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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 467 / 22.11.2002

Null Toleranz für Passivität

Sparen, deregulieren und strafen mit Rot-Grün

"Passivität kann die Gesellschaft nicht mehr tolerieren", verkündete der neue Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement am 30. Oktober im Bundestag. In ungeahnter Deutlichkeit brachte er somit die Drohungen auf den Punkt, die das rot-grüne Regierungsprogramm für Kranke, Alte, Erwerbslose und ganz normale Lohnabhängige parat hält. Die taz titelte daraufhin "Schlagstock für die Schwachen". Und sie hat ausnahmsweise mal Recht.

Viel Neues kündigte Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung an: "Neue Gerechtigkeit", "neue Selbstverantwortung", "neue unternehmerische Verantwortung", ein "wirklich kinderfreundliches Land". Für kluge Menschen wie Micha Brumlik mag diese zwanghafte Beschwörung des Neuen tatsächlich "gespenstisch" sein und einen "Tiefpunkt politischer Rhetorik" darstellen. (taz, 31.10.2002)

Doch Brumlik und andere täuschen sich erheblich, wenn sie in dem neuen rot-grünen Regierungsprogramm nur hohle Phrasen und politische Stagnation entdecken können. Die Enttäuschung der linksliberalen BeobachterInnen über die mangelnde Ausstrahlungskraft rot-grüner Politik ist die Enttäuschung derjenigen, die von dieser Regierung im Grunde eine zeitgemäße Neuauflage der Aufbruchstimmung erwartet haben, die seinerzeit mit der sozialliberalen Koalition Brandt/Scheel verbunden war. Eine solche Erwartung war vor vier Jahren genauso verkehrt wie heute. Und dennoch wäre es völlig verfehlt, dieser Regierung zu unterstellen, sie wolle nichts "Neues". Ganz im Gegenteil muss man die Rhetorik vom "Neuen" bitter ernst nehmen, denn in der Tat zielt die rot-grüne Politik ab auf eine tief greifende Umgestaltung der sozialen und demokratischen Strukturen der Gesellschaft. Eine Umgestaltung allerdings, in der soziale Recht- und Rechtsansprüche genauso auf der Strecke bleiben wie politische Liberalität.

Maßgebliches Vehikel der gesellschaftlichen Umgestaltung sind dabei die quasi naturgesetzlichen Vorgaben der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Heute wie vor vier Jahren gibt es einige klare Rahmenbedingungen, die nicht in Frage gestellt werden. Dies sind in erster Linie die so genannte Konsolidierungspolitik und die rigorose Orientierung an konstanten oder besser noch sinkenden Lohnnebenkosten. Beide Rahmenbedingungen ergeben sich nahezu zwangsläufig aus dem sakrosankten Primat der Standortpolitik und Standortkonkurrenz.

Ungeachtet der weiteren konjunkturellen Entwicklung will Rot-Grün das Defizit des Bundes bis zum Jahre 2006 auf 0 herunterfahren. Das ist entweder eine Politik nach dem Prinzip Hoffnung oder aber bereits jetzt die Ankündigung brutaler Einschnitte in alle öffentlichen Versorgungsstrukturen. Denn allein in diesem und dem kommenden Jahr entstehen Fehlbeträge bei den Steuereinnahmen in Höhe von 18 Mrd. Euro, manche BeobachterInnen schätzen die Mindereinnahmen im nächsten Jahr gar auf 25 Mrd. Euro. Noch in diesem Jahr wird das Haushaltsdefizit mit 3,7% des Bruttoinlandproduktes deutlich über der 3%-Marke der Maastricht-Verträge liegen. Die Bundesregierung nimmt diese Entwicklung nun keineswegs zum Anlass, um über eine Aufweichung der Stabilitätskriterien von Maastricht nachzudenken. Ähnlich wie die Auflagen des IWF in anderen Ländern ist der Stabilitätspakt vielmehr ein willkommenes Druckmittel, um den eingeschlagenen Austeritätskurs fort- und durchzusetzen.

Geradezu dramatisch wirken sich die selbstproduzierten Einnahmeausfälle auf Seiten der Länder und Kommunen aus. Kein Wunder, dass von dieser Seite unmittelbar nach der Wahl der Ruf nach einer Wiedereinführung der Vermögenssteuer laut wurde. Doch die Bundesregierung scheut eine durchgreifende Verbesserung der Steuereinnahmen wie der Teufel das Weihwasser. Jede nennenswerte Belastung der Unternehmen und der Wohlhabenden wird vermieden: keine Vermögenssteuer, keine Verschärfung der Erbschaftssteuer, vermutlich auch keine Spekulationssteuer auf Aktien. Die Steuergeschenke bei der Unternehmensbesteuerung werden nicht zurückgenommen. Die Maßnahmen der Bundesregierung zur Stärkung der Steuereinnahmen konzentrieren sich somit nahezu ausschließlich auf die privaten Haushalte, wie etwa die Aufhebung von Ausnahmeregelungen bei der Mehrwertsteuer oder die Verschärfung der Ökosteuer. Allein hier, beim Herzstück grüner Identität, ist die Belastung der privaten Haushalte dreimal höher als die der Unternehmen. Die geplante höhere Besteuerung von Erdgas trifft die privaten Haushalte mit satten 1,1 Mrd. Euro. Das koalitionäre Hickhack im Anschluss an den Koalitionsvertrag um die Steuerfreiheit von Firmenspenden für wohltätige Zwecke, um das Ehegatten-Splitting oder um die Eigenheim-Zulage ist vor diesem Hintergrund Geplänkel, das an der grundsätzlichen finanzpolitischen Weichenstellung nichts ändert.

Die Konsequenz aus dem Verzicht auf Steuereinnahmen ist klar: Drastische Einsparungen bei den so genannten konsumptiven Ausgaben, und das trifft in voller Härte das soziale Sicherungssystem. 4,2 Mrd. Euro will der Bund im nächsten Jahr sparen, 11,2 Mrd. Euro bis zum Jahr 2006. Arbeitslosenversicherung, Renten- und Krankenversicherung, ja, sogar die Pflege - alle Sozialversicherungen stehen grundsätzlich auf dem Prüfstand.

Fetisch Lohnnebenkosten

In der Alters- und Gesundheitsversorgung kommt es zunächst zu einer klassischen Umverteilung "in der Klasse". Die SPD ist dabei als Partei der FacharbeiterInnen und Älteren aufgetreten und hat sich gegen die Grünen als Anwälte der jungen GutverdienerInnen zunächst durchgesetzt: Die Rentenerhöhung wird nicht ausgesetzt (wie es die Grünen wollten), die Rentenbeiträge steigen auf 19,5% (was der wirtschaftsliberale Flügel bei den Grünen unbedingt verhindern wollte), und die Beitragsbemessungsgrenze steigt von 4.500 Euro auf 5.100 Euro. (Auch das hätten die Grünen gerne verhindert.) Lohnabhängige werden also in Zukunft mehr in die Rentenkassen einzahlen müssen, und die Bundesregierung geht an die Reserven: Die Schwankungsreserve bei der Rente wird von 80% einer Monatsausgabe auf 50% abgesenkt.

Nach Hartz kommt nochmal Hartz

Dabei ist allen Beteiligten klar, dass dieses Rentenmanöver ein kurzfristiger Akt gewesen ist. Langfristig wird auch die SPD einen Anstieg der Rentenbeiträge und damit der Lohnnebenkosten verhindern wollen. Dies ist schließlich die erklärte Maßgabe bei der Einführung der "Riester-Rente" gewesen. Der Renten-Experte Bernt Rürup, der sowohl von Grünen als auch von der SPD als Vorsitzender der geplanten "Hartz-II-Kommission" ins Spiel gebracht worden ist, hat jüngst deutlich gemacht, dass sich jede "Reform" der Sozialversicherungssysteme an einer Begrenzung der Lohnnebenkosten orientieren müsse. Er bezog sich dabei ausdrücklich positiv auf den ehemaligen Arbeitsminister Walter Riester, weil dieser Elemente der Privatversicherung in die Rente eingezogen und damit einen "Systemwechsel" eingeleitet habe. (taz, 13.11.2002)

Kurzfristig bremsen, langfristig umsteuern ist auch das Motto bei der Umgestaltung der Krankenversicherung. Das "Vorschaltgesetz", das jetzt im Hau-Ruck-Verfahren durchgepeitscht wird, soll der Bundesregierung kurzfristig Euros in die Kasse spülen. Allerdings muss Ulla Schmidt im Vergleich zur Rente hier sehr viel mehr und mächtigeren Interessensgruppen gegen das Schienbein treten. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums sollen durch die Null-Runde bei Ärzten, Apotheken und Krankenhäusern KassenärztInnen auf insgesamt 220 Mio. Euro Honorarzuwachs verzichten, ZahnärztInnen auf 100 Mio. Euro und die Krankenhäuser auf 340 Mio. Euro. Im Vergleich dazu werden bei den Versicherten über die Halbierung des Sterbegeldes 380 Mio. Euro gespart. Insgesamt soll das Vorschaltgesetz Einsparungen im Umfang von 3-3,5 Mrd. Euro erbringen, den größten Teil durch die ebenfalls geplante Festschreibung der Krankenkassenbeiträge, gesetzlich verordnete Rabatte und Preisstopps bei Medikamenten, Rabattpflicht bei Apotheken und Pharmagroßhandel und die Anhebung der Versicherungspflichtgrenze auf 3.825 Euro.

Wer von all diesen Gruppen wirklich getroffen wird, steht allerdings in den Sternen. Immerhin 40 Krankenkassen haben schon mal vorsorglich höhere Beiträge beantragt und sich dabei auf die entsprechenden Öffnungsklauseln im Vorschaltgesetz bezogen. Viele Gutverdienende und Selbstständige sind bereits jetzt zu Privatkassen abgewandert und haben sich so der (im übrigen nur halbherzig erhöhten) Versicherungspflichtgrenze entzogen. Auch die Pharmaindustrie scheint das ganze Vorgehen mit Gelassenheit abzuwarten. So sind es vermutlich in erster Linie die ÄrztInnen und die Beschäftigten in den Krankenhäusern, denen ein "Sonderopfer" "vorgeschaltet" wird.

Bis zum Jahre 2004 soll die neue Superkommission "Hartz II" dann auch für das Gesundheitswesen eine umfassende Neuordnung entwickeln. Die Leitlinien sind auch hier die Begrenzung der Krankenversicherungsbeiträge und die massive Öffnung in den Bereich der Privatversicherung. Genau wie bei der Rente bedeutet diese Orientierung ein Abschmelzen der staatlichen Versicherungsleistungen auf ein absolutes Minimum mit dem wohlklingenden Titel "Grundsicherung", "Grundrente" oder "Grundversorgung". Alles weitere wird der "Eigeninitiative" sprich dem individuellen Geldbeutel überlassen.

Die Hartz-Kommission mit ihren Vorschlägen zur Umgestaltung des Arbeitsmarktes hat somit für alle anderen Bereichen die inhaltliche Richtung wie auch die Art und Weise der Durchsetzung vorgegeben. Kein Wunder, dass die Umsetzung der Hartz-Vorschläge der eigentliche Kern der rot-grünen sozialpolitischen Modernisierungspolitik ist. Auch hier besteht die erste Runde in einer Sparrunde - auf den Knochen der Erwerbslosen. 6 Mrd. Euro soll ihnen direkt und indirekt aus den Taschen geleiert werden. Am 7.11. fand die erste Lesung des ersten "Hartz-Gesetzes" im Bundestag statt. Es beinhaltet vor allem die flächendeckende Ausweitung der Leiharbeit für Erwerbslose. Die angebliche Tarifpflicht, mit der diese Maßnahme den Gewerkschaften schmackhaft gemacht werden sollte, besteht allerdings nur auf dem Papier: Es dürfen auch Löhne unterhalb des Branchendurchschnitts tarifiert werden, das Synchronisationsverbot kann aufgehoben werden (d.h. Leiharbeiterinnen können nach Beendigung des Arbeitseinsatzes wieder gefeuert werden), und in den ersten sechs Wochen sind auch niedrige Einstiegstarife (in Höhe des Arbeitslosengeldes) erlaubt.

Drohungen werden wahr gemacht

2003 und 2004 soll es dann weiter zu Sache gehen: Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien und der Mitwirkungspflicht, die Absenkung des Arbeitslosengeldes auf 60% des ehemaligen Bruttolohns und schließlich die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe in einem Arbeitslosengeld II, das deutlich unterhalb der jetzigen Arbeitslosenhilfe liegen wird.

Soziale Grundsicherung auf niedrigstem Niveau, private Zusatzversicherungen, Verabschiedung aus dem System der paritätisch finanzierten Sozialversicherungssysteme, "Eigenverantwortung" statt gesellschaftliche Solidarität, Abbau sozialer Rechtsansprüche, die Demontage gesellschaftlich-staatlich organisierter sozialer und materieller Sicherheit: Das sind die Eckpunkte der "neuen Verantwortlichkeit", von der Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung sprach. Micha Brumlik hat ja durchaus Recht, wenn er in Schröders "Primat des Politischen" ein Bekenntnis zu einer (Sozial-)Staatsorientierung wahrnimmt. Und er hat auch Recht, wenn er hier einen anti-neoliberalen Habitus ausmacht. Er irrt jedoch vollständig, wenn er darin irgendeine Renaissance alter sozialdemokratischer Gerechtigkeitsideen vermutet. Der "aktivierende Sozialstaat" der neuen rot-grünen Sozialdemokratie ist einer, der im Namen von Flexibilität, "Eigenverantwortung" und Standortlogik die "Belastungen" der bisherigen Sozialversicherungssysteme beseitigen will. Es geht um eine neue Spielart von "sozialer Gerechtigkeit", in der gesellschaftliche Solidarität nur noch bis zu einem Minimum vorkommt und in der soziale Rechte durch Pflichten abgelöst werden. Ein "Schlagstock für die Schwachen" halt.

dk