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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 466 / 18.10.2002

Strategiefreies Handeln

Israel/Palästina: Von Generälen, die auszogen, das Fürchten zu lernen

Die Dynamik der Gewalt in Israel/Palästina erinnert auf frustrierende Weise an ein Perpetuum Mobile. Rituelle wechselseitige Schuldzuweisungen, die Unübersichtlichkeit der Situation selbst, die sträfliche Untätigkeit der US-Administration diesbezüglich sowie das strategiefreie Handeln beider Parteien verhindern bislang die Entwicklung einer politischen Perspektive zur Kanalisierung und Eindämmung des Konfliktes.

Im Laufe dieses Jahres hat die israelische Armee die palästinensischen Sicherheitsdienste im Westjordanland weitgehend zerschlagen und auch sonst sämtliche aus Oslo hervorgegangenen quasi-staatlichen palästinensischen Institutionen in Schutt und Asche gelegt. Seit der Offensive vom März dieses Jahres hat die israelische Armee ihr Besatzungsregime im Westjordanland komplett wieder aufgebaut. Im Unterschied zu den 1970er und 1980er Jahren aber haben PalästinenserInnen heute praktisch keinen Zugang zum israelischen Arbeitsmarkt und können sich auch innerhalb der besetzten Gebiete nur unter größten Schwierigkeiten bewegen. Der Alltag von 1,5 Millionen Menschen im Westjordanland ist zu einem kafkaesken Albtraum aus zahllosen Checkpoints und teilweise wochenlangen Ausgangssperren geworden. Der Gazastreifen, obwohl noch nicht von der israelischen Armee erobert, gleicht einem mit knapp einer Million Insassen völlig überfüllten und hermetisch abgeriegelten Gefängnis.

Gaza - ein überfülltes Gefängnis

Der Schrecken nächtlicher Bombardierungen und tagtäglicher Feuergefechte, die von der Armee überwiegend geduldeten Überfälle durch bewaffnete jüdische Siedler (vgl. Haaretz, 18.9.02), die flächendeckende Verarmung und dramatisch verschlechterte Versorgungslage, die willkürlichen Festnahmen und fortdauernden Enteignungen palästinensischen Landes dringen kaum in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit, weil die israelische Armee die besetzten Gebiete für JournalistInnen weitgehend gesperrt hat und zudem die palästinensischen Selbstmordattentate innerhalb Israels einen Großteil der Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Unterm Strich ist die Lage der PalästinenserInnen nach zwei Jahren Intifada ziemlich hoffnungslos. Die palästinensischen Institutionen sind schwach, das politische System durch interne Kämpfe gelähmt. Die palästinensische Verhandlungsposition ist heute deutlich schwächer als vor Beginn der Al-Aksa-Intifada.

Auf der Sitzung des palästinensischen Parlaments in Ramallah Anfang September kam es zu einem offenen Aufbegehren gegen die Administration unter Führung Arafats, dessen Vorschläge für eine Kabinettsumbildung kurzerhand abgelehnt wurden. Die Vorwürfe sind seit langem bekannt: Korruption, autokratischer Regierungsstil, das Übergewicht der Exekutive gegenüber Legislative und Judikative und vor allem das Versagen Arafats, die Al-Aksa-Intifada mit einer politischen Perspektive zu verbinden. Die von Arafat gebilligte bzw. geduldete Monopolisierung der Intifada seitens einiger bewaffneter Milizen und verdeckt operierender Organisationen ist eine Konsequenz aus der Knebelung und Gängelung zivilgesellschaftlicher Strukturen in der palästinensischen Gesellschaft während der Jahre des Oslo-Prozesses. Die vorgebliche Stärke der palästinensischen Administration war vor allem die Stärke ihrer repressiven Organe, die unter Billigung Israels weit über das im Rahmen der Oslo-Verträge ursprünglich vorgesehene Maß aufgeblasen wurden und lange Zeit tatsächlich die besten Garanten Israels für die Stabilität in den Autonomiegebieten waren. Die widersprüchliche Rolle der wichtigsten Sicherheitsdienste, etwa derjenigen von Jibril Rajoub (Westbank), Mohammad Dahlan (Gaza), aber auch des von Israel mittlerweile gejagten Tawfiq Tirawi (Westbank) im Laufe der Al-Aksa-Intifada hat deren Legitimität unter der palästinensischen Bevölkerung zusätzlich ausgehöhlt. (Amira Hass in Haaretz, 18.9.02) Vor diesem Hintergrund darf man gespannt sein, in welche Richtung sich die innerpalästinensische Reformdebatte in den nächsten Monaten bewegen wird.

Israelische Regierungsvertreter stellen all dies als Erfolg ihrer Politik der harten Hand gegenüber den PalästinenserInnen insgesamt und der gezielten Schwächung Arafats insbesondere dar. Die innerpalästinensische Reformdebatte existiert jedoch nicht wegen, sondern trotz der Besatzung. Bislang war Premierminister Sharon noch immer der beste Garant für das politische Überleben Arafats. So bemühte sich die israelische Regierung aktiv darum, die oben erwähnte Sitzung des palästinensischen Parlaments im Vorfeld zu verhindern, 14 Abgeordnete aus dem Gazastreifen konnten nicht nach Ramallah einreisen. (Frankfurter Rundschau, 9.9.02) Nach den jüngsten Selbstmordattentaten innerhalb Israels zog die israelische Armee ihren Belagerungsring um Arafats Hauptquartier in Ramallah immer enger und zerstörte es innerhalb von elf Tagen fast vollständig. Dabei waren sich israelische Geheimdienstler darin einig, dass diese Anschläge auf das Konto des bewaffneten Untergrundes der Hamas gingen, der nicht Teil von Arafats Apparat ist und von ihm keine Unterstützung erhält.

Die Bilder der sich unter Arafats Augen wie Riesenameisen langsam durch das Mauerwerk fressenden Bulldozer bewirkten genau das Gegenteil dessen, was diese vorgaben zu tun: Weder wurden die wahren Schuldigen an den jüngsten Attentaten angegriffen, noch wurde Arafat geschwächt; ganz im Gegenteil, seine Position wurde dadurch zementiert. Fast schien es so, als führe Sharon hier bereits Wahlkampf gegen seinen innerparteilichen Herausforderer bei den kommenden Wahlen, Benjamin Netanjahu. Immerhin ist Arafat im Bewusstsein der meisten jüdischen Israelis das personifizierte Böse und grundsätzlich für alles Übel der gegenwärtigen Situation allein verantwortlich. Erst ein Machtwort aus Washington erzwang den Abbruch dieser Aktion.

Israels Wirtschaft in der Krise

Kurz zuvor hatte die Ermordung eines führenden Kommandeurs des bewaffneten Untergrundes der Hamas in Gaza, Saleh Shahade, für weltweite Empörung gesorgt, da bei der Ermordung Shahades beträchtliche "Kollateralschäden" zu beklagen waren: Zahlreiche unbeteiligte Zivilisten, Kinder inklusive, fielen dieser Aktion zum Opfer. Weiterhin wurde damit ein offenbar unter EU-Moderation ausgearbeitetes und praktisch unterschriftsreifes Abkommen zwischen verschiedenen bewaffneten palästinensischen Organisationen einschließlich Hamas verhindert, das ein Ende der Selbstmordattentate innerhalb des israelischen Kernlandes zum Ziel hatte. Tatsächlich hat Sharon während seiner gesamten Regierungszeit noch kein Wort darüber gesagt, wie er sich denn eine zukünftige politische Lösung des Konfliktes konkret vorstelle. Seine Politik beschränkt sich auf das Verhindern jedweder politischen Perspektive.

Die israelische Regierung erhofft sich die Entstehung einer moderaten palästinensischen Führung anstelle der jetzigen Administration, die Gewalt nicht als ein Mittel der Politik einsetzt und bereit wäre, eine israelischen Vorstellungen entsprechende politische Lösung des Konfliktes zu unterstützen. Diese Hoffnung ist freilich unbegründet. Eine zukünftige palästinensische Führung, die sich auf eine breite gesellschaftliche Unterstützung berufen könnte, würde in Verhandlungen mit Israel zwar pragmatisch vorgehen müssen (etwa in Bezug auf die Umsetzung des Rückkehrrechtes für die palästinensischen Flüchtlinge von 1948), in den meisten Bereichen jedoch weniger Kompromisse als die bisherige Administration eingehen, deren Machtposition auf einer möglichst servilen Haltung gegenüber israelischen Regierungen beruhte. Auch wenn Israel gegenwärtig alle Anstrengungen unternimmt, Widerstand gegen die Besatzung als palästinensische Variante eines weltweiten, antiwestlichen Terrornetzwerkes zu kriminalisieren, bleibt die Besatzung letztlich nicht verhandelbar. Sie gehört abgeschafft.

Man darf gespannt sein, wie der Prozess Marwan Barghoutis sich entwickeln wird, der vor einem zivilen israelischen Gerichtshof wegen seiner Rolle in der Al-Aksa-Intifada des Massenmordes angeklagt ist. Seine Verteidigung wird versuchen, die Illegitimität der Besatzung in den Vordergrund zu rücken und damit die Zuständigkeit eines israelischen Gerichtes in seinem Fall anzufechten. Barghouti ist nicht nur ein gewählter Abgeordneter des palästinensischen Parlaments, sondern ein eloquenter und im Umgang mit den Medien erfahrener Volkstribun, der zudem fließend hebräisch spricht. Es dürfte schwer sein, Barghouti daran zu hindern, die Bühne dieses Prozesses für seine eigenen Zwecke zu nutzen und Israel beträchtliche PR-Probleme zu bereiten. (vgl. Haaretz, 9.9.02)

Allerdings gehört auch Barghouti zu den Verfechtern eines gewaltsamen Abschüttelns der Besatzung. Angesichts der Misere des bewaffneten Kampfes gegen einen militärisch unschlagbaren Gegner richten sich in letzter Zeit immer mehr Hoffnungen auf ein Aufbäumen der palästinensischen Zivilgesellschaft. Auf vereinzelte organisierte Aktionen zivilen Ungehorsams, wie etwa das demonstrative Ignorieren der Ausgangssperre (in Nablus, Ramallah), hat die israelische Armee bislang besonnen reagiert. Was wird passieren, wenn solche Aktionen zu einem Massenphänomen werden?

Die israelische Politik folgt bereits seit den Jahren des Oslo-Prozesses keinem nachvollziehbaren Plan. Einerseits soll offensichtlich das Entstehen einer unabhängigen palästinensischen Staatlichkeit westlich des Jordan verhindert werden, indem etwa eine von Israel unabhängige wirtschaftliche Entwicklung in den palästinensischen Autonomiegebieten von Israel sabotiert wird, ein palästinensischer Staat nach israelischen Vorstellungen über keine Armee verfügen darf und in der Außen- und Sicherheitspolitik eng mit Israel kooperieren soll. Das wäre das Modell eines Klientelstaates, eines von der israelischen Zentralmacht abhängigen Subsystems. Mit Arafat wäre eine solche Lösung zu haben gewesen.

Doch gleichzeitig verfolgen israelische Regierungen seit Abschluss der Oslo-Verträge eine Politik der physischen Trennung zwischen der jüdisch-israelischen und der palästinensischen Bevölkerung. So wurde der israelische Arbeitsmarkt für palästinensische Arbeitskräfte weitgehend gesperrt. In den besetzten Gebieten wurde eine komplette Infrastruktur ausschließlich für die jüdischen SiedlerInnen geschaffen, die von der palästinensischen Bevölkerung hermetisch abgeschirmt werden. Auf palästinensischer Seite ist im Laufe des letzten Jahrzehnts eine dramatische Verarmung breiter Schichten zu verzeichnen - und zunehmende Frustration über die spätestens seit der Ermordung Rabins im November 1995 sichtbare Stagnation bei der politischen Umsetzung der Verträge. Bleiben schließlich die jüdischen Siedlungen: Die Zahl der SiedlerInnen in den besetzten Gebieten hat sich seit dem Abschluss der Oslo-Verträge 1993 mehr als verdoppelt, die damit einhergehende Enteignung palästinensischen Bodens geht zu Lasten der Bewegungsfreiheit und der wirtschaftlichen Entwicklung der PalästinenserInnen. Die verschiedenen israelischen Regierungen haben offenbar stets den Weg des geringsten innenpolitischen Widerstandes gegen die Idee eines Ausgleichs zwischen Israelis und PalästinenserInnen gewählt. Diese kurzsichtige und allein auf die israelische Innenpolitik schielende Klientelpolitik hat die Bedürfnisse der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten konsequent und über Jahre ignoriert.

Bush leicht verärgert über Sharon

Wie lange noch werden israelische Regierungen sich auf diese Weise durchlavieren können? Die jetzige Regierung jedenfalls hat nicht mehr viel Zeit: Die wirtschaftliche Lage ist angespannt, der Binnenmarkt schrumpft, die Exporte sind in diesem Jahr um 15% gesunken, die Arbeitslosigkeit steigt (zur Zeit 10,8%), immer mehr jüdische Israelis leben am Rande der Armutsgrenze. Gleichzeitig steigen die Ausgaben für das Militär und den Ausbau der Siedlungen in den besetzten Gebieten. Der für Anfang nächsten Jahres geplante US-geführte Krieg gegen den Irak erfordert relative Ruhe im israelisch/palästinensischen Konflikt. US-Präsident Bush war angeblich überaus verärgert über die Zerstörung von Arafats Hauptquartier durch die israelische Armee ausgerechnet zu der Zeit, da die USA um eine "harte" UN-Resolution in Sachen Irak kämpfen. Politischer Druck seitens der USA auf die Regierung Sharon kann aber die fragile Koalition Sharons innerhalb kürzester Zeit sprengen. Gelegenheit für eine solche Konfrontation zwischen Bush und Sharon könnte sich schon bald bieten: In den letzten Wochen mehren sich die Anzeichen für eine groß angelegte israelische Invasion des Gazastreifens. Eine solche Militäroffensive würde aller Voraussicht nach deutlich blutiger für beide Seiten verlaufen als die Eroberung der Westbank im Frühjahr.

Achim Rohde