Titelseite ak
Linksnet.de
ak und Fantômas sind Partner von Linksnet.de

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 467 / 22.11.2002

Kleine Schwester, große Wirkung

Arbeit mit kriegstraumatisierten Frauen und Kindern in Ex-Jugoslawien. Ein Gespräch.

Seit genau fünf Jahren gibt es auf der kroatischen Insel Brac ein Haus, in dem Frauen und Kinder aus Bosnien, Serbien und Kroatien sich erholen können, therapeutisch beraten werden und in dem pädagogische und therapeutische Fachfrauen und Multiplikatorinnen in der Friedens- und Traumaarbeit ausgebildet werden. Mit der Koordinatorin von SEKA (1), Mirjana Bilan, sprach Stefanie Graefe

ak: Ohne einen Pfennig in der Tasche habt ihr damals angefangen....

Mirjana Bilan: Ja, ein bisschen verrückt eigentlich...

Wie seid ihr dazu gekommen?

Nachdem bekannt geworden war, dass in Bosnien und Kroatien massenhaft Frauen vergewaltigt worden waren, sind nicht nicht nur in Hamburg, sondern in der ganzen BRD viele Frauen auf die Straße gegangen und haben protestiert. Daraus ist ein Verein geworden, Sukaina, wo ich Gabi Müller kennengelernt habe. Wir haben über die Jahre die Frauenorganisationen in den Kriegsgebieten unterstützt und gleichzeitig hier Öffentlichkeitsarbeit gemacht. Gabi ist in der Zeit mehrere Male dort gewesen, als Therapeutin. Wir haben uns alle an den Kopf gefasst: Es war Krieg! Und sie fährt mitten rein, um mit den Frauen zu arbeiten. Jedenfalls kam sie mit der Erfahrung zurück, dass es etwas ganz Bestimmtes war, was den Frauen und Kindern die Kraft gegeben hat, diesen ganzen Wahnsinn durchzustehen. Nämlich ihre schönen Erinnerungen an ein besseres Leben, oft an Urlaub, meist am Meer. Dann haben wir angefangen zu spinnen: irgendwo am Meer auf einer Insel ein schönes Haus. Ein Haus, wo Frauen und Kinder kommen und Kraft tanken können. Nun gut, 1996 haben Gabi und ich in Kroatien Urlaub gemacht und waren zufällig auf der Insel Brac vor Split. Wir hatten kein Geld. Aber eine Idee. Und wir hatten unseren Freundinnen in Zagreb, Split und Bosnien schon von unserer Idee erzählt. Alle waren begeistert, aber niemand hatte Geld.

Na ja, und da wurde tatsächlich ein Haus zum Verkauf angeboten. Wir haben es gesehen und waren begeistert. Keine müde Mark in der Tasche. Innerhalb von vierzehn Tagen mussten wir zehn Prozent anzahlen, das Haus kostete 350.000 DM. Wir also zurück nach Deutschland, haben ganz schnell unsere FreundInnen angerufen und die 35.000 zusammengekriegt. Dann hatten wir ein halbes Jahr Zeit, um die restlichen 90% zu organisieren. Letztendlich haben wir es über die Öko-Bank geschafft, die haben uns einen Kredit gegeben, für den unsere Freundinnen gebürgt haben. Jede wie sie konnte, eine mit 10.000, die andere mit ihrer Lebensversicherung, eine auch über 100.000 DM. Auf den letzten Drücker konnten wir das Geld überweisen. Unser Programm hat später, neben den vielen privaten SpenderInnen, vor allem die Stadt Hamburg, d.h. die Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales finanziert.

Das dürfte sich ja inzwischen geändert haben.

Ab nächstes Jahr wird es bitter, denn mit Hamburg ist in Folge des Regierungswechsels - wie bei vielen anderen Frauenprojekten auch - nichts mehr drin. Zwar ist der Kreis der privaten SpenderInnen im Laufe der Jahre größer geworden, was auch daran liegt, dass es jetzt auch Bildungsurlaube für Frauen aus Hamburg und Norddeutschland nach Brac gibt. Aber trotzdem ist es ein ernstes Problem für uns, dass diese Finanzierung der Stadt Hamburg jetzt wegfällt.

Ihr macht also Erholungsprogramme für Frauen und Fortbildungen für pädagogische und therapeutische Fachkräfte?

Wir machen Fortbildungen für Fachfrauen - Psychologinnen, Ärztinnen, Pädagoginnen -, die mit traumatisierten Frauen und Kindern arbeiten. Und wir arbeiten mit diesen Frauen und Kindern selbst; vor allem in den Sommermonaten. Sie bewerben sich bei uns, und ihre lokalen Organisationen entscheiden, wer es am nötigsten hat. Dann werden sie vierzehn Tage bei uns betreut. Nicht nur mit Erholen, Baden und Verwöhnen, sondern es wird auch mit ihnen gearbeitet, wenn sie das wollen. Mit den Kindern wie mit den erwachsenen Frauen. Meistens wollen sie es. Entweder einzeln oder in Gruppenarbeit. Außerdem bieten wir Burn-out-Prävention an für die Frauen, die als Helferinnen in anderen Frauenprojekten arbeiten, also z.B. für Köchinnen oder Krankenschwestern. Wir arbeiten insgesamt mit über 80 Frauenprojekten in der Region des ehemaligen Jugoslawien zusammen. Gabi macht jetzt außerdem schon zum zweiten Mal Psychodrama-Fortbildungen mit Psychologinnen. Diese Methode des Psychodrama hat sich als sehr gut erwiesen. Damit können die Frauen viel mehr anfangen als zum Beispiel mit "Sabbeln". Es wird mit Symbolen auf der Bühne gearbeitet. Du schlüpfst in verschiedene Rollen und stellst szenisch bestimmte, für dich einschneidende Situationen dar. Das ist ein kollektiver Prozess, d.h. die anderen sind an der Bearbeitung der individuellen Themen beteiligt. Aber wir bilden auch in anderen Methoden aus, z.B. Bibliotherapie für Lehrerinnen: Es gibt in den Schulen viele traumatisierte Kinder. Über bestimmte Texte - Fabeln, Märchen, Geschichten - kann man den Kindern einen Zugang bieten, um über ihre traumatisierenden Erlebnisse zu sprechen.

Die Art und Weise, wie in eurem Journal Frauen den Aufenthalt bei euch beschreiben, ist fast poetisch. Manche schreiben, sie seien nach dem Aufenthalt in eurem Haus "wieder lebendig geworden".

Das macht die Atmosphäre im Haus. Du wirst so, wie du bist, aufgenommen, egal, welche Nationalität du hast oder welche Sprache du sprichst. Und, ganz einfach: Du wirst verwöhnt. Kannst machen, was du willst. Es wird nichts aufgedrückt. Das haben wir uns zur Aufgabe gemacht. Ich bin immer ziemlich fertig, wenn ich nach Bosnien fahre, diese ganzen Ruinen, die Zerstörung, die Arbeitslosigkeit, wie eine Depression zieht sich das durchs Land. Es fällt mir schwer, die Frauen und Kinder vor Ort zu besuchen. Aber ich verstehe dann, dass das bei uns für viele Frauen wie ein Paradies sein muss. Ihr Leben lang kümmern sie sich um Kinder, Mann, Vater, Mutter. Und dann kümmert sich jemand um sie. Und das Meer tut seinen Teil dazu. Das ist was Faszinierendes. Viele haben das Meer noch nie gesehen. Was außerdem ganz wichtig ist: Wir sind antinationalistisch und das spüren die Frauen sofort.

Und wie nehmen die Frauen, die zu euch kommen, das an? Dass ihr antinationalistisch seid, heißt ja nicht automatisch, dass sie es auch sind.

Das ist ein ganz sensibler Punkt. Zunächst haben wir immer darauf geachtet, dass bosnische, serbische und kroatische Frauen und Kinder jeweils unter sich bleiben. Letztes Jahr hatten wir zum ersten Mal eine Gruppe aus drei verschiedenen Dörfern da, die auf einer Art Dreiländereck liegen. Am Anfang waren die Frauen in ihren jeweiligen Gruppen zusammen, Bosnierinnen, Serbinnen und Kroatinnen. Doch dann haben sie miteinander gearbeitet. Es war erstaunlich, was die Frauen da loslassen konnten an Schuldzuweisungen - wenn die eine hört, dass die andere genauso ihre Liebsten verloren hat und dass es für sie genauso schlimm war. Zum Schluss haben sie zusammen gefeiert und geheult, als sie sich voneinander verabschiedeten. Kürzlich sind alle zusammen aus dem kroatischen Dorf mit mehreren Privatautos in das serbische Dorf und von dort im Konvoi in das bosnische Dorf gefahren und haben sich dort in einem Haus getroffen: dreißig Menschen, Männer und Frauen. Viele haben uns erzählt, dass sie erst Angst hatten, zu SEKA zu kommen, z.B. eine Serbin, die mit einem Moslem verheiratet ist, hatte Angst, durch ihre Sprache erkennen zu geben, dass sie Serbin ist. Viele haben ihre Arbeitsplätze verloren, weil sie die falsche Religionszugehörigkeit haben.

Dieser Begriff "traumatisiert" wird ja in letzter Zeit hierzulande sehr inflationär gebraucht. Z.B. waren "wir" ja auch angeblich nach dem 11.9. traumatisiert, also nicht die Opfer in New York und Washington, sondern wir hier...

Das kann nur behaupten, wer keine Ahnung hat.

Das glaube ich auch. Ich befürchte nur, dass dieser Begriff, wenn er zum Modebegriff wird, dazu führt, dass der Unterschied zwischen einer Arbeit, wie ihr sie z.B. macht und Leuten, die in Talkshows irgendwas erzählen, nicht mehr greifbar ist. Was macht diesen Unterschied aus?

Zu uns kommen Frauen und Kinder, die z.B. monatelang im Keller eingesperrt gewesen, fast verhungert sind, ihre Angehörigen verloren haben. Die meisten haben Schreckliches gesehen und erlebt - oder sie haben nach dem Krieg Gewalt in der Familie erlebt. Es ist meistens so, dass nach jedem Krieg die Gewalt in den Familien massiv zunimmt. Im ehemaligen Jugoslawien gibt es viele stark traumatisierte Männer, um die sich niemand kümmert. Diese Väter, diese Söhne wurden, genau wie in jedem Krieg, missbraucht und sind sich jetzt selbst überlassen. Sie sind drogenabhängig oder alkoholkrank geworden, sie sind enttäuscht - und es gibt viel zu wenig Einrichtungen, die sich um diese Männer kümmern.

Gibt es überhaupt welche?

Ja, gibt es schon. Das sind Einrichtungen, die ausgehend von den Erfahrungen arbeiten, die man mit Kriegstraumatisierungen bei US-Soldaten gemacht hat, die in Vietnam waren. Aber es sind nicht genug. Im Grunde ist es so: Es wird nicht mehr geschossen. Aber es gibt auch keinen Platz, um das, was passiert ist, zu verarbeiten. Deshalb steckt man irgendwie auch immer noch mitten drin. Wenn die Kinder erzählen, was sie erlebt haben, denkst du, du bist in einem Horrorfilm. Viele von den Frauen, die zu uns kommen, haben ihre Ehemänner verloren oder wissen bis heute nicht, wo sie sind. Die Kinder sind im Krieg oder unmittelbar nach dem Krieg geboren. Ein Mädchen war bei uns, die dachte "Bohnen" wäre das Wort für "Essen". Sie hatte die ersten Jahre ihres Lebens nur Bohnen gegessen. Manche zucken immer noch zusammen, wenn ein Flugzeug kommt. Der Körper behält das in Erinnerung. Wenn du Granatenbeschuss erlebt hast oder jemand von deinen Angehörigen vor deinen Augen umgebracht wird - ich denke, um solche Traumata geht es.

Kommen auch Frauen aus den sogenannten Schutzzonen zu euch?

Ja, z.B. war eine Frauengruppe aus Gorazde (2) bei uns. Darunter waren sowohl Frauen, die in Gorazde geblieben waren und die ganze Zeit diese Horrorszenarien erlebt hatten, als auch zurückgekehrte Flüchtlinge, die anderes Schlimmes erlebt hatten. Da war viel Wut, bei denen, die geblieben sind.

Wut auf die Frauen, die weggegangen sind?

Ja, weil sie gesagt haben, ihr habt es euch leicht gemacht, seid abgehauen und habt uns im Stich gelassen. Ein ganz sensibles Thema. Was bedeutet das "Mein Land verteidigen", wenn dabei aber meine Kinder umkommen oder mein Mann. Und die andere sagt, ja, aber ich wollte meine Kinder retten. Da ist viel Stoff, worüber man reden muss. Wenn das Platz hat und ausgesprochen wird, dann merkst du, jede hat ihren eigenen Schmerz. Und das muss man einfach lernen zu respektieren. Du kannst das nicht auf die Waage stellen und sagen, siehst du, meins ist viel schlimmer als deins.

Man sagt ja, dass insbesondere die Traumatisierung von Frauen und Kindern im Krieg tabuisiert ist. Gleichwohl haftet dem Begriff "Trauma" etwas Spektakuläres an. "Enttabuisierung" würde doch aber zuallererst heißen, jenseits des Spektakulären die zähe und langfristige Arbeit an der Rückeroberung des Alltags sicherzustellen, wie sie z.B. SEKA leistet.

Ganz genau. Das ist tatsächlich ein Phänomen, dass du auf individueller wie staatlicher Ebene verfolgen kannst. Direkt nach dem Krieg gibt es ein hohes Engagement, Projekte werden gegründet, es wird privat gespendet, staatliche Töpfe werden aufgemacht. Mit der Zeit versickert das. Dann gibt es neue Kriege und das allgemeine Interesse wandert ab. Für eine Arbeit wie unsere ist das natürlich fatal. Hinzu kommt, dass die EU zum Beispiel mittlerweile ihr Geld vor allem in große Organisationen steckt, wobei die Hälfte des Geldes für die jeweilige Wasserkopf-Verwaltung drauf geht. Und wir sind ein kleines Projekt, praktisch ohne Personalkosten, mit einem bescheidenen Budget, aber auf zuverlässige kontinuierliche Unterstützung angewiesen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Kontakt: SEKA Hamburg e.V., Friedensallee 7, 22765 Hamburg, www.seka-hh.de

Anmerkungen:

1) SEKA ist die Abkürzung für "Seminarhaus" und bedeutet auf serbokroatisch außerdem "Schwester/Freundin".

2) Gorazde war seit Frühjahr 1992 als überwiegend muslimische Enklave im von den serbischen Nationalisten dominierten Teil Bosniens eingeschlossen und erlebte mehr als drei Jahre ständigen Granatenbeschuss und eine furchtbare Hungersnot.

Spendenkonten: SEKA Hamburg e.V.

Hamburger Sparkasse

BLZ: 200 505 50

Kt.-Nr. 1250/12 06 96

(Bzgl. Spendenbescheinigungen bitte deutlich Name und Adresse ins Feld "Verwendungszweck" auf den Überweisungsträger schreiben!)