericht moniert, das eine solche Pseudo-Gesetzgebung im Ankündigungsverfahren nicht durchgehen lassen wollte. Gleichzeitig aber hat das Verfassungsgericht die inhaltlichen Vorgaben der Polizei- und Justizgesetze Ende August passieren lassen.

Zu Sarkozys Katalog gehören u.a. Zwangsmaßnahmen gegen Prostituierte ausländischer Nationalität. Sie sollen systematisch aufgegriffen und des Landes verwiesen werden - obwohl Prostitution in Frankreich seit 1946 gesetzlich toleriert wird. Eine Maßnahme gegen den tatsächlich um sich greifenden Menschenhandel etwa vom Balkan ist das nicht, denn gerade die Opfer werden ja entfernt, anstatt sie vor ihren Bedrängern zu schützen, damit sie in Frankreich als Zeuginnen aussagen könnten. Sinti und Roma soll im Falle "illegalen Campierens" mit der Beschlagnahmung ihrer Fahrzeuge gedroht werden. Und den Banlieue-Jugendlichen wird es verboten, sich im Eingangsbereich von Hochhäusern zu versammeln. Letzteres hatte auch schon die Regierung Jospin in ihrem "Gesetz zur Inneren Sicherheit im Alltag" zur Straftat erhoben.

Die sozialdemokratische Opposition war im Juli und August in ihrer Haltung zu dem repressiven Gesetzespaket gespalten. Die Mehrheit der Partei stimmte zwar für die Mittelerhöhungen zu Gunsten der Polizei, aber gegen die damit verbundenen Orientierungen. Eine einflussreiche Gruppe plädierte dafür, mindestens "konstruktive Enthaltung" zu üben. Denn würde die Sozialistische Partei heute regieren, hätte sie jedenfalls einen Teil der Maßnahmen ihrerseits verabschiedet. Die linke Anwältevereinigung SAF, die beiden wichtigsten Richtergewerkschaften USM und SM oder die Liga für Menschenrechte (LDH) hingegen liefen Sturm gegen die neuen repressiven Normen. Der LDH-Vorsitzende und Anwalt Michel Tubiana sprach von Maßnahmen "des sozialen Krieges", die sich vor allem gegen die Einwandererjugend richteten.

Mit 13 Jahren
ins Gefängnis

In der Gesellschaft allerdings erscheint die harte Gangart bisher eher populär zu sein oder jedenfalls keine artikulierte Opposition hervorzurufen. Der Gewerkschafter Guy Freche, Mitbegründer der linksradikalen Basisgewerkschaft SUD, selbst Banlieue-Bewohner im Pariser Nordosten, beschreibt seine Eindrücke: "Seit dem Regierungswechsel hat eine gewisse Beruhigung der Situation in manchen sozialen Brennpunkten stattgefunden. Mein Hochhaus gehört dazu. Wenn man vor dem Regierungswechsel die Polizei rief, kam sie gar nicht oder Stunden später. Jetzt ist sie in Minutenschnelle da. Und das ist eine bewusste Politik. Ein Kommissar hat es mir gegenüber offen ausgesprochen: Vor dem Regierungswechsel lautete die Devise: Wir rücken nicht aus. Auf diese Weise hat man die Situation bewusst herunterkommen lassen." Die Beruhigung der Bewohner, meint Guy Freche, sei an solchen Orten spürbar.

Die Frage ist nur, wie lange sie anhält. Denn die sozialen Verwerfungen und die Gewalt, welche Rassismus, sozialer Anschluss und die Folgen neoliberaler Politik erzeugen, verlagern sich nur. Unweigerlich werden sie sich, in anderer Form und vielleicht an anderem Ort, erneut bemerkbar machen.

Bernhard Schmid,

Paris