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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 465 / 20.9.2002

Erziehung im Käfig

Hamburg führt Freiheitsentzug für Minderjährige als pädagogische Maßnahme ein

"Auf kriminelles Verhalten von Minderjährigen wird in Hamburg künftig zügig, konsequent und mit der gebotenen Härte reagiert." So beginnt eine Pressemitteilung der Hamburger Behörde für Soziales und Familie (BSF) vom 2. Juli 2002. (1) Die Behörde kündigt damit den lange erwarteten Paradigmenwechsel in der Kinder- und Jugendhilfe an - die Wiedereinführung der geschlossenen Heimunterbringung für Kinder und Jugendliche.

Geschlossene Heime, das ist ein anderes Wort für pädagogisch verbrämten Freiheitsentzug für Kinder und Jugendliche: Herausnahme aus familiären und sonstigen gewohnten sozialen Bezügen, Zwangsunterbringung in kasernen- und knastartigen Verwahranstalten mit vergitterten Fenstern und Stahltüren. Streng reglementierter Alltag mit "Rund-um-Betreuung" sprich Überwachung, ausgeklügelte Systeme von Belohnung und Strafe. "Bambule" - der Film und das Buch von Ulrike Meinhof beschreiben in nach wie vor gültiger Weise die "Erziehung im Käfig" - für ein "Leben im Käfig".

Nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) von 1990 können Kinder und Jugendliche in seltenen Ausnahmefällen und nur für kurze Zeit bei Sorge um das "Kindeswohl" "in Obhut genommen" werden. Ein Freiheitsentzug als pädagogische Maßnahe oder gar "zum Schutz der Gesellschaft" wird im KJHG kategorisch ausgeschlossen. Insofern findet in diesem Gesetz auch eine langjährige Reformdiskussion über die Gestaltung der Kinder- und Jugendhilfe ihren (vorläufigen) Abschluss. In Hamburg waren schon 1981 im Zuge der Heimreform 20 "Amtsheime" abgeschafft worden.

Die jetzt geplante Wiedereinführung der geschlossenen Unterbringung dreht alle Entwicklungen und Diskussionen in der Kinder- und Jugendhilfe zurück. Der Primat von Law and Order, der die gesamte Sozialpolitik des neuen Rechtssenats in Hamburg durchzieht, kommt in diesen Plänen auf den Punkt: Die Orientierungen an Hilfe, unterstützender Betreuung, solidarischer Parteinahme und Integration wird in der Kinder- und Jugendhilfe wie auch in anderen Bereichen ersetzt durch den Gedanken der Stigmatisierung, der Strafe und der Kriminalprävention.

Die Wiedereinführung der geschlossenen Heime erfolgt nicht aus dem Nichts. Sie ist das Ergebnis einer langen, medial enorm aufgeheizten Debatte um "Jugendkriminalität" und "unfähige SozialarbeiterInnen" mit "nichts als pädagogischen Erlebnisreisen im Kopf ". Anfang der 90er Jahre machten in Hamburg die "Crash-Kids" vom Hauptbahnhof Medien-Furore, minderjährige AutoknackerInnen, die bei ihren haarsträubenden Spritztouren sich und andere in höchstem Maße gefährdeten. Bereits damals gab es den Ruf nach der harten Hand. Doch im Unterschied zu heute reagierte die Politik mit integrativen, niedrigschwelligen sozialpädagogischen Maßnahmen.

Feindbild Jugendliche

"Kriminelle Jugendliche" wurden fortan immer wieder in die Schlagzeilen gehievt: Graffiti-SprayerInnen, "Türken-Gangs", Abziehereien unter Jugendlichen, Gewalt an den Schulen etc. Als 1998 Jugendliche aus einer offenen Jugendwohnung einen Geschäftsmann überfallen und umgebracht hatten, forderte die CDU das erste Mal wieder die Rückkehr zu geschlossenen Heimen. Bei ihrem jetzigen Koalitionspartnern von der Schill-Partei stieß sie dabei auf mehr als offene Ohren. Neben der "Ausländerkriminalität" waren die "kriminellen Jugendlichen", die angeblich ganze Stadtteile terrorisierten, das bevorzugte Hassobjekt im Wahlkampf der Rechtspopulisten. "Strafunwillige Jugendrichter" und "verblendete 68er-Reformpädagogen" bekamen dabei gleich mit ihr Fett ab.

Mit der geschlossenen Unterbringung setzt der neue Senat eines seiner zentralen Wahlversprechen um. Einen Monat nach der offiziellen Ankündigung gelangte ein erstes Behördenkonzept an die Öffentlichkeit. Danach sollen insgesamt 90 Plätze in der geschlossenen Unterbringung eingerichtet werden. (Im Bundesgebiet insgesamt gibt es z.Z. ca. 130 Plätze, die aber in aller Regel nicht genutzt werden.) 50 Plätze für Jugendliche über 14 Jahren, 25 Plätze für Kinder unter 14 Jahren und noch einmal 15 Plätze für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge. Für sie wird ein regelrechtes Abschiebelager konzipiert. Mit 220 - 250 EUR pro Tag und Platz sind die Betriebskosten der geschlossenen Unterbringung extrem hoch. Das Geld soll - ebenso wie die notwendigen Investitionsmittel - aus dem Etat der Hilfen zur Erziehung kommen, also aus den Mitteln, auf die Kinder und Jugendliche nach dem KJHG einen einklagbaren Rechtsanspruch haben und aus dem Familienhilfe, Jugendwohnungen und ambulante Betreuungsmaßnahmen finanziert werden.

Explizit geht es dem Senat um "befristet freiheitsentziehende Maßnahmen". Ein Jahr lang sollen Jugendliche weggesperrt werden, Kinder "bei Bedarf" auch länger. In der ersten Phase der geschlossenen Unterbringung existieren "strikt geschlossene Aufnahmegruppen". Es gibt keinerlei unbegleiteten Ausgang, und jede Bewegung auf dem Heimgelände geschieht unter Aufsicht. Nur durch Wohlverhalten können in den Stufen 2 und 3 persönliche Freiheiten erworben werden. Immer droht die "Rückversetzung" in Phase 1 als Sanktionsinstrument. Die Einrichtungen sollen "fluchtsicher" hergerichtet werden. Gesicherte Fenster und Türen gehören genauso selbstverständlich dazu wie eine deutlich "grenzsetzende Betreuung", "verbindliche Regeln und konsequente Reaktion bei Zuwiderhandeln", "strukturierter Tagesablauf" und "Übernahme von Pflichten in der Einrichtung". Außerdem, so heißt es in den Erläuterungen zum Senatskonzept, "kommt den sportlichen Aktivitäten eine besondere Bedeutung zu"; Law-and-Order-Pädagogik mit Turnvater Jahn.

Zur Schlüsselinstitution werden die neu geschaffenen sogenannten "Familieninterventionsteams" (FIT). Sie werden aus MitarbeiterInnen des Jugendamtes und der Polizei gebildet und operieren im gesamten Stadtgebiet als zentrale "Task Force" . Damit wird die Polizei zum direkten Akteur in der Kinder- und Jugendhilfe gemacht, ein Novum, das jeder Fachdiskussion widerspricht. Bei den FIT-Teams sollen alle Informationen, die in der Schule, bei der Polizei oder bei den bezirklichen Sozialdienststellen über den/die Jugendliche(n) vorliegen, gebündelt werden. Diese "schnelle Eingreiftruppe" (Stellungnahme der Sozialpolitischen Opposition) sucht die Familien "auffälliger" Kinder und Jugendlicher "unverzüglich (d.h. innerhalb von fünf Werktagen nach der Meldung durch die Polizei" (Senatskonzept) auf und soll mit ihnen verbindliche Maßnahmekataloge besprechen. Dabei kontrolliert das FIT auch, ob Eltern sich an Absprachen halten und ob sie die Maßnahmen aktiv unterstützen. Es ist ein erklärtes Prinzip des Senatskonzeptes, "die Eltern verstärkt in die Pflicht zu nehmen". Sollten sich die Eltern "nicht kooperativ" verhalten (was immer das sein mag), können und sollen die FIT-Teams selbstständig und unverzüglich die Einweisung in die geschlossene Unterbringung beantragen. Sie sollen dabei auf den Entzug des Sorgerechts und die Bestellung eines Zwangsvormundes hinwirken.

Kinderknast und "schnelle Eingreiftruppe"

Ursprünglich war die Einführung der geschlossenen Unterbringung für den 1. Oktober geplant. Inzwischen ist der 1. Dezember als Startschuss für die neuen Kinderknäste bekannt gegeben worden. Außerdem soll das Programm mit zunächst 25 Plätzen anlaufen. Hinter diesen Verzögerungen stehen weniger inhaltliche Kontroversen, sondern eher ökonomische und organisatorische Überlegungen. Gegenüber dem Landesjugendhilfeausschuss drückte es ein Behördenvertreter so aus: "Es geht nicht darum, ob die geschlossene Unterbringung eingeführt wird, sondern nur noch darum, wie sie eingeführt wird."

Die Wiedereinführung der geschlossenen Unterbringung stößt auf die einhellige Kritik der Fachöffentlichkeit aus Wissenschaft, Einrichtungen und Trägern. Weder fachlich noch juristisch seien die Senatspläne akzeptabel. Der beabsichtigte Eingriff in das elterliche Sorgerecht ist rechtlich genauso umstritten wie die lange Dauer des Freiheitsentzuges. Immer wieder wird auch die faktische Instrumentalisierung der Kinder- und Jugendhilfe als Mittel der Jugendstrafjustiz kritisch hervorgehoben. Inzwischen haben über 50 Einrichtungen eine Stellungnahme unterschrieben, die auch als Anzeige veröffentlicht worden ist.

Doch auf der Ebene der parlamentarischen Politik hat die geballte Fachkritik bisher keine nennenswerten Spuren hinterlassen. Der Senat ist entschlossen, den (vermeintlichen) Volkswillen zu exekutieren. Ihn interessiert die Position von "SozialpädagogInnen mit falsch verstandenem Liberalismus" nicht. Für die oppositionelle Sozialdemokratie verkündet deren jugendpolitischer Sprecher Thomas Böwer, mit der SPD könne man jederzeit vernünftig über geschlossene Unterbringung reden. Nur die geplanten 90 Plätze seien maßlos und übertrieben. Dies ist bereits seit längerem Mehrheitsmeinung in der SPD. Schließlich hatte auch der rot-grüne Senat für "jugendliche Intensivtäter" Maßnahmen der "Intensivbetreuung" entworfen. Die Grünen lehnen die geschlossene Unterbringung zwar ab, aber hauptsächlich deswegen, weil sie zu teuer ist. Ansonsten gehen auch sie davon aus, dass es Kinder und Jugendliche gibt, "vor denen man die Gesellschaft schützen muss." Dafür suchen die Grünen "intelligente Lösungen".

Emanzipatorische und fortschrittliche Positionen in der Kinder- und Jugendhilfepolitik wie in der Sozialpolitik allgemein sind gesellschaftlich inzwischen marginalisiert. Der Zusammenhang von Disziplin, Pflicht und Law-and-Order ist nicht nur in der Kinder- und Jugendhilfe die neue ideologische Leitlinie. Eine Orientierung, die ganz den sozialen Normalitätsfantasien des neuen Senats entspricht. (2) Dass dabei meilenweit an den konkreten Fakten vorbei agiert wird, spielt überhaupt keine Rolle. Die Diskussion um "Jugendkriminalität" hat eigentlich klar gemacht, wie uneindeutig, widersprüchlich und diffus die einschlägigen Statistiken sind. Einer Politik, der es in erster Linie auf die Symbolik der (sozialen) Normalität ankommt, ist es jedoch egal, ob sie mit Kanonen auf Spatzen schießt. Ihr ist auch egal, wie viel Leiden und Gewalterfahrungen sich hinter der "Auffälligkeit" von Kindern und Jugendlichen verbergen, ganz zu schweigen von der gesellschaftlich akzeptierten Gewalt und Erniedrigung, die ihnen tagtäglich vorgelebt wird.

Die Opposition gegen die geschlossene Unterbringung erfordert den Entwurf einer anderen sozialen Fantasie. Doch heute sollen genau die Träger, die früher für fortschrittliche Ansätze in der Sozialpolitik gestanden haben, die Maßnahmen der Reaktion umsetzen. (3) Ansonsten drohen Kürzungen, Schließungen und Entlassungen. Sich in einer solchen Situation zu widersetzen, ist angesichts der existenziellen Auswirkungen sicher nicht einfach. Allerdings gibt es keine wirkliche Alternative, wenn nicht massenhaft gebrochene und unglaubwürdig gewordene Personen produziert werden sollen. Es gibt heute keine Möglichkeit "mitzumachen", ohne das Gesicht zu verlieren.

Hilflose Fachöffentlichkeit

Innerhalb von drei Wochen haben bisher ca. 500 Einzelpersonen die Erklärung "Geschlossene Heime? Wir sagen NEIN!" unterschrieben. Im Landesbetrieb Erziehung und Berufsbildung, in dessen Regie die geschlossene Unterbringung zunächst umgesetzt werden soll, bereitet der Personalrat kollektive Versetzungsanträge vor, an anderen Stellen wird über Streik- und Boykottmaßnahmen diskutiert. Allerdings: Einrichtungen, in denen kollektiv, auf Betriebsversammlungen o.Ä., über den sozialpolitischen Angriff und eine gemeinsame Umgehensweise diskutiert wird, sind bisher die Ausnahmen.

dk

Anmerkungen:

1) Die offiziellen Verlautbarungen und Konzepte des Senats wie auch Stellungnahmen und Aktivitäten gegen die geschlossene Unterbringung finden sich auf der sozialpolitischen Website www.lichter-der-grossstadt.de

2) Vgl. Gruppe Blauer Montag: "Revolution der Kleinbürger", in ak 464

3) Wolfgang Lerche, Geschäftsführer des Landesbetriebs Erziehung und Berufsbildung, hat noch 1995 entschieden gegen die geschlossene Unterbringung Position bezogen. Heute soll und will er sie umsetzen.