Signal für Optimismus
Eine erste Bilanz des Europäischen Sozialforums in Florenz
Über 60. 000 Menschen aus Europa und allen Teilen der Welt kamen vom 6. bis zum 10. November zum ersten Europäischen Sozialforum in Florenz. Unter dem Motto "Gegen Krieg, Rassismus und Neoliberalismus" trafen sie sich in 16 Konferenzen, hunderten von Seminaren und Workshops und nahmen an der größten Antikriegsdemonstration teil, die es in Europa jemals gegeben hat - die Angaben über die Zahl der TeilnehmerInnen variieren zwischen 500. 000 laut Polizei und einer Million nach Einschätzung der VeranstalterInnen.
Vorsichtige Schätzungen während der Vorbereitung waren von 20.000 TeilnehmerInnen am Sozialforum ausgegangen, für die Demo wurden etwa 200.000 italienische KriegsgegnerInnen erwartet. Dass zu beiden Ereignissen dreimal so viele Menschen erschienen, führte einerseits zu chaotischen Zuständen, völlig überfüllten Konferenzräumen und einer Stadt, die aus allen Nähten platzte. Gleichzeitig aber herrschten euphorische Hochgefühle bei den Teilnehmenden und die Gewissheit, dass diese "Bewegung der Bewegungen" eine starke Kraft ist, die der Linken in Italien und in ganz Europa einen guten Stand in den anstehenden Auseinandersetzungen gibt, etwa bei den aktuellen Kämpfen der Fiat-ArbeiterInnen oder der europaweiten Mobilisierung gegen den angekündigten Irakkrieg.
Der Erfolg und der kämpferische Impetus des Sozialforums sind nicht unwesentlich der Tatsache geschuldet, dass es in Italien stattfand. Nirgends sonst in Europa ist die Linke so breit gefächert, so finanzkräftig und gut organisiert, aber auch personell so stark. Nirgends gibt es gesellschaftlich eine so klare Front gegen einen gemeinsamen Gegner Berlusconi, von der sozialdemokratischen DS über die Gewerkschaften und die BewegungsaktivistInnen der "Disobbedienti" bis hin zu den Antagonisti (in etwa vergleichbar mit den hiesigen Autonomen).
Dabei wurde im Vorfeld monatelang in allen italienischen Medien "der Geist von Genua" heraufbeschworen. Diffuse Ängste vor "ausländischen Gewalttätern" wurden geschürt und die Aufhebung des Schengener Abkommens forciert. Innenminister Pisanu bezeichnete in der Zeitung La Stampa die ForumsteilnehmerInnen als "gefährliche Extremisten". Berlusconi selbst verstieg sich gar im Corriere della Sera zur Behauptung, die ForumsbesucherInnen wollten "die Stadt zerstören". In Florenz selbst stand der DS-Bürgermeister unter Beschuss, weil er angeblich mit der Einladung an das Forum die unschätzbaren Kulturdenkmäler von Florenz den brandschatzenden Horden ausliefere.
Überall kursierten Gerüchte und Berichte von Waffenlagern oder von der Formierung des "Black Blocks" in Deutschland und der Schweiz, um Florenz in Schutt und Asche zu legen. Eine letzte Spitze setzte dem Ganzen die Schriftstellerin Oriana Fallaci, die selbst aus Florenz stammt, auf. In einem pathetischen offenen Brief im Corriere della Sera rief sie die EinwohnerInnen von Florenz dazu auf, tapfer zu sein, ihren Abscheu gegenüber dem Forum auszudrücken, alle Läden und Fenster zuzumachen, wie damals, als die Faschisten 1922 in Richtung Rom marschierten. Sie stellte damit die Hetze gegen das Forum auf eine Stufe mit dem antifaschistischen Widerstand gegen Mussolini. Wenn ein Moment festzumachen ist, an dem die Stimmung in Italien zu kippen begann, dann ist vielleicht dieser Brief zu nennen. Die Empörung innerhalb der liberalen Öffentlichkeit über diese perfide Gleichsetzung veranlasste sogar den Innenminister, sich von der "Überzogenheit" der Äußerungen zu distanzieren.
Je mehr bunt gekleidetes Volk aus allen Teilen der Welt in der Stadt eintraf und sich über ganz Florenz und die umliegenden Gemeinden verteilte, friedlich diskutierend oder Gitarre spielend im Park saß oder wie im Falle vereinzelter Aktionen der "Disobbedienti" mit symbolischen Besetzungen gegen das Copyrightgesetz oder Arbeitsbedingungen in Callcentern protestierte, desto mehr Geschäfte öffneten ihre Türen, umso freundlicher wurden die Gesichter der StadtbewohnerInnen. Am Tag der großen Antikriegsdemonstration blieben zwar viele Fensterläden verschlossen, aber aus ebenso vielen hingen zum Zeichen der Solidarität Bettlaken. Die AnwohnerInnen verteilten Tee und Kaffee, manche wurden auch von den DemonstrantInnen frenetisch gefeiert, wie z.B. ein alter Partisan, unter dessen Balkon die Demo immer wieder in die erste Strophe von "Bella Ciao" ausbrach. Die Reaktionen auf panisch verbarrikadierte Läden waren eher ironisch gelassen als wütend, was sich in Graffiti wie "Geschlossen auf Grund staatlicher Paranoia" oder "Zittert nicht, wir wollen eure Kinder nicht fressen" äußerte.
Sicherlich ist am Europäischen Sozialforum das Gleiche zu kritisieren wie am Weltsozialforum: Die Kirchentagsrummelatmosphäre, der Bauchladencharakter, wo politische Inhalte völlig diffus bleiben und sich bei den großen Konferenzen Prominente im Glanz der Öffentlichkeit sonnen, während die kleinen Workshops irgendwo ins Umland verlegt werden oder ganz ausfallen. Auch die nervenzehrende Präsenz von Gruppen wie Linksruck und der Socialist Workers Party, mit ihrem ständig wiederholten Mantra "One Solution, Revolution" oder Plakate mit Aufschriften wie "Solidarität mit der Intifada - keine Kompromisse mit dem Zionismus" taten dem Vergnügen am Bad in der "bewegten" Menge durchaus Abbruch.
Aber nach Genua, wo viele GlobalisierungskritikerInnen in Angst und Schrecken Italien verließen, ist dieses Ereignis ein notwendiges positives und wichtiges Signal: Wir sind viele, wir halten zusammen, wir haben etwas zu sagen und können etwas verändern. Nur was, darüber müsste jetzt tatsächlich eine ernsthafte inhaltliche Diskussion anfangen. Klar ist auch, dass für eine Massenbewegung italienischen Ausmaßes in Deutschland kein Boden vorhanden ist. Um so wichtiger also, sich mit der Frage zu beschäftigen, welche Ansätze und Impulse Florenz uns gibt und wie in diesem Land die Marginalisierung linker Positionen jenseits der rot-grünen Regierungslinie überwunden werden könnte.
Monika Bricke