Wie man in den Niederlanden "aus Gnade" tötet
Sterbehilfe im selbst ernannten Königreich des Liberalismus
Sterbehilfe wird in öffentlichen Diskussionen in den Niederlanden stets präsentiert als Akt der Autonomie des Patienten. Tatsächlich aber stattet dieses neue Gesetz die ÄrztInnen mit mehr Macht aus. Und bietet eine praktische Entlastung gesellschaftlicher Verantwortung an für alte, kranke, kurz: "überflüssige" Menschen.
1969 schrieb Jan Hendrik van den Berg ein Buch mit dem Titel "Medizinische Macht und medizinische Ethik", in dem er für eine "Neue Ethik" plädiert. Innerhalb von acht Monaten erschien die 10. Auflage dieses Buchs. Die "Neue Ethik" werde gebraucht, um die "Probleme" anzugehen, die die moderne Medizin verursacht; teure und perspektivlose Behandlungen, so van den Berg, würden dem Wohl der Kranken nicht dienen; diese seien vielmehr "Opfer der medizinischen Macht". Der Autor plädierte für die medizinische Tötung von dementen Alten und behinderten Kindern, also von nicht einwilligungsfähigen Menschen. Er forderte die Einrichtung einer Kommission aus Ärzten und medizinischen Laien, die in bestimmten Fällen über die Tötung entscheiden könnten - z.B. wenn die Eltern eines im Koma liegenden Kindes immer noch der "alten und überkommenen Ethik" anhängen würden.
Im Anschluss an dieses Buch wurden viele Artikel und Broschüren veröffentlicht, die die Notwendigkeit der "Euthanasie" (1), wie man Sterbehilfe in den Niederlanden nennt, zum Ausdruck brachten. 1973 verurteilte ein Gericht in Leewarden eine Ärztin, die ihre schwer kranke Mutter mit 200 mg Morphium getötet hatte, zu einer Woche Gefängnis. Um diese Ärztin zu unterstützen, wurde der "Holländische Verein für Freiwillige Euthanasie" (NVVE) gegründet; inzwischen hat er 100.000 Mitglieder und über 50 Angestellte. Ziel des Vereins: ein Gesetz durchzusetzen, das freiwillige Euthanasie erlaubt.
Dieses Ziel ist 2002 beinahe Realität geworden. Im April 2001 stimmten von insgesamt 150 Abgeordneten im holländischen Parlament 104 sozialdemokratische, rechtsliberale, linksliberale und grüne Abgeordnete für ein neues Sterbehilfe-Gesetz, das die bereits übliche Praxis der "geduldeten" Sterbehilfe gesetzlich festschreibt. Christliche Parteien und die sozialistische SP stimmten dagegen. (2) Sterbehilfe durch den Arzt ist demnach immer noch illegal, wird aber nicht verfolgt, wenn bestimmte Kriterien erfüllt sind:
- Die Patientin muss ihren Wunsch zu sterben schon lange Zeit geäußert haben, am besten schriftlich.
- Die Meinung eines zweiten Arztes ist einzuholen.
- Der Patient leidet "endlos"; d.h. es besteht keine Aussicht auf Heilung.
- Die Ärztin muss die Sterbehilfe einer regionalen Prüfungskommission melden.
Ein elendes
Leben fürchten ...
Von diesen Prüfungskommissionen gibt es fünf in den Niederlanden. Jede hat drei Mitglieder: eineN MedizinerIn, eineN JuristIn und eineN EthikerIn; jede dieser Kommissionen untersucht drei Sterbehilfe-Fälle täglich. Wenn die Kommission mit der "Gnaden-Tötung" nicht einverstanden ist, geht der Fall ans Justizministerium. Das ist allerdings noch nie vorgekommen. Tatsächlich werden nicht einmal die Hälfte aller Sterbehilfe-Fälle den Kommissionen bekannt gegeben, wie Untersuchungen belegen, die die Universität Amsterdam im Auftrag des Gesundheitsministeriums durchführte.
Es gibt einen großen Vertrauensvorsprung in die holländischen Regelungen zur Sterbehilfe. Ein Ethiker sagte 1998 auf einem Kongress, es wäre gefährlich, Sterbehilfe in den USA zu legalisieren, doch die Holländer könnten gut damit umgehen. Gleichzeitig aber scheint es niemanden zu beunruhigen, ob und wie die Justiz unfreiwillige Fälle von Sterbehilfe herausfinden kann.
Schon 1978 hieß es in einem Bericht der NVVE von ihrem Vorsitzenden, Professor Muntendam, der Unterschied zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Sterbehilfe sei nicht exakt derselbe wie der zwischen erlaubbarer und nicht erlaubbarer Sterbehilfe. Offiziell aber unterstützt die NVVE ausdrücklich die "freiwillige Euthanasie". Andererseits wiederum richtete sie einen Solidaritätsfond ein für den inzwischen bekannten Amsterdamer Hausarzt Van Oijen, der 1994 in dem Dokumentarfilm "Tod auf Verlangen" Sterbehilfe vor laufender Kamera praktizierte und wegen Mordes verurteilt wurde, weil er bei einer alten Frau ohne deren Einverständnis eine "Gnadentötung" vorgenommen hatte. Doch bestraft wurde er nicht; wie überhaupt auch sonst kein anderer Arzt, der Sterbehilfe "geleistet" hat - sieht man von dem zuvor erwähnten Leerwardener Fall ab und von Sippe Schat: Schat, Arzt in einem kleinen Dorf, verbrachte im Jahr 1995 ein oder zwei Tage auf einer Polizeiwache; angeklagt, eine alte Frau ohne ihr Einverständnis getötet zu haben.
Nur wenige Tage nach der Parlamentsdebatte über Sterbehilfe teilte die damalige sozialliberale Gesundheitsministerin Borst der liberalen Zeitung NRC mit, sie wolle es möglich machen, dass "alte Leute, die sich zu Tode grämen" eine Art Todespille schlucken können - die sogenannte Drion-Pille, benannt nach Huib Drion, einem früheren Berater am Hoge Raad, dem höchsten Gericht der Niederlande. 1991 hatte Drion in einem Brief an NRC dafür plädiert, alten und einsamen Menschen Mittel zu geben, um ihr Leben, wenn gewünscht, zu beenden: "Warum sollte man ihnen verweigern, es selbst in der Hand zu haben, sich selbst in einer akzeptablen Weise zu töten und sich selbst von einem elenden Leben zu befreien, das außerdem noch die Gemeinschaft belastet?"
Ganz im Sinne dieser Logik hatte das Haarlemer Gericht kurz vor der Debatte um das neue Sterbehilfegesetz Phili Sutorius freigesprochen - den Arzt, der 1998 den 86-jährigen sozialdemokratischen Ex-Senator Brongersma auf dessen Wunsch hin getötet hatte. Das Gericht ging davon aus, dass dieser Fall das Kriterium des endlosen Leidens ohne Aussicht auf Besserung erfüllen könne - je nachdem, wie weit man den Begriff des Leidens ausdehne. Brongersma, so das Gericht, wollte nicht mehr leben; er hätte mit seinem Leben abgeschlossen gehabt und es als unerträglich empfunden, jeden Tag die Sinnlosigkeit eines leeren, einsamen Lebens zu erkennen und fürchten zu müssen, dass dieses Leben noch jahrelang andauern könne. In nächster Instanz entschied der Gerichtshof in Amsterdam anders: schuldig, aber ohne Bestrafung. Die Amsterdamer Richter plädierten außerdem für eine breite gesellschaftliche Debatte über diese Form der Sterbehilfe. Dieser Appell wurde aufgegriffen in Form der KNMG-Kommission; eine Kommission, die die Möglichkeit einer Erweiterung der Sterbehilfe-Kriterien untersucht.
Im Dezember 2002 dann entschied der Hoge Raad abschließend entsprechend dem Amsterdamer Gerichtshof. Dem Urteil des Hoge Raad zufolge ist der "assistierte Selbstmord" nur dann erlaubt, wenn das Leiden des Patienten medizinisch klassifizierbar ist, sei es physiologisch oder psychologisch. Sutorius und sein Anwalt äußerten sich "enttäuscht" zu diesem Urteil. Auch die NVVE reagierte sofort und erklärte: "Das wird Angst unter den Ärzten hervorrufen und sie werden wahrscheinlich noch weniger bereit sein, ihre Sterbehilfe den Prüfungskommissionen mitzuteilen." Aber da nach wie vor bloß 40% der Sterbehilfe-Fälle angegeben wird und niemand daran interessiert zu sein scheint, was in den anderen 60% passiert ist, brauchen ÄrztInnen nicht wirklich eine Verfolgung zu befürchten.
Doch es gibt auch kritische Stimmen. So schrieb Prof. den Hartog, Ethiker und Mitglied einer Prüfungskommission, im KNMG-Magazin Medisch Contact, er sei besorgt um die Praxis: Jetzt, wo die Kommissionen für einige Jahre eingesetzt sind, so den Hartog, und tausende Menschen jedes Jahr um Sterbehilfe nachfragen, besteht die Gefahr, dass Sterbehilfe zur Routine wird. Manche Ärzte bedauern auch mittlerweile einige ihrer Sterbehilfe-Fälle, z.B. Joke Groen-Evers, der in der NRC (3) darauf hinwies, dass normalerweise nicht, wie im Gesetz vorgesehen, alle anderen medizinischen Möglichkeiten der Leidverminderung ausgeschöpft würden. Menschen würden in die Sterbehilfe-Prozedur gedrängt, erklärte auch Ruben S. van Coevorden, der jetzt eine Beratungskommission für Palliativ-Versorgung (4) einrichtet, im selben Artikel. Vorher, so Groen-Evers, hätte er gedacht, er müsse das Wort Sterbehilfe benutzen, wenn ein Patient nicht mehr geheilt werden könne, weil der sich möglicherweise nicht traut, es anzusprechen. "Doch jetzt", schreibt der Arzt, "wo ich es nicht mehr erwähne, spricht mich fast keiner meiner Patienten mehr darauf an". Tatsächlich stimmt, was ausländische KritikerInnen oft bemängelt hatten: In den Niederlanden etabliert man Sterbehilfe, aber man kümmert sich nicht um die Palliativmedizin.
... oder eine elende Gesellschaft?
Eine Woche nach dem Aufruf zur gesellschaftlichen Debatte organisierte die NVVE ein Podium für Mitglieder und Öffentlichkeit in Sachen Drion-Pille. "Wir werde sehr hart daran arbeiten, den ,assistierten Selbstmord` aus dem Strafgesetzbuch herauszubekommen", sagte Vorsitzende Kohnstam auf diesem Podium - und das Publikkum skandierte: "Ich möchte die Pille haben!" Die NVVE möchte in einem "Experiment" mit "Freiwilligen" die Einführung der Drion-Pille testen. Bestimmte Fragen waren hingegen kein beliebtes Thema auf dem Symposium; Fragen, wie etwa: "Ab welchem Alter sollte Menschen gestattet werden, diese Pille zu bekommen?" oder "Wer wird sie verteilen und wie?"
In der Linken gibt es praktisch keine Diskussion über Sterbehilfe. Die Grünen sagen aus der Opposition heraus stolz über das neue Gesetz: "Wir arbeiteten als Ko-Gesetzgeber". Die Sozialisten votierten zwar gegen das Gesetz, unter Hinweis auf das schlechte Gesundheitssystem, das verbessert werden müsse. Aber die faktische jahrelange Duldung der Sterbehilfe hatten sie nicht angegriffen. In der radikalen Linken liebt man das Wort Autonomie und will sich nicht vom Staat verbieten lassen, zu sterben. Viele begreifen die Machtverhältnisse im Gesundheitssystem in Kombination mit der Sterbehilfepraxis nicht als potenzielle Bedrohung des Lebens abhängiger Menschen.
In der Diskussion um Sterbehilfe wird immer auch das Problem der "Überalterung" der Gesellschaft, insbesondere im Zusammenhang mit Demenzkranken, als Argument für eine Liberalisierung der Sterbehilfepraxis angeführt. Dazu schrieb schon 1999 die sozialdemokratische Zeitung De Volkskrant: "Es ist eine beängstigende Idee: Ein sehr reiches Land, das seine verletzlichen, älteren Bürger nicht mehr ausreichend versorgt. Eine Zukunft mit Bürgern, die glauben, Demenz sei menschenunwürdig und die die Zahl alter Menschen, die weniger selbstständig werden, vermindern wollen. Und ein Land, wo diese alten Menschen selbst spüren, dass sie ihre Angehörigen lieber nicht belasten wollen. Ein Land, das alles und jeden zurückweist, der krank, hässlich und unnütz ist". Gleichwohl sind viele in der radikalen Linken infiziert von dieser Angst vor dem "sinn- und endlosen" Leiden, mit der die Pro-Euthanasie-Lobby die Medien versorgt. Nur einige Gruppen, die von der Roten Zora inspiriert sind, von Bioskop oder von den Arbeiten von Karlheinz Roth und Goetz Aly, stehen kritisch zur Euthanasie-Praxis.
Doch auf der anderen Seite sollten auch diejenigen, die die Palliativmedizin verteidigen, nicht vergessen, dass die Arbeit in der Pflege hauptsächlich von schlecht oder gar nicht bezahlten Frauen und "ImmigrantInnen" geleistet wird. Sie muss endlich angemessen bezahlt und als fundamentaler Teil des Gesundheitssystems anerkannt werden.
Jeroen Breekveldt
www.biopolitiek.nl
Anmerkungen:
1) Euthanasie, wörtlich: schöner Tod.
2) Die holländische Regierung wird seit den Wahlen vom 15. Mai 2002 gebildet von der christdemokratischen CDA (43 Sitze), der nationalistischen Lijst Pim Fourtuyn (LPF, 26 Sitze) und der rechtsliberalen VVD (24 Sitze). Dies ist die konservativste Regierung seit dem Zweiten Weltkrieg. In der Opposition sind die sozialdemokratische PvdA (23 Sitze), die Grünen (10 Sitze), die sozialistische SP (9 Sitze), die sozialliberalen D66 (7 Sitze), die evangelisch-fundamentalistische Christenunion (4 Sitze), die evangelisch-fundamentalistische SGP (2 Sitze) und die konservativen LN (2 Sitze).
3) NRC, 10.11.2001. Dieser bemerkenswerte Artikel wird in der Sterbehilfedebatte leider äußerst selten erwähnt.
4) Palliativversorgung: Schmerzbehandlung.