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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 465 / 20.9.2002

Narrenfreiheit ohne Grenzen

Strasbourger Noborder-Camp: kommunikationsunfähig nach allen Seiten

Zelten kann manchmal zu einer nurmehr mit einem Höchstmaß an Sarkasmus zu ertragenden Qual werden. Neun Uhr morgens, erstes Barrio-Treffen. Auf der Tagesordnung stehen illegaler Bierverkauf, selbst gemachte Marmelade und die Verfeuerung von frischem Astwerk. Frühestens zwei Stunden später, dieselben Diskussionen im Inter-Barrio, angereichert um nicht weniger substanzielle Auseinandersetzungen wie gemeinsamen Barrikadenbau und hintersinnige Leergutsammelstellen.

Sobald die Ergebnisse der vermeintlich radikal-demokratischen Willensbildung dann noch ausgiebig im größeren oder kleineren Gruppenzusammenhang ventiliert worden sind, ist der frühe Nachmittag bereits angebrochen. Höchste Zeit also für Aktionen: Im Tross von ein paar Hundert eventuell sogar Gleichgesinnten wird die Innenstadt von Strasbourg unsicher gemacht. Das heißt ebenso unvorsichtiges wie wahlloses Demolieren von allem, was die symbolische Hauptstadt Europas als Wahrzeichen ihrer politischen Bedeutungslosigkeit übrig hat: Fahnen, Flaggen, Denkmäler - ganz zu schweigen von der derzeit meistgehassten Ausgeburt von Überwachungsstaat und sozialer Kontrolle: Videokameras.

Niemand kann oder will sagen warum, schließlich hält der Drang zur belanglosen Sachbeschädigung auch nur solange vor, wie es die Polizei erlaubt. Als die Ordnungshüter zur Wochenmitte ihre lasziv zur Schau gestellte Zurückhaltung aufgeben, ist recht rasch Schluss mit lustig: Immer noch wagemutige AktivistInnen, die sich trotz Demonstrationsverbot zu schüchternen Straßentheateraktionen oder kecken Trommelkonzerten in die Strasbourger Innenstadt vorwagen, werden in den Gefangenentransportern der Riot-Polizei CRS vor die demütigende Alternative gestellt: Ab in den Knast oder heim ins Camp?

Die Abgründe, die sich in den zehn Tagen des ersten europaweiten Grenzcamps vom 19. bis 28. Juli in Strasbourg aufgetan haben, lassen tief blicken. Wie nur konnte es nach den Erfahrungen von über einem Dutzend Noborder-Camps an aller Herren Ländergrenzen zu einer derartigen Blamage in taktischer und strategischer Hinsicht, in fast allen politischen und inhaltlichen Belangen kommen.

In gewisser Hinsicht war das Noborder-Camp in Strasbourg natürlich ein unbestreitbarer Erfolg: Wie immer bei solchen Gelegenheiten kam es zu einer Unmenge an interessanten Begegnungen, wertvollem Austausch und teilweise auch spannenden Debatten. Doch es gibt noch mehr: Die Erfahrungen der zehn Tage im Zelt offenbarten eine Symptomatik der Bewegungsunfähigkeit, die bei einem auch nur halbwegs gelungenen Ablauf zwischen zwanglosem Kennenlernen, der heutzutage üblichen Netzwerkeuphorie, gewürzt mit pfiffigem Aktionismus und abschließendem Schulterklopfen sicherlich verschütt gegangen wären.

Blamabel in vielerlei Hinsicht

Mit dem Noborder-Camp in Strasbourg war vielfach die Hoffnung verbunden, nach den guten Erfahrungen mit den Camps an verschiedenen europäischen Außengrenzen im Sommer 2001 nun den qualitativen Sprung zu einer gemeinsamen europäischen Praxis zu schaffen, die es mit einem europaweit mehr und mehr vereinheitlichten Grenzregime nicht nur inhaltlich aufnehmen kann, sondern dieses gemeinsame und aus unterschiedlichen Herangehensweisen gespeiste Selbstbewusstsein auch dadurch unter Beweis stellt, dass mit dem Schengen Informationssystem (SIS) nichts weniger als eines der wichtigsten Instrumente europäischer Migrationspolitik ins Visier genommen wird.

Dass dieser Anspruch auf der Strecke blieb, ist die sicherlich größte Chance, die im Verlauf des Camps und wohl schon seiner Vorbereitungen vergeben wurde. Anstatt die Mannigfaltigkeit und Verschiedenartigkeit der angereisten TeilnehmerInnen wenigstens zur Kenntnis zu nehmen, wurde das gesamte politische Potenzial der heterogenen Zusammensetzung auf dem Altar eines scheinheilig herbeigebeteten Massenkonsenses geopfert. Es kam, wie es kommen musste: In Ermangelung inhaltlicher Gemeinsamkeiten zwischen aktueller Antisemitismus- und obligatorischer Sexismus-Debatte, speziellen Essgewohnheiten und straßenmilitanten Vorlieben wird ein solcher Konsens dann allenfalls noch über die Beschreibung oder Beschwörung der gegnerischen Repressionsmaschine erreicht.

Die Tragödie von Strasbourg bestand in einer auch auf den zweiten Blick hin erschütternden Unfähigkeit zur Kommunikation. Dabei hätte ausgerechnet das europaweite Camp mit seiner breiten Zusammensetzung die Gelegenheit geboten, Rituale selbst gewählter Handlungsunfähigkeit und als Basisdemokratie mühsam verbrämte Entscheidungsunfähigkeit nicht länger als unveränderbare Konstante politischen Aktivismus hinzunehmen, sondern in viele verschiedene, sich aber aufeinander beziehende Potenziale aufzulösen.

Wenn unter dem aktuellen Schlüsselbegriff "Multitude" mehr verstanden wird als die Menge der Anwesenden in einer sich einfach aufsummierenden Bewegung ansonsten wirrer oder hilfloser Gestikulationen, dann besteht die eigentliche Herausforderung wohl darin, die unterschiedlichen Strömungen möglichst sinnvoll und effektiv zueinander in Beziehung zu setzen. Dass diese Auseinandersetzungen nicht akademisch bleiben, sondern in Aktionen und Ad-hoc-Interventionen münden, die von Einzelnen vorbereitet, aber möglichst vielen dann getragen werden können, machte bislang den Anspruch der Noborder-Camps aus.

Zumal auf europäischer Ebene verlangt ein solcher Anspruch die ständige Entwicklung immer neuer und an veränderte Situationen laufend angepasster Organisationsmodelle. Es geht eben längst nicht mehr darum, eine gemeinsame Linie, ein geschlossenes Bild, eindimensionale Solidarität, ostentative Einigkeit oder eine insgeheim einende Subkultur auszudrücken, sondern um die tiefe Einsicht und den unbedingten Willen, die eigenen Unterschiedlichkeiten zu erkennen und flexible Zusammenhänge zu schaffen, in denen die verschiedenen Herangehensweisen sich sinnvoll und zum gegenseitigen Nutzen kurzschließen. Es geht um politische Kommunikation im besten Sinn: Vernetzung als situatives Aushandeln, das die Möglichkeit der Veränderung der eigenen Standpunkte wie der der anderen zur Grundlage nimmt und so darauf verzichtet, in den eigenen Reihen nach Gut und Böse zu fahnden, sondern stattdessen nach Grundlagen eines sinnvollen und für alle praktikablen Miteinander sucht - wohlgemerkt: auf Zeit.

Unfähigkeit zur Kommunikation

Es ist egal, ob das klägliche Scheitern nun mit dem kaum verhohlenen Hegemoniestreben einiger kleinerer oder größerer Gruppen erklärt wird, denen es mit etwas Erfahrung im Manipulieren von zufällig zu Stande kommenden Versammlungen natürlich spielend gelingt, selbst Grauen erregenden Außenseiterpositionen zur Vorherrschaft zu verhelfen, oder der Manie einer politischen Korrektheit geschuldet ist, die mitunter geradezu grotesk totalitäre Züge annahm und bestenfalls dazu geeignet ist, lähmender Ausdruck eines multilateralen Nicht-Angriffspaktes in Sachen Antisemitismus, Sexismus, Rassismus etc. zu sein. Alles in allem wurde ein ungeheures Maß an Selbstbezüglichkeit offenbar: Hin- und hergerissen zwischen Philister- und Ferienrevoluzzertum wurde so einer konstruktiven Auseinandersetzung mit den politischen Verhältnissen von allen Seiten her der Boden entzogen.

Eine detaillierte Aufarbeitung der Aktionen des Noborder-Camps in Strasbourg dürfte zu niederschmetternden Ergebnissen führen: Vom ersten bis zum letzten Tag, von der lächerlichen Brückenblockade, bei der der größte Trumpf zur etwaigen Verteidigung des Camps zum frühest- möglichen Zeitpunkt und wohlgemerkt: ohne große Not ausgespielt wurde, bis zum kläglichen Scheitern der als Großdemonstration angekündigten Aktivitäten vor dem SIS in einem Katz-und-Maus-Spiel, bei dem die Rollen längst vergeben waren und das deswegen an beliebigen Orten mit immer gleichem Ausgang stattfinden konnte - von Anfang an erschien nur eines als ausgemacht: Für Überraschungen ist heuer allenfalls die Gegenseite gut.

Im vorletzten Sommer am Frankfurter Flughafen hatte die Souveränität noch genau darin bestanden, der Polizei die Drecksarbeit zu überlassen und den Flughafen eben nicht selbst, sondern von den vermeintlichen Hütern der Ordnung blockieren zu lassen. Dies hatte nicht nur metaphorische Bedeutung, schließlich wurde mit dem Rollentausch den Behörden ein gewaltiges Vermittlungsproblem aufgehalst, das ihnen nur den Ausweg ließ, die AktivistInnen als noch größere ChaotInnen zu dämonisieren. Doch statt als schwarzer Block, der nichts anderes im Sinn hat, als den Flughafen in Schutt und Asche zu legen, triumphierte das Noborder-Camp mit klassischen Musikkonzerten, pink-silbernem Cheerleading und Verhandlungsgeschick. Auf dieser Grundlage konnten dann viele verschiedene, differenzierte Aktionsformen ein produktives Miteinander eingehen, das mitnichten von vorneherein und im Detail geplant und abgesprochen sein muss, solange die gemeinsame Absicht darin besteht, Handlungsspielräume systematisch zu erweitern statt einzuengen.

Dass auf dem Noborder-Camp in Strasbourg das genaue Gegenteil zum ehernen Prinzip erhoben wurde, hat sicherlich viele verschiedene Gründe. Doch für eine politische Naivität wie den dramatischen Kurswechsel, der am allerersten Abend des Camps fast klammheimlich vorgenommen wurde, gibt es keine Ausreden: Während die meisten noch mit dem Zeltaufbau beschäftigt waren oder dringend benötigte Infrastruktur einrichteten, fasste ein Gremium den kühnen Entschluss, in diesem Jahr auf die Vermittlung der Ziele und Hintergründe des Noborder-Camps völlig verzichten zu können. Die Zusammenarbeit mit Medien wurde aus ideologischen Motiven rundweg abgelehnt, und dies sollte sich nicht nur auf so genannte bürgerliche oder Mainstream-Medien beziehen, sondern logischerweise auch jede eigene Öffentlichkeitsarbeit verunmöglichen. Verhandlungen mit VertreterInnen der Stadtverwaltung oder Polizei galten plötzlich als ebenso verpönt wie der Besuch von JournalistInnen, egal ob von indymedia oder Lokalzeitung.

Selbstreferenzielles In-die-Falle-Laufen

Wenn der bloße Vermittlungsversuch der eigenen Inhalte schon als Opportunismus abgetan wird, verschiebt sich notwendigerweise auch der von außen wahrgenommene Gesamtcharakter der Veranstaltung: Statt um Bewegungsfreiheit schien es nurmehr um Narrenfreiheit zu gehen. Wer hier warum und wie gekleidet auf die Straße ging, weswegen wann welche Aktionsformen gewählt wurden, was Geschichte und Hintergrund, Vorstellungen und Ziele des Camps waren, wurde nonchalant verschwiegen. So blieb der Presse natürlich nichts anderes, als sich auf die Statements von Bürgermeisterin und Einsatzleitung zu konzentrieren. AnwohnerInnen und Passanten wurden mit der Interpretation unfreiwillig dadaistischer Parolen wie "Freedom is illegal" allein gelassen. Wer es nicht für nötig erachtet, Außenstehenden zumindest die Chance einzuräumen, das Getane nachzuvollziehen und sich eine eigene Meinung darüber zu bilden, handelt nicht nur fahrlässig und verantwortungslos, sondern vor allem eitel: Was vorgibt, militant zu sein, degeneriert zu schalem Expressionismus, bei dem es von vorneherein nur darum geht, der eigenen Andersartigkeit, selbst gefühlter Radikalität und plumper Identitätssuche zu möglichst schroffem Ausdruck zu verhelfen.

Ohne Vermittlung keine Verbreiterung

Überhaupt war erstaunlich, wie der starke Zuspruch aus Kreisen der authentischen Globalisierungsgegner Versatzstücken eines neo-romantisch motivierten Anti-Kapitalismus auf die Tagesordnung verhalf: Von der kategorischen Ablehnung von jedwedem Zahlungsmittel als Inbegriff des Bösen bis zur eigens für Plenarsitzungen entwickelten Zeichensprache, in der sich Debattierende nicht mehr ins Wort fallen, sondern wie Börsenmakler Handsignale geben - was in den zehn Tagen von Strasbourg vorherrschte, war eine hermetische Kultur der Unmittelbarkeit, die jede Form von künstlicher oder technologisch unterstützter Vermittlung als hinderlich für die natürliche Selbstentfaltung zu empfinden scheint.

Wichtiger als sich vorzustellen, kennen zu lernen und gegenseitig zu verstehen, war die Übersetzung des Gesagten in drei bis sieben Sprachen. Und je weniger dann tatsächlich kommuniziert wurde, desto größer wurde die heimliche Sehnsucht nach Repression und dem endlich wieder einenden Gefühl, als Opfer eines alle Themen und Kontinente umfassenden Komplottes namens Globalisierung auf der richtigen Seite der Unterdrückung zu stehen.

Susanne Lang/
Florian Schneider