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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 469 / 17.1.2003

Die Tochter und ihr Übervater

Die Biografie der Tussy Marx

London, Soho: einer der ärmsten und schmutzigsten Bezirke Londons. Schwangere und Kinder arbeiten bis zu 16 Stunden am Tag in den Fabriken; die Mütter-, Säuglings- und Kindersterblichkeit ist hoch, in einigen Straßen teilen sich die BewohnerInnen von zwanzig Häusern einen Abort. Tuberkulose, Scharlach, Keuchhusten, Pocken, Typhus und Cholera grassieren. Hier lebt Familie Marx im Exil.

Ein preußischer Polizeispitzel beschrieb das Ambiente so: "Marx wohnt in so ziemlich dem übelsten und billigsten Viertel Londons, haust dort in zwei Zimmern. In keiner der Stuben ein sauberes oder anständiges Möbelstück, alles ist zerbrochen, zerschlissen, zerfetzt, fingerdicker Staub klebt drauf... Manuskripte, Bücher und Zeitungen liegen kunterbunt neben Spielzeug und Fetzen aus dem Nähkorb seiner Frau, Tassen mit zerkerbten Rändern, schmutzige Löffel, ein Tintenfass, Bierseidel, Pfeifen, Asche - alles in wüstem Durcheinander auf demselben Tisch." Hier kommt 1855 die jüngste Tochter aus der Familie Marx zur Welt: Eleanor, genannt Tussy.

Über dieses Ereignis schreibt Marx in einem Brief an Engels, "meine Frau [ist] von einem bona fide traveller - leider of the ,sex par excellence` genesen. Wäre es ein männliches Wesen, so ginge die Sache schon eher." Zur Zeit von Tussys Geburt ist Marx' geliebter Sohn Edgar schon schwer krank; drei Monate später stirbt er mit acht Jahren. Marx trifft das sehr. Tussy wird, so jedenfalls die These ihrer Biografin Eva Weissweiler, von Marx als Ersatzsohn und mit besonderer Aufmerksamkeit großgezogen: Laut Paul Lafargue, Ehemann von Tussys Schwester Laura, hat Vater Marx gesagt, seine Frau habe sich im Geschlecht geirrt, als sie Tussy als Mädchen zur Welt brachte.

Weissweiler gelingt es, den Alltag der Familie Marx plastisch und materialreich zu schildern; ihr Buch vermittelt einen bleibenden Eindruck davon, was es hieß, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Frau in einer bürgerlichen, aber verarmten Familie geboren zu werden; später als Intellektuelle ohne Schulbildung zu leben, als Tochter eines berühmten und scheinbar unangreifbaren Vaters, als Jüdin, als Sozialistin. Das Leben der Tussy Marx unterliegt einem enormen Tempo, doch ohne je irgendwo anzukommen.

Tussy lernt lesen, schreiben, übersetzen, redigieren und agitieren. Keine Selbstverständlichkeit in einer Zeit, in der es keine öffentlichen Schulen für Mädchen gab. Tussy ist begeisterte Shakespeare-Verehrerin, nimmt Schauspielunterricht, rezitiert, tritt auf - mit mäßigem Erfolg - und übersetzt literaturwissenschaftliche Arbeiten zu Shakespeare aus dem Deutschen und Ibsen aus dem Norwegischen ins Englische. Außerdem ist sie Feministin. Sie unterstützt die "Femokratin" Alice Westlake, die für eine gemäßigte geschlechtsspezifische Erziehung eintritt: Kochen und Hauswirtschaft in Verbindung mit Chemie und Physik. Durchaus radikaler äußert sie sich in ihrem Aufsatz The Woman Question, den sie 1886 zusammen mit ihrem langjährigen Lebens- und Kampfgefährten Edward Aveling schreibt, und in dem die beiden u.a. die Abschaffung der Ehe einfordern.

Aveling ist zugleich der Mann, dem die Biografin Weissweiler einen großen und schädlichen Einfluss auf Tussy zuschreibt: Betrüger, Darwinist und außerdem überaus unansehnlich sei er gewesen. Tussys erster Verlobter, Hippolyte Prosper Lissagaray war Tussy von Marx verleidet worden, der mit Lissagaray, so Weissweiler, aus gutem Grund ein Konkurrenzproblem hatte: Lissagaray sah nicht nur blendend aus, sondern war auch ein überaus kluger Kopf, aktiver Kämpfer in der Pariser Kommune und Verfasser des einzigen vernünftigen Buchs über selbige, wie Marx Frau Jenny feststellt (alles andere sei Plunder): ein 500-Seiten-Werk, das Tussy in jahrelanger Arbeit aus dem Französischen ins Englische übersetzt.

Tussy war, das wird deutlich, trotz einiger theoretischer Schriften weniger Theoretikerin als Aktivistin; immer im Einsatz für "die Sache der Arbeiter". 1891 ist sie Delegierte von zigtausenden englischen Gasarbeitern und Tagelöhnern auf dem Zweiten Kongress der Sozialistischen Internationale in Brüssel. "Tussy", schreibt Engels an Natalie Liebknecht, "steht im nicht ganz unverdienten Ruf, die Union der Gasarbeiter und Taglöhner zu dirigieren." In Brüssel skandalisiert die Feministin Tussy, immerhin die einzige englische weibliche Delegierte auf dem Kongress, empört: "Selbst der größte Teil der Arbeiter betrachtet die Frau noch als Haustier, als persönliches Eigentum!" 1895 erscheint ihre "Geschichte der Arbeiterbewegung"; sie ist eine gefragte sozialistische Rednerin, gibt mit Engels zusammen den zweiten Band von Das Kapital heraus und übersetzt den ersten ins Englische.

Weissweilers Biografie ist absolut lesenswert; schade ist nur, dass die Aktivistin Tussy in der Erzählung blass bleibt; viel mehr Kraft hat die Beschreibung ihrer desaströsen Männerbeziehungen, und die untergründige These des Buchs ist, dass "Mohr", wie Marx von seiner Familie genannt wird, letztlich der Grund dafür ist, dass Tussy schon seit ihrer Jugend immer wieder depressiv ist, außerdem magersüchtig und unfähig, sich für den richtigen Mann (Lissagaray) und gegen den falschen (Aveling) zu entscheiden. Fest steht: Leidenschaftliches Engagement und tiefe Verzweiflung wechseln sich in Tussys Leben regelmäßig ab. Im Alter von 43 Jahren schluckt sie Blausäure, die Aveling ihr vorher aus der Apotheke besorgt hatte.

Weissweilers Biografie legt nahe, dass am Ende nicht einmal Tussys Tod ihr eigener ist, sondern Ergebnis einer langen Folge männlicher Interventionen in ihr Leben, das deshalb eher ein Leben aus zweiter Hand ist, geprägt von vier Männern - Marx, Lissagaray, Aveling und Engels - und das weder Mütter, Schwestern, Freundinnen noch Tussy selbst wirklich geformt haben. Das so zu sehen ist einerseits nahe liegend, weil jede andere Sicht Gefahr läuft, die Lebensbedingungen von Frauen im vorletzten Jahrhundert zu verklären.

Gerade aber die Geschichte der radikalen Aktivistin Tussy Marx hätte auch Raum gelassen für weitere Interpretationen: Einen Ort hat sie nicht finden können in ihrem Leben, doch wie sie kämpfte und wie sie starb, entschied am Ende doch sie selbst.

Stefanie Graefe

Eva Weissweiler: Tussy Marx. Das Drama der Vatertochter. Eine Biografie. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002, EUR 22,90, 395 Seiten