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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 468 / 20.12.2002

Rendite statt Rente

Der rot-grüne Systembruch in der Rentenversicherung

Seit 1997 betreibt die rot-grüne Bundesregierung die Zerschlagung der bundesdeutschen Sozialversicherungssysteme: Von der Renten- bis zur Arbeitslosenversicherung sind gravierende Systembrüche eingeleitet worden: Raus aus der paritätischen Finanzierung, raus aus der kollektiven Verantwortung für soziale Risiken, rein in die Privatisierung von Risiken und Risikovorsorge. Mit einer kleinen Serie wollen wir diese neoliberale Revolution in der Sozialversicherung nachzeichnen. In dieser ak beginnen wir mit der sog. "Rentenreform" und der "Riester-Rente"

In 16 Jahren Kohl-Regierung schaffte Norbert Blüm nicht, was dem Sozialdemokraten Walter Riester in nur knapp drei Jahren gelingen sollte: Eine Reform des Rentensystems, die einen so gravierenden Systembruch innerhalb der Sozialversicherung brachte, dass sie einen Namensgeber verdiente. Das neueste Produkt der Lebensversicherungsbranche wurde als "Riester-Rente" zum stehenden Begriff. Tatsächlich wurde die sogenannte Rentenreform zu einem der prominentesten Reformprojekte von New Labour in Deutschland. Bemerkenswert daran ist, dass dieser qualitative Systemwechsel in der Sozialversicherung mit neo-liberaler Stoßrichtung nicht in den Jahren 1982 - 1998 in der Ära Kohl durchgesetzt wurde. Die Kohl-Regierung konnte bis auf teilweise gravierende Leistungskürzungen und restriktive Handhabung des Versicherungsprinzips keine Systembrüche in der Sozialversicherung einleiten.

Anders die neue Bundesregierung: Die rot-grüne Reform der Alterssicherung liefert das Muster für alle weiteren Veränderungen der Sozialversicherungssysteme, die rot-grün und die Unionsparteien auf die Tagesordnung der nächsten Jahre gesetzt haben. Die Rentenreform ist Leitmodell nicht nur für eine künftige sozialpolitische Architektur, sondern auch hinsichtlich der politischen Durchsetzung und hegemonialen Absicherung von neo-liberalen Systembrüchen. So ist das politische Koordinatensystem geprägt von der erfolgreichen Mobilisierung von Ressentiments im Alltagsbewusstsein (demographische Krise), Appellen an die Standortlogik (Senkung von Lohnnebenkosten) und sozialem Ausschluss (private Vorsorge und Tarifrente für wohlhabende Haushalte und Teile der abhängig Beschäftigten). Es war die eigentliche "Leistung" des Schröderschen Bündnisses für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit, die Gewerkschaften mehrheitlich in das Projekt von Lohnnebenkostensenkung und Pensionsfonds außerhalb der allgemeinen Sozialversicherungen einzubinden. (1)

Bis zum Jahre 2050 soll das Niveau der Sozialversicherungsrenten um ca. 25 % abgesenkt werden. Dies ist das zentrale Element der rot-grünen Rentenform. Die konservativen Rentenpläne sahen eine etwas moderatere Rentenkürzung über demographische Korrekturfaktoren im Leistungsrecht vor. Im Unterschied dazu wird in den rot-grünen Rentengesetzen die Privatversicherung zum entscheidenden Faktor. Die fiktive Rendite einer alternativen privaten Vorsorge wird versicherungsmathematisch und rentenrechtlich als bestimmende Größe der Rentenniveausenkungen festgeschrieben. Ein immer größerer Teil der Alterssicherung soll über kapitalgedeckte private Fonds und Versicherungen abgedeckt werden.

Nominell gilt nach wie vor eine nettolohnbezogene Rente, also eine bestimmte Relation der Renten zum aktuellen durchschnittlichen Arbeitnehmernettoeinkommen. In der neuen Nettolohnformel wird aber der private Vorsorgeanteil (ab 2008 sind das 4 % vom Bruttoeinkommen) aus dem Nettoeinkommen herausgerechnet. Diese Änderung der Formel zur Darstellung des Rentenniveaus führt zu einer Verschleierung des wahren Ausmaßes der faktischen Rentenkürzung; ein Umstand der nahezu unbemerkt blieb.
Maßstab für die Rentenhöhe ist in der Rentendiskussion die Standardsozialversicherungsrente (Durchschnittseinkommen, relativ lückenlose Erwerbsbiografie mit 45 Versicherungsjahren). Zu Beginn der rot-grünen Koalition lag dieses Niveau bei knapp unter 70%. Dieses Niveau markierte bislang in der sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Diskussion die Untergrenze einer gesetzlichen Altersversorgung, die den Lebensstandard sichert.

Bei einer Absenkung des Rentenniveaus um 15% (bis 2030 ) bzw. 25% (bis 2050) wird die Sozialversicherungsrente (angenommen ist eine Normalerwerbsbiografie nach heutigem Sozialhilfe- und Sozialversicherungsrecht) dann nur noch knapp über dem Sozialhilfeniveau liegen. Für eine Vielzahl von ArbeitnehmerInnen mit heute typischen unsteten Erwerbsbiografien ist eine Kappung der Sozialversicherungsrenten in dieser Größenordnung ein Einkommensabsturz ins Bodenlose; ein Absturz, der bei den angespannten Privatbudgets auch nicht durch private Vorsorge kompensiert werden kann. Die Annäherung der Sozialversicherungsrenten an das Sozialhilfeniveau wird die Akzeptanzkrise der Sozialversicherung verschärfen. Schlimmer noch, in der Logik des Lohnabstandsgebots in der Sozialhilfe sind Absenkungen von Sozialhilfeleistungen vorprogrammiert: Die Renten sind ja aus den Erwerbseinkommen abgeleitet, und in der herrschenden Logik muss die Differenz zwischen Sozialhilfe und Sozialversicherungsrenten gewahrt werden.

Die von vielen geforderte Grundsicherung für GeringverdienerInnen innerhalb des sozialen Rentensystems wurde beerdigt. Übrig geblieben ist die Überlegung, Sozialhilfe für Menschen ab 65 mit etwas weniger Bürokratie und Schikanen zu gewähren. In der ersten rot-grünen Koalitionsvereinbarung war noch von einer bedarfsabhängigen sozialen Grundsicherung für RentnerInnen die Rede gewesen. Doch im Vergleich zu einer sauberen rentenrechtlichen Ausgleichslösung war auch das deutlich zu kurz gesprungen. Durch einen fairen rentenrechtlichen Ausgleich von Erziehungszeiten und Phasen sehr niedriger Erwerbseinkommen hätte es für viele Menschen eine bessere Lösung - weil mit robusten Sozialversicherungsansprüchen verbunden - gegeben. Eine Lösung übrigens, die die Arbeitgeber über ihren Anteil am Rentenversicherungsaufkommen auch mitfinanzieren müssten.

Entgegen aller Rhetorik wird nun die Anpassung der Sozialversicherungsrenten auch dauerhaft von der Nettolohnentwicklung abgekoppelt. Dadurch, dass die Veränderung des Vorsorgeaufwands bei der Steigerung der Nettolöhne herausgerechnet wird, werden nämlich die künftigen Dynamisierungen der Sozialversicherungsrenten gestaucht. Im übrigen wurde der Beitragssatz für die Rentenversicherung im Interesse der Arbeitgeber bis 2030 (!) auf 22% festgeschrieben.

Den propagierten privaten Vorsorgeformen fehlt jede soziale Dimension. Keine Privatversicherung und kein Investmentfonds kümmert sich z.B. um die rentenrechtliche Würdigung von Erziehungszeiten oder um das Risiko von Erwerbs- und Berufsunfähigkeit bzw. um eine adäquate Hinterbliebenenversorgung. In der Tarifkalkulation von privaten Renten- und Lebensversicherungen ist die Diskriminierung von Frauen von vorne herein eingebaut. Außerdem haben viele ArbeitnehmerInnenhaushalte nicht den notwendigen finanziellen Spielraum für Sparrücklagen oder weitere Lebensversicherungen.

Entgegen dem Versprechen von sicheren Renten werden diese durch private Versicherungen oder kapitalgedeckte Pensionsfonds durchaus unsicherer. Die Kalkulation der Abschläge bei der gesetzlichen Rente in den nächsten 40 bis 50 Jahren (!) beruht auf einer willkürlich gesetzten hypothetischen Rendite der privaten Vorsorge in Höhe von kontinuierlich 5,5 Prozent bzw. 4 Prozent. Angesichts eines solch langen Zeitraums ist so viel Vertrauen in die Inflationsresistenz und Stabilität der nationalen und vor allem internationalen Kapitalmärkte abenteuerlich. Aber jenseits dieses allgemeinen Rendite-Glaubensbekenntnisses ist die private Altersversorgung auch aus systematischen Gründen unsicher. Die Inanspruchnahme der Fonds für Renten führt systematisch immer wieder zu ihrer Auflösung, was drastisch sinkende Renditen zur Folge haben wird.

Es liegt auf der Hand, dass ein zusätzlicher Kapitalfonds zur Kompensation der gesetzlichen Rentenkürzungen mit allen damit verbundenen Risiken international angelegt wird. Ein privatisiertes Rentensystem in der Größenordnung, wie von SPD, Grünen und Union vorgesehen, muss seine Erträge außerhalb der nationalen Ökonomie erwirtschaften. Mit anderen Worten: Die (hohe) Rendite muss auch in den Schwellenländern erwirtschaftet werden. Die entstehenden Widersprüche zwischen internationaler Gerechtigkeit und dem Druck, hohe Renditen für die Versicherten und PensionärInnen herauszuschlagen, sind gewaltig und nur schwer lösbar. Dazu kommt noch eine permanente Interessenkollision zwischen den (zukünftigen) RenterInnen, die von den Pensionsfonds abhängig sind, und den ArbeitnehmerInnen in den Unternehmen, in die Pensionsfonds und Versicherungen investieren. Bisweilen werden diese Gruppen identisch sein und damit doppelt abhängig vom Arbeitgeber und Unternehmen.

SPD und Grüne verschweigen tunlichst, dass die Verteilungswirkung der erzwungenen kapitalgedeckten Parallelrente verheerend ist. Im Vergleich zu einer Erhöhung der Beitragssätze zur gesetzlichen Rentenversicherung (oder besser noch einer Verbreiterung ihrer Einnahmebasis) ist mit der Teilprivatisierung der Alterssicherung eine drastische Entlastung der Arbeitgeber verbunden. Die Rente wird nämlich nicht mehr paritätisch finanziert. Die ArbeitnehmerInnen alleine tragen die Last der privaten Vorsorge.

Aber es ist noch eine weitere systemische Veränderung bemerkenswert: Dadurch, dass die Privatrente statistisch aus der Ermittlung der Nettolöhne - und damit aus der Basis der Sozialrenten - herausgerechnet wird, wird bei den Sozialrenten eine Absenkungsspirale festgeschrieben. So wirken sich die private Vorsorge gerade der "Besserverdienenden", aber auch tarifliche Regelungen zur Altersversorgung unmittelbar senkend auf die Sozialrenten aus.

Daher kann es auch keinen tarifpolitischen Befreiungsschlag aus der Rentenmisere geben, auch wenn betriebliche Altersversorgungsmodelle durch Änderungen im Einkommenssteuer- und Sozialversicherungsrecht besonders forciert werden (noch stärker als die individuelle private Vorsorge). Eine für den Einzelnen attraktive betriebliche Altersversorgung ist immer durch Steuervorteile für ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen sowie durch Beitragsbefreiungen bei den Sozialabgaben gekennzeichnet. Oder aber sie geht zu Lasten anderer Gruppen: Es ist eine Minderheit von meist männlichen Beschäftigten, die in den Genuss wirklich attraktiver tariflicher Regelungen oder Vereinbarungen zur betrieblichen Altervorsorge kommt. Den Beschäftigten in Kleinbetrieben, den meisten Frauen und allen ArbeitnehmerInnen in Niedriglohnbranchen ohne nennenswerte betriebliche oder tarifliche Zusatzversorgung kommen diese Regelungen teuer zu stehen.(2)

Andreas Bachmann

Bei diesem Beitrag handelt es sich um den ersten Teil eines umfangreicheren Artikels, der unter dem Titel " Privatisierung der Sozialversicherung und aktivierender Staat - von der Riester-Rente zur 3-Klassen-Medizin" in Widersprüche. Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, Heft 85, 3/2002, erschienen ist.

Anmerkungen:

1) Bereits im ersten Spitzengespräch vom 07.12.1998 des Bündnisses wurde die "dauerhafte Senkung der Lohnnebenkosten und eine strukturelle Reform der Sozialversicherung" vereinbart.
2) Zur Zeit haben nur 12% der Arbeitnehmerinnen in Westdeutschland einen Betriebsrentenanspruch. Der liegt bei durchschnittlich 150 EUR. Bei den Männer sind es 40 % mit einem durchschnittlichem Anspruch von 300 EUR.