Zwischen Hippie und Pipi
Die Entstehung der Festivalkultur in Deutschland
Was bringt Menschen dazu, ein oder mehrere Wochenenden im Sommer stundenlang im Auto zu sitzen, für Eintrittskarten bis zu 150 Euro hinzulegen, um dann zu überhöhten Preisen schlecht gezapftes Bier zu trinken oder auf das selbstmitgebrachte, mittlerweile lauwarme Bier aus der Dose zurückzugreifen? Höhepunkt ist dann der Blick auf die Bühne aus einer Entfernung, aus der die AkteurInnen kaum mehr zu erkennen sind. Ein zweifelhafter Genuss ist es, ein Wochenende entweder im Matsch oder in der prallen Sonne Schlange stehend vor stinkenden Dixi-Klos zuzubringen. Gründe, sich von einer derartigen Veranstaltung fern zu halten, gibt es genug. Trotzdem sind es jeden Sommer mehr als eine Millionen BesucherInnen, die Pop- und Rockfestivals allein in Deutschland anlocken.
Der Umsatz, der auf diesen Veranstaltungen gemacht wird, ist noch schwerer zu berechnen als die genaue BesucherInnenzahl. Dabei machen die Eintrittspreise nur einen Bruchteil des Gesamtumsatzes aus. Die Palette der Angebote reicht vom Merchandise der auftretenden Bands über Fressstände bis hin zu Schmuck- und Didgeridooständen, die einem eine Hippieherrlichkeit vorgaukeln, als wäre Woodstock gerade im Vorjahr über die Bühne gegangen.
Selbstverständlich geht es den meisten der Angereisten um die Musik oder um IHRE Band. Dabei ist die Mischung aus Kultur und Kommerz für die einen eine Selbstverständlichkeit, für die anderen eine Gratwanderung. Das gilt sicher auch für Konzerte, die in einer Halle als Abendveranstaltung stattfinden. Auf dem Festival, beim Campen, beim Feiern kommt noch ein anderes Element hinzu, das sicherlich einen seiner Ursprünge in der Wandervogelromantik "aus grauer Städte Mauern" hat, obwohl so ein Wochenende oft eher eine Persiflage auf eine solche Romantik ist.
Woodstock ist das Walddeck der USA
Um den Erfolg und die Entstehung der Festivals verstehen zu können, führt in Deutschland der Weg zur Burg Waldeck nach Rheinland-Pfalz. Diese Burg war schon in den zwanziger Jahren von der Jugendbewegung entdeckt worden; vor allem der Nerother Wandervogel hatte sich dort dem Aufbau einer Jugendburg verschrieben. Ein großer Teil der Jugendbewegten, denen die Burg eine zweite Heimat geworden war, flüchtete vor den NationalsozialistInnen ins Ausland. Robert Oelbermann, eine der Hauptfiguren auf der Waldeck in den zwanziger Jahren, wurde 1941 im KZ Dachau ermordet. Den Überlebenden war nach 1945 klar, dass sie nicht an der Idee einer Jugendburg weiterarbeiten konnten. Die neue Kultur baute zwar auf der Tradition auf, entwickelte sie aber entschieden weiter. Das überlieferte Liedgut wurde kritisch hinterfragt; neue Einflüsse aus der amerikanischen StudentInnen-, Folk- und Bürgerrechtsbewegung flossen ein. Daneben standen verschüttete oder diskriminierte deutsche Traditionen im Mittelpunkt: die jiddische Kulturwelt mit den Liedern der vernichteten Ostjuden und -jüdinnen, die Lieder der deutschen DemokratInnen aus der gescheiterten Revolution von 1848, die Lieder der LandstreicherInnen, BerberInnen und Fahrenden.
1964 fand zum ersten Mal das Waldeck Festival Chanson Folklore International statt. Obwohl das Festival 1969 bereits das letzte Mal stattfand, war damit der Startschuss zu einer Festivalkultur in Deutschland gegeben. Wenn wir heute die Line up der Waldeck Festivals mit Degenhardt, Mey und Wader vor dem Hintergrund ihrer antikapitalistischen Attitüde betrachten, fällt es vielleicht schwer, darin den Ursprung eines mit Reklame zugepflasterten "Rock am Ring" zu erkennen. Für den Erfolg der Festivals war es zunächst wichtig, dass die "Exis", die Jugendlichen aus gutbürgerlichem Hause, die sich den französischen ExistenzialistInnen Jean-Paul Sartre, Albert Camus etc. verschrieben hatten, mit den "Halbstarken" proletarischen Jugendlichen zusammenkommen.
Um dieser Fusion auf die Spur zu kommen, müssen wir uns in das Jahr 1965 auf das Newport Folk Festival begeben. Am 25. Juli 1965, drei Monate nachdem die ersten US-Bodentruppen in Vietnam gelandet waren und zwei Wochen bevor US-Präsident Johnson die Kriegsdienstverweigerung unter Strafe stellte, stöpselte Bob Dylan seine Gitarre - ausgerechnet auf dem größten und renommiertesten Folk Festival der USA - in einen elektrischen Verstärker ein und erntete Pfiffe. Der Folk-Sänger Pete Seeger soll nicht mehr als ein verächtliches "Verräter" für ihn übrig gehabt haben. Schon damals war der Vorwurf, die Rock-MusikerInnen seien verroht, korrupt und Kapitalistenknechte. Für die "Halbstarken"-RockfreundInnen galt die Folkszene, nicht nur in den USA, als naiv und rückwärts gewandt. Doch Bands wie Buffalo Springfield (mit Neil Young und Stephen Stills), Lovin' Spoonfull oder die Byrds machten sich etwa zeitgleich auf den wohl ersten Cross over-Weg der populären Musikstile. Für die Anbindung an die Antikriegsbewegung sorgten MusikerInnen wie Country Joe McDonald and the fish (fish im übrigen nach dem Mao-Spruch, dass ein Revolutionär im Volke schwimmen müsse wie ein Fisch im Wasser), der die Verbindung zum "free speech movement" in Kalifornien herstellte. Diese Überwindung fest gefügter Stilgrenzen war sicher ein Ausdruck der beginnenden Auflösung einfacher Zuordnung von sozialen Schichten zu bestimmten Jugendszenen.
Die eigentliche Mutter der heutigen Festivals war dann allerdings das Monterey Pop Festival 1967. Veranstaltet vom The Mamas and the Papas-Mitglied John Phillips spielten dort in Kalifornien vor etwa 50.000 ZuhörerInnen Jimi Hendrix, Otis Redding, The Who, Ravi Shankar, Janis Joplin, Blood, Sweat & Tears, Jefferson Airplane, The Byrds und viele andere. Das Festival erbrachte einen Profit von 430.000 US-Dollar und regte den CBS-Direktor Clive Davis an, die Programmpolitik seiner Firma auf Rock umzustellen.
Woodstock war bis 1969 so etwas wie die Burg Waldeck der USA. Schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts hatte dieser Ort KünstlerInnen angezogen, die sich dort austauschten, zum Teil dort lebten, wie in den Sechzigern zum Beispiel Bob Dylan und Joan Baez. Auch Folk Festivals fanden dort schon eine ganze Weile statt. Während auf der Waldeck 1969 dass letzte Festival ganz im alten Stil über die Bühne ging, organisierten Michael Lang und Artie Kornfeld 500.000 US-Dollar als Grundstock zu dem wohl berühmtesten aller Festivals. Nur Bob Dylan spielte nicht, obwohl die 400.000 BesucherInnen dies erwartet hatten - nicht umsonst war Woodstock als "Dylan County" bekannt. Er hatte - so das Gerücht - einen Exklusivvertrag mit den VeranstalterInnen vom Isle of Wight Festival, wo er vierzehn Tage später zum ersten Mal nach seinem 66er Motorradunfall öffentlich auftrat.
Bob Dylan "verrät" den Folk
Woodstock ist ein Mythos, weil gerade das passierte, was die Eventkultur ausmacht: Kommerz und Revolte, Konsum und Subkultur konnten gleichzeitig scheinbar widerspruchslos - zumindest für ein verlängertes Wochenende - miteinander auskommen. "Es gibt nichts Richtiges im Falschen" wurde für tot erklärt, und es hat schon etwas Symbolisches, dass der Verfasser dieser Feststellung, Theodor W. Adorno, fünf Tage vor dem Beginn des Festivals in der Schweiz verstorben war.
Country Joe Mc Donald schrie in Woodstock sein "I-Feel-Like-I'm-Fixin'-To-Die" heraus, das nicht nur das bis heute so beliebte "Fuck" in der Pop-Musik hoffähig machte, sondern er schuf mit diesem Lied eine Hymne, die Pazifismus und Festivals in den Augen und Ohren vieler zum Synonym werden ließ. Gleichzeitig war er derjenige, der festivalerfahren mit dem Wohnmobil angereist war und dort im Kühlschrank die Bänder, aus denen später der Woodstock-Film werden sollte, für die Rowdys aufbewahrte, die diese erst herausrückten, nachdem sie ihren Lohn bekommen hatten, den ihnen die Festivalleitung nicht auszahlen wollte. Organisationspannen und miserable Hygiene sind bis heute wegweisend für einige Festivals. So gibt es im Web eine Seite, wo Bizarre-Nie-Wieder! gefordert wird (www.noize.cc). Abzocke, mangelnde Hygiene, stundenlange Wartezeiten, brutale Security waren aber schon seit Woodstock die Reizworte. Dennoch war klar, dass die Festivals weitergingen. Warner Brothers haben bis heute nicht weniger als 35 Millionen US-Dollar an den Woodstock-Rechten verdient. Eine ganze Dienstleistungsbranche von PA-Verleihern bis Security-Firmen leben zu einem guten Teil von Festivals.
Es gibt aber auch Vorteile, die Festivals gegenüber Konzerten haben. Man kann Bands entdecken, die man sonst nicht kennen lernen würde, oder es besteht die Möglichkeit, verschiedene Bands zu sehen, bei denen der Eintrittspreis für das Konzert einer Band schon fast so hoch ist wie für das ganze Festival. Und es bleibt doch weiterhin ein Hauch von Ausbruch. Ich habe einen Zwanzigjährigen vor Augen, der auf dem Umsonst und Draußen in Vlotho mitten in der Nacht (völlig dicht) auf einem Audi A6 herumtanzt, wobei seine Freude ihn davon abzuhalten versuchen. Morgens dann das heulende Elend: Der Wagen gehörte Vati, und mit den eingebeulten Blech musste er sich schon einiges einfallen lassen. Vielleicht sind diese Umsonst und Draußen Festivals aber auch noch die kreativsten und authentischsten Festivals. So waren es z.B. die OrganisatorInnen von Umsonst und Draußen in Stemmwede, die die Idee hatten jedem und jedem/r AutofahrerIn Müllsäcke (für getrennten Abfall versteht sich) gegen Geld aufzudrücken, das Geld wurde bei Abgabe des vollen Müllsacks zurückgegeben.
Die Umsonst und Draußen Festivals, die sich mittlerweile auch bundesweit vernetzen, haben zum großen Teil einen Hauch der Folkfestivals bewahrt. Das gilt natürlich kaum mehr für so Riesenevents wie Rheinkultur, das in diesem Jahr wieder 200.000 Leute anlockte. Obwohl auch dort kein kommerzieller Veranstalter, sondern eine MusikerInnen-Initiative mit ca. 500 Mitgliedern dahinter steht. Trotz der SponsorInnen von Coca Cola bis Drum hat das mehr mit Selbstausbeutung als mit Antikapitalismus zu tun.
Burn Dixi-Klo, Burn!
Auch in Stemmwede, wo das Umsonst und Draußen Festival dieses Jahr zum 26. Mal stattfand, ist es einigen BesucherInnen zu kommerziell geworden. Doch könnte dieses Festival nicht stattfinden, wenn nicht ca. 200 Leute ehrenamtlich drei Tage oder mehr malochen. 20.000 ZuschauerInnen waren auf dem Festival, das ohne Absperrung vor der Bühne auskommt, auf dem immer wieder Bands spielen, die ein Jahr später auf MTV zu sehen sind und auf dem die Security nicht wie eine Mischung aus Oliver Kahn und Moses Pelham daherkommt.
Bemerkenswert ist auch der auf diesen Festivals zur Schau getragene Antifaschismus und Antirassismus, der die Oberhoheit über die T-Shirt-Aufdrucke mit Che Guevara teilen muss. Bei BesucherInnenzahlen, die in die Zehntausende gehen, ist allerdings bei den VeranstalterInnen das Konzept Gegenkultur häufig dem Konzept "alternatives Schützenfest" gewichen. Bezeichnenderweise findet Umsonst und Draußen Stemmwede auf einem Schützenplatz statt.
Doch jedes dieser Umsonst und Draußen Festivals unterscheidet sich noch von den rein kommerziellen, wie zum Beispiel Bizarre Festival (ein Drei-Tage-Ticket kostete in diesem Jahr 89,50 Euro). Auf dem Bizarre richtet sich der "romantisierende" Blick und die Rebellion nun gegen die VeranstalterInnen: Zum zweiten Mal brannte dort am Sonntag nach dem Konzert ein großes Feuer, bei dem z.B. die verhassten Klos mit dran glauben mussten. Der Veranstalter, die Concert Cooperation Bonn, einer der größten Veranstalter in Deutschland, heult und wehklagt wegen dieser RandaliererInnen, und die durch Werbung gesponserte Musikzeitschrift Intro machte auf ihrer Webseite eine Umfrage: "Was kann man gegen Randalierer auf Festivals tun?"
Die Widersprüche zwischen Kommerz und Kultur, zwischen Gewinn und Revolte, zwischen einem gesitteten Fest und Ausbruch werden zwischen den Festivals deutlich. Doch werden sie sie nicht als Widerspruch erfahren. Die unzähligen brasilianischen Fahnen, die mich in diesem Jahr auf den Festivals erfreut haben, können nicht über die Deutschlandfahnen beim Rock am Ring und auf dem Bizarre Festival hinwegtäuschen. Die AntiRa -Parolen, die sich selbst Tabakfirmen zu eigen machen, werden unglaubwürdig, wenn die wenigen Nicht-Deutschen hauptsächlich hinter den Verkaufsständen arbeiten. Der Sexismus, der mal unterschwellig, mal offen daherkommt, scheint in der Regel unwidersprochen dazuzugehören, auch wenn er auf der Bühne thematisiert wird.
Die Differenzierung wird notwendigerweise weitergehen. Festivals wie das Umsonst und Draußen in Vlotho, wo die Mehrheit der Festivalteilnehmerinnen am Samstag zur Demo gegen das rechtsradikale Collegium Humanum mit auf die Straße gehen, oder das Robodock 5, das vom 19. - 21.9. in Amsterdam auf einem besetzten Gelände stattfindet, sind ein Weg. Dabei geht es nicht darum, Richtiges im Falschen zu entdecken, sondern Elemente zu stärken, die der Macht der Unterordnung unter den Verwertungszwang etwas entgegensetzen und die kulturelle Räume wieder zur Antizipation gesellschaftlicher Entwicklungen werden lassen. Festivals insbesondere mit dem Konzept Umsonst und Draußen sind da ein Ansatz. Jedoch ist es notwendig, die Widersprüche deutlicher zu machen, genauso, wie es notwendig ist, das romantische Erbe immer wieder von braunen Einflüssen zu befreien.
DJ Tommy