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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 467 / 22.11.2002

Amerikanische Zustände

Michael Moore's Erkundungen im Land der unbegrenzten Möglichkeiten

1990 erregte ein bis dahin bei uns unbekannter US-Amerikaner einiges Aufsehen in der Kinoszene. Bewies doch sein bissig-satirischer Dokumentarfilm "Roger & Me" über den Niedergang seiner von der Autoindustrie geprägten Heimatstadt Flint/Michigan vor allem eines: Man kann Dokumentarfilme machen, die sich die Menschen gerne ansehen. Jetzt hat Moore, mehrere Jahre Herausgeber einer alternativen Tageszeitung, dann Kopf einer erfolgreichen Fernsehshow und nebenbei auch noch Filmemacher, sich erneut aufgemacht, US-amerikanische Zustände zu erkunden.

Es begann 1999, als Moore für seine TV-Show "The Awful Truth" (Die furchtbare Wahrheit) das satirischen Stück "Teen Sniper School" (Die Schule der Teen-Scharfschützen) abgedreht hatte. Wenige Tage nach dem Dreh, am 20. April 1999, erschossen zwei Schüler an der Colombine High School in Littleton/Colorado zwölf MitschülerInnen und einen Lehrer. Die Bilder dieses ersten großen Schulmassakers gingen um die Welt. Plötzlich war aus Satire - die übrigens nie gesendet wurde - Realität geworden. Eine Realität, die viel dichter an Moores eigenem Leben war, als er es selbst wusste.

Einer der Todesschützen hatte seine Kindheit in Michigan verbracht. Terry Nichols, der 1994 einer der Täter hinter dem Bombenattentat von Oklahoma City war, ging auf Moores Nachbarschule und Charlton Heston, der große Zampano der Waffenlobby National Rifle Association (NRA) kam ebenfalls aus Moores Heimat. Anlässe genug um Moore neugierig zu machen: Woher kommt diese Faszination der US-Amerikaner für Waffen und wohin führt sie das Land? Also machte er sich auf eine Reise quer durch die USA. Er sprach mit Angehörigen rechter Milizen, mit den Verwandten der Täter, mit LehrerInnen, die ZeugInnen dieser Schülermorde wurden; auch in seiner Heimatstadt Flint, wo während Filmarbeiten eine sechsjährige Schülerin von einem Mitschüler erschossen wurde.

Am 11. September 2001 war der Filmemacher in Los Angeles und musste, da es keine Flüge gab, seine Heimreise durch Oklahoma, Texas und Missouri nach New York mit dem Auto antreten. Unterwegs sprach er mit den Leuten. "Ich war erstaunt, dass es in dieser ersten Woche nach den Anschlägen keine blutdurstigen Rufe nach Rache gab. Statt dessen gab es Kummer und Leid und viele Fragen. Warum? Wer würde so etwas tun? Warum hasst man uns? Was haben wir getan? Das war sehr kraftvoll und es setzte meine Gedanken in Gang, wie dieser Film in ein universelles, globales Bild hineinpassen könnte." Diesen Denkprozess sieht man seinem Film an und nicht nur in der Sequenz, in der er dem US-amerikanischen Publikum zu den Klängen von "It's a wonderful world" die Zahl derjenigen Menschen vor Augen führt, die Opfer von US-Interventionen in aller Welt wurden.

Der Film ist das ungemein spannende Porträt einer Nation, die an extremer Paranoia leidet. Denn für Moore ist es vor allem die Angst, die die amerikanische Psyche - oder besser die weiße amerikanische Psyche - bestimmt. Er vermittelt seine Ansichten auf vielfältige Weise. So ist etwa die Zeichentricksequenz, in der er die amerikanische Geschichte der Angst bis auf die Gründerväter zurückführt, ein Lehrstück in unterhaltsam-ironischem und doch parteiischem Geschichtsunterricht. Moore lässt vor allem Fakten sprechen: "Wir haben rund eine Viertelmilliarde Waffen in Umlauf - und sie gehören in der Mehrheit Weißen, die in Wohnvierteln ohne nennenswerte Kriminalitätsrate leben. Unsere Morde werden meist im häuslichen Umfeld verübt; Ehemann/Ehefrau, Freund/Freundin, Kollegen."

Eine Nation mit extremer Paranoia

Ihm gelingt auch scheinbar Unmögliches wie ein Interview mit Charlton Heston. Schließlich ist Moore lebenslanges Mitglied der NRA und war sogar bester Jugendschütze bei einem NRA-Wettbewerb. Er sucht Heston in dessen Haus auf und beginnt sein Interview mit Fragen danach, warum die NRA so geschmackvolles Timing bei ihren Großveranstaltungen beweist. Ihre Versammlungen finden in letzter Zeit stets kurz nach einem neuen Massaker oder auch nur einem "kleinen" Zwischenfall mit privaten Waffen (und Toten) in den betroffenen Städten statt. Dann zückt Moore das Bild eines kleinen Mädchens, eben jenes Opfers in seiner Heimatstadt. Heston ergreift in seinem eigenen Haus die Flucht vor den Konsequenzen seines Waffenlobbyismus und Moore hinterlässt ihm das Bild als Andenken.

So redet er mit den Verantwortlichen. Und ist dabei immer freundlich und höflich, nie aggressiv, kommt stets auf den Punkt und legt den Finger in die Wunde. Ganz anders geht er mit den Opfern um: Als die Lehrerin, die Zeugin der Erschießung des kleinen Mädchens wurde, vor laufender Kamera zusammenbricht, führt er sie (mit dem Rücken zur Kamera) weg und tröstet sie. Das ist so ganz anders als der im Fernsehen praktizierte Voyeurismus, in dem unter dem Mäntelchen der Betroffenheit noch die letzte Träne der Opfer der Quote dient. Kino und vor allem dokumentarisches Kino lebt von der Montage, von der visuellen Verknüpfung und Gegenüberstellung. Und hier erweist er sich geradezu als Meister der Stellungnahme ohne Kommentar: Vor das Interview mit dem Rockstar Marilyn Manson montiert er Statements von TV-ModeratorInnen und PolitikerInnn, die den Musiker zum Hauptverantwortlichen für Jugendgewalt machen wollen.

Moores Kino ist Kino der Intervention. Hier mischt sich einer ein und fordert so seine Landsleute auf, sich auch einzumischen. Das versteht Moore auch ganz praktisch: Aus einem Teil der Gewinne von "Roger & Me" gründete er das Center For Alternative Media, aus dem bislang über eine halbe Million US-Dollar an unabhängige FilmemacherInnen und soziale Gruppen geflossen ist.

Um Einmischung geht es auch in Moores neuem Buch mit dem Untertitel: "Eine Abrechnung mit dem Amerika unter George Bush". Moore geht noch einmal zurück bis zu jenem berühmt-berüchtigten Wahltag am 7.11.2000, als es in Florida auf Messers Schneide stand, und versucht nachzuweisen, dass der Coup lange geplant war. Denn für ihn ist George Bush alles andere als ein legitimer Präsident. Der schwarze Filmemacher Spike Lee hat das in seinem Beitrag zum Episodenfilm "Ten Minutes Older - The Trumpet" auf die Formel "We wuz robbed" (Wir wurden betrogen) gebracht. Eine Auffassung, die auch Moore teilt. Mehr noch: Er legt Beweise dafür vor, dass die Gruppe um Bush und die ihn unterstützenden Konzerne das Ganze von langer Hand vorbereitet haben. Zwar gerät er damit durchaus in die Nähe der in den USA so beliebten Verschwörungstheorien; allein seine Beweise personeller Verflechtungen zwischen Bush-Mannschaft, Softwareherstellern und jenen, die die Wahlmaschinen herstellten, halten jeder Nachprüfung stand. In elf Kapiteln und einem Epilog hält er seinen Landsleuten den Spiegel vor. Befasst sich mit dem Rassismus, der militarisierten Außenpolitik genauso wie mit der Todesstrafe oder Fragen von Ökologie und Ökonomie.

Dabei ist Moore sicherlich alles andere als ein Analytiker; er zeigt auf, wie es ist, und rechnet gnadenlos mit der neunen Regierung ab. Dabei macht er sich keinerlei Illusionen über die Alternative Al Gore bzw. den allseits beliebten Bill Clinton. So kommentiert er eine zweiseitige Liste voller Verordnungen, die auch ein George Bush problemlos hätte unterzeichnen können mit den Worten: "Sie werden mir in Anbetracht der genannten Leistungen wohl zustimmen, dass Bill Clinton der beste republikanische Präsident war, den Amerika je hatte."

Kunst als Mittel der Intervention

Immer wieder gelingen ihm Einblicke und Einsichten, die vor allem für Europäer so manche Überraschung bieten und so gar nichts mit dem Bild zu tun haben, das uns hier in den Medien vermittelt wird: Dass nämlich das US-amerikanische Volk wie ein Mann hinter Bush und seinen Leuten steht. Mit diesem Bild kann irgend etwas nicht stimmen, sonst wäre Moores Buch in den USA nicht der Verkaufsschlager des letzten Sommers geworden - und das obwohl mindestens eine große Buchhandelskette sich weigerte, es überhaupt ins Sortiment zu nehmen. Offensichtlich spricht er mit seiner klaren, einfachen Sprache ein verbreitetes Unbehagen an der Regierung Bush an.

Die Frage, ob Moore ein Linker oder was auch immer ist, ist für mich vor diesem Hintergrund uninteressant. Sicherlich ist er ein radikaler Demokrat und einer, der - wenn auch ohne Illusionen - den amerikanischen Traum träumt und Bush & Co. als personifizierten Verrat an genau diesem Traum empfindet. Das macht ihn wütend und diese Wut setzt er um: in einen aggressiven Film, der den Finger in die offenen Wunden der USA legt und in ein Buch, dass - stammte es nicht von einem US-Amerikaner - in den hiesigen Medien sicherlich als antiamerikanisches Machwerk verrissen würde.

lg, Köln

Michael Moore: Stupid White Men, Piper-Verlag, 368 Seiten, 12 Euro
Bowling For Colombine startet am 21.11. im Verleih von Prokino.Weitere Informationen: www.michaelmoore.com.