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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 469 / 17.1.2003

Das Tischtuch ist zerschnitten

Jürgen Elsässer über den Irakkrieg und seine Kündigung bei konkret

Jürgen Elsässer wurde im November von konkret gekündigt. Anlass war sein "Versuch, seine eigene politische Neuorientierung gegen den Willen des Herausgebers und der Redaktion sowie auf Kosten anderer konkret-Autoren auf die Zeitschrift zu übertragen", wie es kryptisch im Editorial der aktuellen konkret heißt. Der Geschasste fand in einer Polemik in der jungen Welt (7.12.02) deutlichere Worte: "Was in der konkret-Redaktion zum Bruch geführt hat ...: die Haltung zur drohenden US-Aggression, damit zusammenhängend die Einschätzung der Friedensbewegung."

In deiner Polemik schreibst du, wir befänden uns in einer Situation, wo eine Mehrheit der linken Kriegsbefürworter eine gemeinsame Diskussion gar nicht mehr wolle, sondern versuche, durch Denunziation der Kriegsgegner als Antisemiten eine solche Debatte zu verhindern. Gibt es da eigentlich für eine gemeinsame Diskussion noch eine Grundlage?

Eine gemeinsame Diskussion wird dadurch wirklich fast unmöglich gemacht. In einem Artikel in der Dezember-konkret war etwa von der "Einigkeit von Hamas bis Attac" die Rede. Mit solchen Äußerungen wird das Tischtuch zerschnitten. Indem man den Antisemitismus-Vorwurf so inflationär und unscharf verwendet, will man sich einen moralischen Feldvorteil in einer Diskussion verschaffen, die doch eigentlich vor allem auf Sachargumenten gründen müsste.

Erstaunlich, das von dir zu hören. In den 90er Jahren hast du ja auch eher zu einem inflationärem Gebrauch des Antisemitismus-Vorwurfs geneigt. Befindest du dich heute in der Situation des Zauberlehrlings, der Geister rief, die außer Kontrolle geraten sind?

Für mich war 1989/90 vollkommen klar, dass man sich gegen die Wiedervereinigung stellen muss. "Deutschland denken heißt Auschwitz denken" - das Grass-Diktum hat mich elektrisiert. Damals habe ich mich oft gefragt, warum das anderen nicht ebenso gegangen ist. Dabei bin ich darauf gestoßen, dass gewisse Teile der Linken - und da nehme ich mich nicht aus - sich bis dahin zu wenig mit dem Nationalsozialismus, mit der Besonderheit des deutschen Antisemitismus und der Singularität des Holocaust beschäftigt hatten und von einer kalten Indifferenz gegenüber Juden bestimmt waren. Dies zu diesem Zeitpunkt in aller Schärfe zu diskutieren, fand ich richtig. Deshalb habe ich zwar die Intervention von Gremliza und konkret im Golfkrieg 1991 in der Zuspitzung pro Krieg abgelehnt. Gleichzeitig fand ich richtig, dass sie an der Frage des Antisemitismus eine Polemik begonnen haben, denn dazu bestand Anlass: Positionen, wie sie heute Möllemann vertritt, waren damals in der Linken gang und gäbe, ja man hat sogar - siehe Hafenstraße - Israel das Existenzrecht generell abgesprochen.

Ich betone: Das war einmal. Der Antisemitismus in der Linken ist seither deutlich zurückgegangen. Parallel dazu ist die Kritik am linken Antisemitismus zu einem Modeartikel geworden. Es ist schon pervers: Wenn vor zwanzig Jahren ein Linker gesagt hat, er sei für Israel, galt er als Faschist. Schließlich galt das Axiom: Zionismus = Faschismus. Wenn heute ein Linker Kritik an Israel äußert, gilt er als Nazi. Schließlich lautet das neue Axiom: Antizionismus = Antisemitismus. Wäre es nicht endlich mal an der Zeit, von diesen Pawlow'schen Reflexen wegzukommen und die Wirklichkeit zu untersuchen?

Es ist unglaublich, wie arische Jüngelchen ihre Karriere als Intellektuelle in der Berliner Republik aufbauen wollen auf der Ausschlachtung des Schicksal von sechs Millionen toter Juden. Man versteckt sich hinter den Opfern des Holocaust und macht Propaganda für den Krieg. Man vermengt alles mit allem. Frappierend dabei ist, wie die Tabuzone immer mehr ausgeweitet wird. Dass man in Deutschland bei der Kritik an Israel immer bestimmte antisemitische Resonanzen in der Öffentlichkeit berücksichtigen muss, ist völlig richtig. Aber mittlerweile wird ja sogar die Kritik an den USA, d.h. an dem mächtigsten imperialistischen Staat der Welt, unter den Antisemitismus-Verdacht gestellt. Und das ist tatsächlich eine fragwürdige Entwicklung. Meine eigene Rolle will ich da gar nicht ausblenden.

Was ist aus deiner Sicht der Unterschied zu der Diskussion während des Golfkriegs 1991, als du ja auch eine andere Position bezogen hattest als Gremliza, gleichwohl zu den Wortführern der Antideutschen zähltest?

Der Golfkrieg 1991 und der anstehende Irak-Krieg sind nicht zu vergleichen, auch wenn die Diskussion darum in der deutschen Linken gewisse Ähnlichkeiten aufweist.

1991 wurden irakische Raketen, modernisiert von deutschen Firmen, bestückbar mit Giftgas aus deutscher Produktion, auf Israel abgeschossen. Wenn man in der damaligen Situation gesagt hat, unsere Solidarität als Antifaschisten verpflichtet uns, den US-Angriffen auf das Land, von dem diese Bedrohung für Israel ausgeht, zuzustimmen, war das zwar nicht richtig, aber verständlich. Das ist ein Unterschied zu heute. Die damalige Position, die man nicht in der Endkonsequenz - also der Kriegsbefürwortung - teilen muss, und ich habe sie nicht geteilt, hat vom Ansatz her zumindest einen Realitätsbezug und ist im Ansatz sympathisch. Es gab diese Raketen, es gab dieses Giftgas, es gab die deutsche Verantwortung für die Hochrüstung des Irak.

Heute, wo es diese Raketen nicht mehr gibt, wo es dieses Giftgas nicht mehr gibt, wo es in den letzten Jahren eine deutsche Zulieferung für irakische Massenvernichtungswaffen nicht mehr gab, in einer völlig anderen Situation also wieder dieselbe Schiene zu fahren wie damals, deutet auf völligen Realitätsverlust hin. Da lobe ich mir jemanden wie Michael Brumlik, der 1991 die Grünen verlassen hat, weil die sich gegen die Lieferung von Patriot-Raketen zum Schutze Israels ausgesprochen hatten. Heute aber ist er entschieden gegen den Krieg, weil es die entsprechende Vorgeschichte und das entsprechende Bedrohungsszenario nicht gibt. Vielleicht könnte man sagen: Wer 1991 nicht für Patriot-Lieferungen an Israel war, hatte kein Herz. Wer 2002/2003 immer noch dafür ist, hat keinen Verstand.

Du kritisiert die "Einschüchterungsprosa", die viele Debattenbeiträge ausmacht, und wetterst gegen das Fehlen jeglicher konkreter Untersuchungsarbeit. Wäre an diesem Punkt nicht ein wenig Selbstkritik angesagt, wenn ich da z.B. an deinen berühmt-berüchtigten "Fuck-the-IRA"-Kommentar von 1996 denke?

Zu Nordirland habe ich mich nur einmal in diesem jW-Kommentar geäußert, der mir dann auch in der interim eine Titelseite eingebracht hat. Das war damals aus der Hüfte geschossen. Sicherlich würde ich das heute so nicht mehr schreiben.

Von der nordirischen Feinheit allerdings abgesehen, war der Ansatz richtig, gegen den Vormarsch des neuen Deutschland in Osteuropa und auf dem Balkan auch mit bürgerlichen Kräften zusammenzuarbeiten. In der konkreten Situation damals musste man durch konkrete Analyse zu der Auffassung zu kommen, dass der Hauptfeind zumindest in Europa Deutschland heißt. Leider haben Etliche die damalige Analyse nicht im Licht der weiteren Entwicklung überprüft. Meine Hypothese - Achtung: Hypothese, nicht These, das heißt vorläufig und klärungsbedürftig: Der deutsche Vormarsch, der 1989 mit dem Mauerfall einsetzt, ist ungefähr 1995 ins Stocken gekommen. Ein deutliches Zeichen war der kürzliche NATO-Gipfel in Prag, wo die Europäer sich damit abfinden mussten, dass ihre viel gerühmte schnelle Eingreiftruppe zwar installiert wird - aber unter US-Befehl. Ein anderes Beispiel: Das deutsche Kapital hat Osteuropa hegemonial durchdrungen, trotzdem haben in der Irak-Krise die osteuropäischen Regierungen nicht die Position von Schröder gestützt, sondern die von Bush.

Meine damalige Position, einmal von der IRA-Verirrung abgesehen, ein Bündnis mit thatcheristischen, gaullistischen Kräften gegen Deutschland zu suchen, sehe ich weiterhin als richtig an. Aber die heutige Situation ist eine andere. Wir brauchen eine neue Imperialismus-Analyse, wir brauchen eine genauere Bestimmung, was die aggressivsten Teile des imperialistischen Blocks sind.

Wie bewertest du vor diesem Hintergrund die Haltung der Schröder-Fischer-Regierung zum Irakkrieg?

Anders als auf dem Balkan ist Deutschland in diesem Fall nicht die führende aggressive Kraft. Der Krieg wird von den USA geführt werden. Die Schröder-Regierung hatte kein Interesse daran und das deutsche Kapital eigentlich auch nicht. Denn in diesem Krieg werden die deutschen Absatzmärkte bombardiert werden, und das irakische Öl ist für Deutschland eigentlich uninteressant, weil wir unser Öl von Putin kriegen. Dass man jetzt trotzdem mitmacht - und die treibende Kraft bei diesem Umfallen ist eindeutig der Außenminister -, interpretiere ich nicht als Kotau oder als Ausdruck von Vasallenmentalität, wie es Teile der Friedensbewegung tun. Ich sehe es vielmehr als Resultante eines übergeordneten deutschen Kapitalinteresses, das die deutschen Regionalinteressen im Nahen Osten überlagert: die deutsch-amerikanische Kapitalsymbiose.

Was heißt das für die Situation heute?

Wir stehen heute vor einer ungeheuren imperialistischen Herausforderung, die alles übertrifft, was wir in den letzten Jahrzehnten hatten, nämlich dem Versuch, angeführt von den USA, unterstützt von Deutschland, eine umfassende globale Neuordnung mit kriegerischen Mitteln zu erzwingen. Angesichts dieser Situation versagt wieder ein Teil der Linken; wie 1989/90 bildet sich eine breite Strömung aus Kapitulanten und Kollaborateuren heraus. In dieser Situation sage ich dasselbe wie 1989/90 angesichts der Wiedervereinigung: Es müssen die entschiedenen Gegenkräfte gesammelt werden, über die bisherigen Brüche und Verwerfungen hinweg, die sich in den letzten zehn Jahren ergeben haben.

Du schließt also Frieden mit der Friedensbewegung?

Es hat sich leider mittlerweile ein falsches Bild der Friedensbewegung der 80er Jahre durchgesetzt. In der Dezember-konkret heißt es etwa, die damalige Friedensbewegung sei eine "deutschnationale Erweckungsbewegung" gewesen. Vielleicht findet sich auch in Aufsätzen von mir eine solche oder eine ähnliche Formulierung.

Es gab Ende der 80er Jahre unter den kommunistischen Kadern, die in der Friedensbewegung aktiv waren, unter anderem auch bei mir, eine große Enttäuschung, dass sich die Friedensbewegung angesichts der Wiedervereinigung affirmativ oder passiv verhalten hat. Das damals in Schärfe und vielleicht auch in Übertreibung zu kritisieren war richtig. Man hat den Patienten geschüttelt, um ihn wach zu machen. Aber aus der Distanz, aus einem kühlen Abstand von zwölf Jahren, die Friedensbewegung weiterhin als "deutschnationale Erweckungsbewegung" zu bezeichnen, entspricht nicht den Tatsachen. Die Peacenicks kämpften nicht gegen die DDR-Annexion - das heißt aber noch lange nicht, dass sie sie begrüßten. Das traf auf Leute wie Mechtersheimer zu, aber bestimmt nicht auf die Masse der Aktivisten aus dem DKP- und linkem SPD-Umfeld.

Deine Kritik gegen linken Antisemitismus hast du gerade selbst als bittere Medizin bezeichnet, die den Patienten heilen sollte. Nach zehn Jahren antideutscher Diskurshoheit in der deutschen Linken sieht es ganz so aus, als sei die Dosis zu hoch gewesen und der Patient tot. Oder wie erklärst du dir die zum Teil aberwitzige Debatte in Teilen der deutschen Linken über Vor- und Nachteile des bevorstehenden Krieges?

In der Situation der Wiedervereinigung, in der Situation der Pogrome in Hoyerswerda und Rostock, in der Situation, als Deutschland Jugoslawien zerschlagen hat, war es absolut notwendig, hoch zu dosieren. Aber heute muss die Polemik zurückgefahren werden. Notwendig ist eine sachorientierte, streng an den Fakten orientierte Debatte, vor allem was den Nahen Osten angeht.

Die einen bezeichnen Sharon als Wiedergänger Hitlers, die anderen bezeichnen Arafat als Wiedergänger Hitlers - das bringt uns doch nicht weiter, das ist doch in beiden Fällen Geschichtsrevisionismus. Ein Fortschritt wäre es dagegen, wenn Leute aus den verschiedenen Spektren bestimmte Schlüsselereignisse ganz konkret untersuchen. Etwa die Verhandlungen in Camp David im Sommer 2000. Was hat Barak angeboten, was hat Arafat angeboten, und woran ist ein Kompromiss letzten Endes gescheitert. Solche konkreten Untersuchungen bringen mehr als die ideologischen Gemetzel.

"Der Hauptfeind steht im eigenen Land. Mit Bush, Saddam, Arafat und Sharon müssen deren Untertanen fertig werden. Unsere Antisemiten heißen Walser und Möllemann, unsere Kriegstreiber Schröder und Fischer", hast du in der jWgeschrieben. Bist du also wieder bei Lenin gelandet?

Ich war noch nie weg von Lenin. Ohne dass man als Linker Lenins "Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus" gelesen hat, sollte man gar nicht an den Start gehen. Hört mir bloß auf mit diesem Negri und der Biopolitik, das ist doch alles Bluff.

Man kann gegenwärtig doch drei historische Analogien ziehen: Da gibt es die eine Variante, wie sie von der pro-amerikanischen Linken vertreten wird, wonach die aktuelle Situation mit der vor dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar ist, dass Deutschland und seine Verbündeten die eine Seite bilden und dagegen die USA und eine Anti-Hitler-Koalition im neuen Gewand stehen. Dann gibt es Kräfte in der Friedensbewegung und unter traditionellen Kommunisten, die zwar auch die Parallele zum Zweiten Weltkrieg aufmachen, aber genau anders herum: Für sie sitzt der neue Hitler in Washington.

Die dritte historische Analogie, und der neige ich zu, verweist darauf, dass sich gegenwärtig eine ähnliche Konstellation wie vor dem Ersten Weltkrieg herausbildet. Nach dem Wegfall des Sowjetblocks gibt es verschiedene imperialistische Großmächte, die um Einflusszonen rivalisieren und dabei zum Teil gemeinsam vorgehen, aber letzten Endes werden die Widersprüche derart anwachsen, dass ein Schlagabtausch innerhalb des imperialistischen Blocks die Folge sein wird, also ein dritter imperialistischer Weltkrieg. Daraus ergibt sich natürlich zwingend, dass man sich auch an die Strategien erinnert, die die Arbeiterbewegung oder die damals entstehende kommunistische Bewegung entwickelt haben und eine der wichtigsten Parolen war damals: Der Hauptfeind steht im eigenen Land!

Interview: mb.

Neben seiner Tätigkeit als konkret- und zwischen 1994 und 1997 junge-Welt-Redakteur ist Jürgen Elsässer auch als Buchautor in Erscheinung getreten. Seine drei letzten Veröffentlichungen waren "Kriegsverbrechen. Die tödlichen Lügen der Bundesregierung und ihre Opfer im Kosovokonflikt", "Make Love and War. Wie Grüne und 68er die Republik verändern" sowie "Deutschland führt Krieg. Seit 11. September wird zurückgeschossen". Infos und Lesetermine unter www. juergen-elsaesser.de.