Süchtig nach Arbeit
Arbeitssucht und Arbeitsgesellschaft - zwei Seiten einer Medaille
Tod wegen Überarbeitung - in Japan so häufig, dass es dafür ein eigenes Wort gibt: Karoshi. Wir kennen den "Workoholic", den "Arbeitssüchtigen" (die Analogie zum Alcoholic ist kein Zufall), doch nur selten wird die Arbeitssucht ernsthaft als das diskutiert, was sie ist: eine Sucht. Wolfgang Krischke, Psychologe in Bremen, weist darauf hin, dass Arbeitssucht weder in der medizinischen Fachwelt oder nach den Kategorien der Krankenkassen als eigenständige Sucht erfasst wird. Und das, obwohl sie alle Symptome eines klassischen Suchtverhaltens mit sich bringt.
Krischkes Statement ist in dem von Holger Heide herausgegeben Sammelband "Massenphänomen Arbeitssucht" erschienen. Das Buch präsentiert den Großteil der Referate, die Ende August 2001 während des internationalen Work-Shops "Arbeitssucht in der Arbeitsgesellschaft", organisiert vom Institut für sozialökonomische Handlungsforschung der Universität Bremen, gehalten wurden. Sowohl unter internationaler wie auch unter interdisziplinärer Perspektive nähern sich MedizinerInnen, PsychologInnen, ÖkonomInnen, SozialwissenschaftlerInnen und HistorikerInnen den "historischen Hintergründe(n) und (der) aktuelle(n) Entwicklung einer neuen Volkskrankheit" (Untertitel).
Im ersten Teil wird versucht, die Zusammenhänge zwischen Arbeitssucht und moderner Arbeitsgesellschaft in allgemeiner Form darzustellen. Während Sabine Wolf Arbeitssucht unter dem Geschlechteraspekt beschreibt, gibt Karl Heinz Roth einen kurzen, allgemeinen (und deswegen äußerst oberflächlichen) Überblick über die Entstehung der modernen Arbeitsgesellschaft aus der Perspektive des Wallerstein'schen Weltsystemansatzes.
Der umfangreichste Beitrag in diesem Teil stammt von Holger Heide. Heide bemüht die psychoanalytische Trauma-Forschung, um die Entstehung von Arbeitssucht zu beschreiben. In seiner Sicht ist die Durchsetzung der kapitalistischen Zeit- und Arbeitsdisziplin im 18. Jahrhundert für das Proletariat verbunden mit der Erfahrung einer vernichtenden Niederlage. Die Flucht in die Überidentifikation mit der Arbeit ist danach eine Form, jenes kollektive Trauma zu verarbeiten. Dass die Durchsetzung des modernen Fabriksystems ein unerhört gewaltsamer Akt gewesen ist, ist unstrittig. Doch ob die Ergebnisse der Erforschung individueller Traumata ohne weiteres zur Behauptung eines kollektiven und zu dem noch über Generationen hinweg wirksamen Traumas verlängert werden können, ist mehr als zweifelhaft.
Im zweiten Teil des Buches - gleichzeitig sein konkretester und stärkster Teil - geht es um Arbeitssucht im Zusammenhang mit den neuen Formen einer sogenannten postfordistischen Arbeitsorganisation. Hier knüpft das Buch an die momentanen gewerkschaftlichen Debatten um Selbstständigkeit, Arbeitszeitkontrolle, Vertrauensarbeitszeit, entgrenztes Arbeiten und den "Unternehmer im eigenen Kopf" an. (1) Lothar Peter und Stephan Meins arbeiten die Brüche und Widersprüche in der Entwicklung der neuen Angestelltenarbeit heraus. Sie beschreiben, dass der Übergang von extern disziplinierenden Kontrolltechniken in Betrieben und Büros hin zur selbstbestimmten Unterwerfung in Gestalt des individuellen "Arbeitskraftunternehmers" keine bruchlose Entwicklung ist. In der Betriebsrealität stehen heute meist Formen des alten tayloristischen Kommandos neben Formen der indirekten Kontrolle.
In beiden Aufsätzen wird herausgehoben, dass Arbeitssucht, d.h. die suchtmäßige Entgrenzung der Arbeit, wohl zu einem Massenphänomen geworden ist, jedoch relativ eng an die "autonome" und "selbstbestimmte" anspruchsvolle neue Angestelltenarbeit gebunden ist. In ihren Augen ist Arbeitssucht in erster Linie ein Phänomen des "flexiblen Menschen" und von daher nicht ohne weiteres als gängiges ArbeiterInnenverhalten zu bewerten.
In seinem kurzen Abriss zur selbstständigen Arbeit in Italien beschreibt Sergio Bologna, dass die neue Selbstständigkeit durchaus auch ein Reflex von ArbeiterInnen auf die ökonomischen und politischen Säuberungswellen in den italienischen Großbetrieben ab 1980 war. Teils aus der Not heraus, teils als erklärte Absage an die fordistische Großfabrik waren es zu Beginn durchaus gerade die FabrikaktivistInnen der 60er und 70er Jahre, die den Weg in die Selbstständigkeit gegangen sind. Roderich Wahsner und Sul-Dol Kang mit ihren Untersuchungen zur japanischen bzw. koreanischen Gewerkschaftsbewegung schließen diesen Teil ab.
Im dritten und letzten Teil stehen Umgangsweisen mit dem Phänomen Arbeitssucht im Mittelpunkt. Es geht darum, ob und wie Arbeitssucht als Berufskrankheit geltend gemacht werden kann (Oliver Tieste) sowie um die Erfahrungen mit der Arbeitszeitinitiative "Arbeit ohne Ende? - meine Zeit ist mein Leben" der IG Metall (Peter Stutz). Elvira Behnken beschäftigt sich mit Arbeitssuchtprävention am Arbeitsplatz und Claus Oellerking mit Selbsthilfegruppen für Arbeitssucht.
In einer gesellschaftlichen Situation, wo Arbeit ins Unterträgliche ideologisch aufgewertet ist und wo gleichzeitig immer härter und intensiver gearbeitet wird, ist es bitter notwendig, darauf hinzuweisen, dass Arbeit krank macht. Insofern ist die Beschäftigung mit Arbeitssucht überfällig. Der kleine Bremer Atlantik-Verlag, bisher eher bekannt für linke Literatur aus und zu den USA, hat mit "Massenphänomen Arbeitssucht" eine Pionierarbeit vollbracht. Wie alle Pionierarbeiten ist dieses Buch nicht ohne Schwächen. Das betrifft in erster Linie einige Beiträge. Doch auch die Gesamtkonzeption muss sich einige Fragen gefallen lassen. So spannend der Versuch einer interdisziplinären Gesamtschau auch ist, so besteht doch auch die Gefahr eines eher beliebigen Nebeneinanders. Dennoch ist die Mehrdimensionalität das besonders Spannende an diesem Buch. "Massenphänomen Arbeitssucht" enthält eine Menge äußerst lesenswerter Beiträge und ist ein wichtiger erster Schritt, das Thema Arbeitssucht auch für Linke diskutierbar zu machen.
dk
Holger Heide (Hg.): "Massenphänomen Arbeitssucht. Historische Hintergründe und aktuelle Entwicklung einer neuen Volkskrankheit", Atlantik Verlag Bremen 2002, 15 EUR
Anmerkung:
1) vgl. Klaus Pickshaus u.a. (Hg.): "Arbeiten ohne Ende. Neue Arbeitsverhältnisse und gewerkschaftliche Arbeitspolitik", Hamburg 2001