Erweiterung der Abschottung
EU-Gipfel in Kopenhagen: mehr Militarisierung, Armut und Ausgrenzung
Mit Schaumstoff und Helmen ausgerüstet durchbrechen etwa 1.000 DemonstrantInnen am 14.12. eine Absperrung der dänischen Polizei. "Die Demonstration betritt die verbotene Zone", tönte es aus dem Lautsprecherwagen der Cops. Alle, die dies tun, würden sogleich verhaftet werden. Aus dem Lautsprecherwagen der Globalen Basis, die das Happening mit organisiert hat, wird mit der Aufforderung reagiert, die Hände zu heben und langsam weiterzugehen. Die DemonstrantInnen zögern nur kurz, bevor sie die gesperrte Zone betreten. Was nicht so schwer ist, denn die verbotene Zone ist nur durch ein einfaches Plastikband gesichert. Erst ein paar hundert Meter weiter stehen die Mannschaftswagen der Polizei. Kurz vor dieser zweiten Absperrung stoppt die Demonstration. Die Kameras der hier reichlich vertretenen Presse surren, ein paar Interviews werden gegeben - und die Demonstration ist beendet. Der Gegenstand des Protestes, das Gipfeltreffen der EU-Regierungschefs, ganz in der Nähe, aber doch ganz weit weg, von 6.000 PolizistInnen und noch mehr Metern Stacheldraht geschützt.
Symbolischer konnten die Proteste gegen den EU-Gipfel nicht sein - von der konfrontativen Taktik, von der die Globale Basis zuvor gesprochen hatte, war jedenfalls nichts zu sehen. Und trotzdem waren nachher alle zufrieden: Die VeranstalterInnen der zahlreichen Gegendemonstrationen, die dänische Regierung, die dänische Opposition, die internationale Presse und, last but not least, die Verantwortlichen für den Polizeieinsatz. Tatsächlich hatten vor allem letztere mehr als genug Grund, mit sich zufrieden zu sein. Denn die Polizeitaktik war ausgesprochen erfolgreich: Die große Linie des Einsatzes war, immer freundlich und "demokratisch" zu sein, wenn die Kamera eines größeren Fernsehsenders eingeschaltet war. Bei der Überquerung der Grenze ließ man italienische tutti bianchi sogar eine halbe Stunde eine Protestblockade veranstalten. Anschließend wurde der Bus großzügig durchgewinkt: "Auf nach Kopenhagen". Aber stopp, nicht ganz, denn auf einem Parkplatz vor der Stadt wurde der Bus ordentlich gefilzt. Und einige Stunden später wurden die sechs SprecherInnen der Gruppe verhaftet, um im städtischen Gefängnis auf das Ende der Proteste zu warten. Warum wurden sie verhaftet? "Well, because they are Italiens", war die Auskunft des Pressesprechers der Polizei. Eine Begründung von ähnlicher Qualität wird wohl für die Verhaftung einer achtköpfigen Tanzgruppe aus Estland hergehalten haben, die auf der völlig unpolitischen Durchreise zu einer Aufführung in Frankreich war. Nach dem Wochenende zählte die Polizei 94 Verhaftungen, die Repression nahm erfreulicher Weise nicht das Ausmaß von Göteborg an; sie war unauffälliger, aber zugleich effektiver.
Ausbau der Festung Europa
Die Polizeiführung konnte aber nicht nur mit sich selbst zufrieden sein. Während in den Monaten vor dem Event von dem allergrößten Teil der dänischen Zeitungswelt und der Polizei die DemonstrantInnen immer wieder als "gefährliche Chaoten" gebrandmarkt wurden, betonte die Polizei nun die "hervorragende Disziplin" der Demonstrierenden und die Fähigkeit, "ihre Botschaft unter die Leute zu bringen".
Tatsächlich standen bei den meisten Veranstaltungen die Inhalte im Vordergrund. So thematisierte eine große Demonstration das mörderische Grenzregime der EU, dem jährlich hunderte von Menschen zum Opfer fallen. Auf einer Konferenz wurden in beeindruckender Weise die Folgen der Privatisierungspolitik thematisiert - von den Unfällen bei British Rail bis zum Verkauf der Lebensgrundlagen in Indien. Ein ganzes Wochenende wurde gegen das EU-Militär, gegen den Irak-Krieg, für ein "anderes Europa" demonstriert. Die VeranstalterInnen zählten bis zu 15.000 TeilnehmerInnen, die meisten von ihnen aus Dänemark, etwa jede/r zehnte aus anderen skandinavischen und jede/r zwanzigste aus anderen europäischen Ländern. Ein Erfolg, zweifellos.
Dennoch: Dass die Botschaft rübergekommen ist, darf bezweifelt werden. Denn das positive Gefühl, das die genannten Veranstaltungen den TeilnehmerInnen und den PassantInnen vermittelte, fand sich marginal in der dänischen Presse wieder, noch weniger in der skandinavischen und überhaupt nicht in der europäischen. BBC berichtete in einem zweiminütigen Beitrag, einige tausend hätten in Kopenhagen gegen die EU-Osterweiterung protestiert, die FR brachte einen Mehrzeiler im hinteren Teil des Blattes und die Jungle World ein Foto mit einer Bildunterschrift, die im wesentlichen besagte, dass nichts los war.
Die gesamte bürgerliche Presse hatte sich mangels spektakulärer Straßenschlachten auf die andere Seite der Stacheldrahtzäune begeben, um über das wirkliche "historische Ereignis" zu berichten, das dort stattgefunden haben soll. Im Bella Center von Kopenhagen wurden am 15.10. nämlich wie bekannt zehn Staaten in die EU aufgenommen. Angesichts dieses Umstandes war der Jubel überall groß: "Wir haben die europäische Teilung endgültig überwunden" hieß es. Seit 1989 ist die europäische Öffentlichkeit süchtig nach dem "Flügelschlag der Geschichte", wie es die linksliberale dänische Tageszeitung Information nannte. Bei solchen Gelegenheiten zitiert dann selbst dieses als kritisch ausgewiesene Blatt noch das Entstehen "einer europäischen Supermacht im Gegensatz zur USA" als positives Ereignis. Die EU beginnt auf weltweiter Ebene mit den USA zu konkurrieren. Dass in den fünf Kriegen, an denen sie in den letzten dreizehn Jahren, meist eingebunden in die NATO, teilgenommen haben, mehr und anderes als die Verteidigung der Menschenrechte im Spiel waren, fällt unter den Tisch.
Und Europa rüstet auf: Auf der letzten NATO-Tagung in Prag wurde den europäischen Ländern, auch den in diesem Fall sieben neu beigetretenen, eine Steigerung ihrer Rüstungspotenziale in strategischen Bereichen um bis zu 40% auferlegt: Neuartige Präzisionswaffen, Flugabwehrraketen, Transportflugzeuge, mobile Kommandozentralen usw. sind nur einige der Felder, auf denen Europa der bedingungslosen Hochrüstung der USA folgt. Bis 2006 soll, neben den ohnehin existierenden Interventionsarmeen, eine mobile Eingreiftruppe mit 21.000 Mann und Frau geschaffen werden, die sowohl der NATO als auch der EU dienen wird.
EU-"Sozialpolitik": Bekämpfung
der Armen
Mit dem Gipfeltreffen von Kopenhagen ist, eine Zustimmung bei den Volksabstimmungen in den Beitrittsländern vorausgesetzt, das Fort Europa größer geworden. Es passt ganz gut, dass der "historische" Gipfel in einem Land stattfand, das von einer Regierung der Neuen Rechten geführt wird und in dem die rassistische Dänische Volkspartei das Zünglein an der parlamentarischen Waage ist. Während der dänische Staatschef nach dem Kopenhagener Wochenende überall als Oberdemokrat in den Himmel gehoben wurde, hat man schon fast die Übergriffe des dänischen Staates auf Flüchtlinge und den unbequemeren Teil der politischen Opposition vergessen, die seit dem Regierungsantritt der Rechten vor genau einem Jahr inszeniert wurden. Während die Verhandlungen in der Öffentlichkeit so präsentiert wurden, als ginge es um die Subventionen für polnische Landwirte, ging unter, dass fast die Hälfte des Betrages, den der polnische Regierungschef Miller im Bella Center zugestanden bekam, für den Ausbau der Befestigung der europäischen Außengrenzen gedacht ist.
Parallel zu den Verhandlungen in Kopenhagen diskutiert die EU über eine Verschärfung ihrer Politik gegen Flüchtlinge. Flüchtlinge sollen künftig jederzeit ausgewiesen werden können, wenn sich die Lage im Herkunftsland nach Meinung der hiesigen Regierung geändert hat. Unabhängig davon sollen Menschen deportiert werden dürfen, die nach Meinung der EU-Staaten ein "Sicherheitsrisiko" darstellen. Sören Söndergaard, Abgeordneter der Einheitsliste im dänischen Parlament, kommentierte dies so: "Das ist für uns das Gegenteil von Freiheit. Wir wollen nicht, dass die Grenzen verschoben, sondern dass sie geöffnet werden."
Auch die Frage der Subventionen, die in der medialen Berichterstattung viel Raum einnahm, hat etwas mit Grenzen bzw. mit Ausgrenzung zu tun. Den polnischen Bäuerinnen und Bauern, die fortan aus EU-Töpfen (wenn auch unter europäischem Durchschnitt) gefördert werden, steht eine Rationaliserungswelle ohnegleichen bevor. Das System der EU-Landwirtschaftspolitik treibt die Zentralisierung der Landwirtschaft an. Es ist in erster Linie gegen die BäuerInnen der sogenannten Dritten Welt gerichtet, die durch eine Mischung aus Exportsubventionen, Überproduktion und Einfuhrzölle in den Ruin getrieben werden. Dieses Schicksal steht jedoch auch der Masse der polnischen BäuerInnen bevor. In Dänemark gab es zur Zeit des EU-Beitrittes 1972 noch 130.000 selbstständige Landwirte, davon sind seitdem mehr als 110.000 verschwunden. Die Zentralisierung der Landwirtschaft ist mit großen ökologischen Problemen, kontinuierliche "Lebensmittelskandale" inklusive, verbunden. Als wollte man dies illustrieren, beschlossen die Regierungschefs in Kopenhagen, einen Teil der Finanzierung des Beitritts der "neuen" EU-Staaten aus dem umweltpolitischen Fonds der EU zu entnehmen. Die Hoffnung der polnischen Landwirtschaft kann nur darin bestehen, durch den EU-Beitritt in der Standortkonkurrenz mit Drittstaaten mehr zu gewinnen, als durch die Konkurrenz mit der High-Tech-Landwirtschaft der etablierten Staaten der Gemeinschaft verloren wird.
Im europäischen Rahmen ist es richtig, wenn die Jungle World in ihrem Extra zu Kopenhagen schreibt, dass die EU "größer, ärmer und deutscher" wird. Innerhalb der Beitrittsländer wird die seit Anfang der 1990er-Jahre aufgetretene soziale Spaltung verschärft werden. Besonders in ländlichen Gebieten wird die Erwerbslosigkeit und die Armut noch mehr zunehmen. Dies, wie die Jungle World, lediglich als Problem des Nationalismus zu begreifen, ist jedoch mehr als oberflächlich. Dass die Zentralisierung des Reichtums und die Zunahme der Armut in einigen osteuropäischen Staaten das Aufkommen von Rassismus und Antisemitismus fördern, ist eine Tragödie. Dies sollte dazu anregen, sich mit den Ursachen dieser Tendenzen auseinander zu setzen, statt einfach zu behaupten, dass Armut zu Rassismus führe, um dann zur Tagesordnung überzugehen.
Kein Ende
der Proteste
Die Ignoranz gegenüber sozialen Problemen, die aus solchen Veröffentlichungen spricht, ist systemkonform. Sie stimmt mit der Einschätzung der EU-Kommission überein, die das Problem der Erwerbslosigkeit in Europa ignoriert und stattdessen ein Problem des Arbeitskräfteangebotes herbei definiert. Ein paar Wochen, bevor im Bella Center schöngeredet wurde, hat der EU-Kommissar für Beschäftigung und Sozialpolitik (sic!) auf Lanzarote ein Konzept des "Aktiven Alterns" entwickelt, das auf folgender Grundlage beruht: "Ältere Menschen dürfen und können nicht als verletzliche Gruppe betrachtet werden, die eine besondere Aufmerksamkeit verdient. Sie sind ein notwendiger Teil der Arbeitskraftreserve." Und es kommt noch besser: "Wie können wir verteidigen, dass diese Menschen fünf Jahre früher in Pension gehen als ihre Eltern?" Und - es müsse Schluss sein mit dem unangemessenen Anspruchsdenken einer - Zitat - "verhätschelten Generation der über 50-Jährigen".
Dass der Zugang zu Arbeitslosengeld zu leicht sei, die Konkurrenz unter den Beschäftigten zu gering, die Zahl der Zeitarbeitskräfte zu niedrig usw. ist mittlerweile common sense in der europäischen Elite. In dieser Hinsicht erscheint das Hartz-Papier keinesfalls als besonders originell. Die europäische Sozialpolitik geht mittlerweile in bedrückender Einheit von dem Konzept aus, dass Armut am besten bekämpft werden kann, indem man die Armen bekämpft.
Die Botschaft der Proteste kam in der bürgerlichen Öffentlichkeit keineswegs an. Dazu war die Gegenöffentlichkeit, die die Proteste erzeugt hat, noch viel zu schwach. Und trotzdem: Die Ansätze, die auch in Kopenhagen entstanden sind, ob sie von der ad hoc Zeitschrift moskito, von KünstlerInnen oder von den vielen dezentralen Aktionen ausgingen, sind sehr wichtig. Viele, die die sogenannte Anti-Globalisierungsbewegung kommentieren, haben in letzter Zeit von Stagnation oder sogar vom Ende der Bewegung geredet. Das mag sein, in Kopenhagen sah es jedoch so aus, als sei die Bewegung erst am Anfang. Was dann am Ende doch Grund genug für eine positive Bilanz ist.
kb