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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 470 / 21.2.2003

Israel nach den Wahlen - ein Schadensbericht

Der alte und neue israelische Premierminister Ariel Sharon hat sich erwartungsgemäß deutlich gegen seinen sozialdemokratischen Gegenkandidaten Amram Mitzna durchsetzen können. Die Wahlergebnisse lassen erkennen, dass sich der Schwerpunkt der israelischen Politik auf absehbare Zeit nach rechts verlagert hat.

Während die Parteien der nicht-zionistischen Linken sich trotz einiger Wählerverschiebungen in Richtung arabisch-nationalistischer Parteien auf niedrigem Niveau stabilisieren konnten, haben die mit dem Oslo-Prozess identifizierte Arbeitspartei und ihr bürgerrechtlicher Satellit Meretz katastrophale Stimmeneinbußen zu verzeichnen. Ihre Politik eines begrenzten territorialen Kompromisses mit den Palästinensern bei gleichzeitiger Umsetzung wirtschaftlicher und sozialpolitischer Reformen innerhalb Israels nach neo-liberalem Muster ist gescheitert.

In den 1990er Jahren ist unter maßgeblicher Verantwortung der Arbeitspartei eine drastische Zunahme sozialer Spannungen innerhalb der jüdisch-israelischen Gesellschaft zu verzeichnen. In den Augen der vom sozialen Abstieg bedrohten bzw. betroffenen Schichten ist die Arbeitspartei eine Partei der Bosse, die sich nicht um die Belange der einfachen Leute kümmert. Die auch andernorts zu beobachtende Erosion klassischer sozialdemokratischer Milieus wurde durch das Scheitern des Oslo-Prozesses und die daraus resultierende Frustration und Ratlosigkeit der städtischen Mittelschichten noch verstärkt, die diese als Friedensprozess maskierte Reform der Besatzung zunächst enthusiastisch unterstützt hatten. Acht Jahre nach der Ermordung Rabins und zwei Jahre nach dem Scheitern von Camp David führte dieser Prozess nun zur endgültigen Entmachtung der alten israelischen Staatselite.

Soziale Spannungen nehmen weiter zu

Doch wäre es verfrüht, deswegen von einer Hegemonie des rechten Blocks in der israelischen Politik zu sprechen. Dessen prozentuale Gewinne lassen sich nicht ohne weiteres in politische Handlungsfähigkeit übersetzen. Theoretisch könnte der auf fast das Doppelte seiner bisherigen Stärke angewachsene Likud gemeinsam mit den Parteien der extremen Rechten sowie mit den religiösen Parteien eine bequeme Regierungsmehrheit erreichen. Doch praktisch sprechen außenpolitische wie wirtschaftliche Gründe gegen die Bildung einer solchen "kleinen Koalition": Sharon kann es sich nicht leisten, den Forderungen der kleineren rechtsradikalen Parteien nach einer offiziellen Ablehnung jeglicher palästinensischen Staatlichkeit und einer Vertreibung Arafats aus den besetzten Gebieten zu entsprechen, da dies den Interessen der USA in der Region schaden würde - niemandem würde eine Vertreibung Arafats durch die israelische Armee und die damit einher gehende Intensivierung der Gewalt in Israel/Palästina mehr nutzen als dem irakischen Präsidenten Saddam Hussein.

So drängt Washington darauf, dass Sharon den Gesprächsfaden zur palästinensischen Autonomiebehörde nicht völlig abreißen lässt. Und tatsächlich gab es Anfang Februar ein Treffen zwischen ihm und hochrangigen Mitgliedern von Arafats Kabinett, auf dem die Möglichkeit eines Waffenstillstandes diskutiert wurde. 120 US-amerikanische Kampfflugzeuge sollen allein in dem Israel am nächsten gelegenen westlichen Teil Iraks dafür sorgen, dass keine eventuellen Restbestände des irakischen Waffenarsenals von dort in Richtung Israel auf den Weg gebracht werden und einen israelischen Gegenschlag provozieren können. (Haaretz, 7.2.03)

Die israelische Wirtschaft ihrerseits warnt im Falle einer "kleinen Koalition" und der dann zu erwartenden Fortsetzung der Gewaltspirale zwischen Israelis und Palästinensern vor einer weiteren Kapitalflucht aus Israel, dem Wegfall ausländischer Investitionen, einer Schwächung der internationalen Kreditfähigkeit des Landes und einer Verschärfung der bereits heute dramatischen Wirtschaftskrise. Das israelische Kapital drängt daher auf die Neuauflage einer "großen Koalition" unter Führung des Likud und der Arbeitspartei.

Angesichts der Erfahrungen der vergangenen eineinhalb Jahre besteht zwar kein Grund zu der Annahme, eine solche Koalition könne tatsächlich eine politische Perspektive für die Entschärfung des israelisch-palästinensischen Konfliktes liefern. Es geht dabei auch vielmehr um die Überwindung der derzeitigen außenpolitischen Isolation Israels und um positive Signale an die internationale Finanzwelt, was die Stabilität des Wirtschaftsstandortes Israel angeht. Gleichzeitig steht die Forderung nach einer großen Koalition im Einklang mit der Mehrheit der öffentlichen Meinung in Israel, deren Bedürfnis nach einem Gefühl nationaler Einheit in Krisenzeiten besonders ausgeprägt ist.

Angst vor Mega-Attentat
und Gegenschlag

Auch Sharon ist sich dieser Tatsachen bewusst und drängt auf eine möglichst breite Koalition unter Einbeziehung der Arbeitspartei, deren Vorsitzenden Mitzna er als ersten Verhandlungspartner zu einem Sondierungsgespräch unter vier Augen einlud. Allerdings hatte Sharon offenbar nichts Besseres zu tun, als Mitzna im Laufe des Gesprächs die angebliche strategische Wichtigkeit auch der kleinsten jüdischen Siedlung in den besetzten Gebieten nahe zu bringen. Mitzna hingegen plädiert für eine Neuauflage der Oslo-Strategie begrenzter territorialer Kompromisse inklusive der Aufgabe einer Reihe jüdischer Siedlungen sowie direkter Verhandlungen mit der gewählten palästinensischen Führung unter Yassir Arafat; daher schloss er nach seinem Gespräch mit Sharon eine Regierungsbeteiligung der Arbeitspartei kategorisch aus. Eine "Regierung der nationalen Einheit" könnte die tiefen Gräben innerhalb der jüdisch-israelischen Gesellschaft kaum überbrücken und würde an ihren eigenen Widersprüchen ebenso schnell zerbrechen wie die erste Regierung Sharon.

Der Shooting Star dieser Wahlen ist die säkularistische und marktradikale Partei Shinui, bei der sich ein großer Teil der von Arbeitspartei und Meretz enttäuschten WählerInnen gesammelt hat. Shinui ist eine populistische Protestpartei, deren Erfolgsrezept darin besteht, sich angesichts der Stagnation im israelisch-palästinensischen Konflikt auf scheinbar eher lösbare innenpolitische Probleme zu konzentrieren. Der Hauptfeind von Shinui sind die religiös-orthodoxen jüdischen Parteien. Damit trifft die Partei den Nerv vieler säkularer Jüdinnen und Juden, denen der Sonderstatus der orthodoxen Minderheit und deren Einfluss auf die israelische Politik seit langem ein Dorn im Auge ist und die in der orientalisch-religiösen Shas-Partei eine fundamentalistische Bedrohung der israelischen Nation erblicken. Der Erfolg von Shinui lässt eine weitere Verschärfung der Spannungen zwischen religiösen wie säkularen Segmenten der jüdisch-israelischen Gesellschaft erwarten und dürfte die Arbeit der zukünftigen israelischen Regierung zusätzlich belasten.

Unabhängig von der Zusammensetzung der zweiten Regierung Sharon wird die zukünftige Entwicklung in Israel/Palästina entscheidend vom Verlauf der aktuellen Irak-Krise beeinflusst werden. Die politische Klasse Israels und die Armeeführung versprechen sich von einer Eroberung des Irak unter Führung der USA eine entscheidende strategische Weichenstellung im Nahen und Mittleren Osten zu Gunsten Israels, die zu einer Schwächung der anti-israelischen Kräfte in der Region und in der Ablösung Arafats durch eine israelischen Vorstellungen genehme palästinensische Führung führen werde. Eine solche Dominotheorie entspricht exakt den Vorstellungen der Bush-Administration, wird allerdings von den meisten Analysten außerhalb konservativ-republikanischer und/oder dem Likud nahe stehender Think Tanks als realitätsblind und größenwahnsinnig eingestuft. Das gegenwärtige "historische Jahr" (Uzi Ben Simon in Haaretz, 7.2.03) könnte vielmehr zu einer weiteren Eskalation der Gewalt in Israel/Palästina führen, was sich auch auf die US-amerikanischen Interessen in der Region negativ auswirken würde. Armeekreise befürchten etwa ein Mega-Attentat von palästinensischen Guerillas innerhalb Israels anlässlich eines US-geführten Angriffes auf Irak, was wiederum eine drastische israelische Reaktion nach sich ziehen würde.

Die Erosion demokratischer Normen

Wie weit die dann amtierende israelische Regierung in einem solchen Fall gehen würde, bleibt bislang Gegenstand von Vermutungen. Allerdings mehren sich diejenigen Stimmen in Israel, welche den Windschatten eines Irak-Krieges nutzen wollen, um den palästinensischen Widerstand militärisch endgültig zu brechen, inklusive einer Rückeroberung des Gazastreifens, der Ausweisung Arafats und "Umsiedlungen " aus ausgewählten palästinensischen Gebieten (Amira Hass in Le Monde Diplomatique, Februar 2003). In dem unwahrscheinlichen Fall, dass es dem Irak oder einem von ihm ausgerüsteten palästinensischen Kommando gelingen sollte, Israel mit nicht konventionellen Waffen anzugreifen, dürfte es selbst den USA schwer fallen, einen militärischen Amoklauf Israels zu verhindern.

Auf der innenpolitischen Bühne sind die Aussichten ebenfalls alles andere als rosig. Angesichts der in den vergangenen Jahren fortschreitenden Erosion bürgerrechtlicher Normen und demokratischer Gepflogenheiten innerhalb Israels hat sich der Oberste Gerichtshof des öfteren als eine der letzten rechtsstaatlichen Bastionen erwiesen. In jüngster Vergangenheit haben zwei höchstrichterliche Entscheidungen die Wut der Regierung auf sich gezogen. Zunächst erklärte der Gerichtshof Anfang Januar die auf Betreiben der Regierungsmehrheit gefällte Entscheidung der parlamentarischen Wahlkommission für rechtswidrig, welche den arabisch-nationalistischen Abgeordneten Azmi Bishara und Ahmad Tibi die Teilnahme an den Wahlen auf Grund ihrer angeblich landesverräterischen Ansichten verwehren wollte, während gleichzeitig der mit der seit 1988 verbotenen faschistischen Kach-Partei assoziierte Baruch Marsel als Kandidat der Siedlerpartei Ha-Echud ha-Leumi von der Kommission zugelassen wurde.

Michel Chashin, ein Richter des Obersten Gerichtshofes, der als Vorsitzender der parlamentarischen Wahlkommission für den rechtmäßigen Verlauf der Wahlen verantwortlich zeichnete, brachte Sharon persönlich eine empfindliche Schlappe bei, als er in der heißen Phase des Wahlkampfes die Live-Übertragung einer Pressekonferenz Sharons im staatlichen Fernsehen abbrach, weil dieser anstelle der vorgesehenen Antworten auf Fragen bezüglich der gegen ihn erhobenen Korruptionsvorwürfe die Zeit für wüste Beschimpfungen seiner politischen Gegner nutzte und damit den israelischen Wahlkampfgesetzen zuwider handelte. Schon mehren sich die Stimmen, welche die Macht des (zu Unrecht) als linke Hochburg geltenden und in weiten Teilen der Bevölkerung ungeliebten Obersten Gerichtshofes per Gesetz einschränken und daneben einen zweiten Hohen Gerichtshof etablieren wollen, dessen Zusammensetzung einer stärkeren parlamentarischen Kontrolle unterläge. (Haaretz, 9.1.03)

Auch die wirtschaftliche Lage bleibt bis auf weiteres angespannt. Ohne eine politische Perspektive zur Entschärfung des israelisch-palästinensischen Konflikts ist nicht mit einer Besserung der Wirtschaftsdaten und somit eher mit einer weiteren Verschärfung der sozialen Spannungen zu rechnen. Angesichts fallender Steuereinnahmen plant das israelische Finanzministerium in diesem Jahr etwa die Entlassung von 10 Prozent der Angestellten des öffentlichen Dienstes (ein Verlust von 60.000 Arbeitsplätzen) sowie die Kürzung der Reallöhne im Bildungssektor und im medizinischen Bereich um 0,1%, bei gleichzeitiger Streichung von staatlichen Subventionen auf Grundnahrungsmittel wie Obst und Gemüse. Nur die Siedlungen in den besetzten Gebieten sind bislang von derlei Kürzungen nicht betroffen. (Haaretz, 5.2.03).

Derweil ist das Tel Aviver Abwassersystem seit einigen Wochen zusammengebrochen, die Abwässer werden ungereinigt ins Meer geleitet. Dies führt zu einer dramatischen Verschlechterung der Wasserqualität entlang der beliebten städtischen Badestrände. Doch wen kümmert das schon, wenn ohnehin alles den Bach runtergeht?

Achim Rohde