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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 470 / 21.2.2003

Wer bombardierte Halabja?

Ein Kriegsverbrechen in unterschiedlichen politischen Konjunkturen

Der unter dem Namen "Anfal" bekannte Giftgasangriff auf Halabja am 16. März 1988, damals abgedeckelt und verharmlost, wird heute von den USA als Kriegspropaganda instrumentalisiert. Doch auch "Friedensfreunde" in Deutschland nutzen dieses Kriegsverbrechen für ihre speziellen Zwecke.

Am Nachmittag des 16. März 1988 bemerkten die BewohnerInnen der kurdischen Kleinstadt Halabja einen seltsamen, für die meisten nicht einmal unangenehmen Geruch, etwa wie süße Äpfel, Gurken oder Parfüm. Nachdem seit fast einem Jahr rebellische kurdische Dörfer im Irak mit Giftgas bombardiert wurden, brauchte den BewohnerInnen von Halabja niemand zu sagen, was der Geruch zu bedeuten habe. Einige versuchten, die Türen in den selbst gebauten Unterständen, in die sie sich vor Bombenangriffen geflüchtet hatten, mit feuchten Tüchern abzudichten, doch Atemnot und ein Gefühl wie stechende Nadeln in den Augen zwangen sie zur Flucht. In den dämmrigen Gassen spielten sich unvorstellbare Szenen ab. Auf den Wegen und in den Toreingängen lagen die Körper toter Menschen und toter Tiere übereinander. Flüchtende lachten plötzlich hysterisch auf und brachen dann zusammen. Andere erblindeten in wenigen Augenblicken. Wer aus der Stadt kam, flüchtete zur nahen iranischen Grenze, aus Angst vor Luftangriffen häufig abseits der Wege durch vermintes Gelände.

Heute gilt der Giftgasangriff auf Halabja als Saddams schlimmste Einzeltat und als Beleg der unerhörten Grausamkeit seines Regimes. Das war in den Hauptstädten der großen westlichen Länder nicht immer so. Die Administration von Präsident Bush sen. machte Saddam erst nach der Kuwait-Invasion, gut zwei Jahre später, für Halabja verantwortlich. Unmittelbar nach dem Angriff streute Washington, der Iran oder beide Kriegsparteien gemeinsam seien für das Massaker verantwortlich. Schulter an Schulter mit Frankreich, dem westlichen Hauptwaffenlieferanten Bagdads, drang Washington auf eine völlig neutrale Resolution des Weltsicherheitsrates gegen beide Staaten, die nach sieben Wochen schließlich verabschiedet wurde. Eine andere Resolution hätte Washington auch in ernste Rechtfertigungszwänge gebracht, denn zu diesem Zeitpunkt unterstützten die USA massiv Saddam Hussein im Krieg gegen den Iran Khomeinis.

Einer der Akteure von damals, Stephen C. Pelletiere, hat sich nun wieder zu Wort gemeldet. Er war zum Zeitpunkt der Bombardierung von Halabja Professor am Army War College und nach eigenen Angaben der politische Hauptanalyst des CIA während des Irak-Iran-Krieges (1. Golfkrieg) und führend beteiligt an einer Untersuchung der Armee über die mögliche irakische Kriegsführung im 2. Golfkrieg.

Wenn Freunde zu Feinden werden

Pelletiere greift in einem Artikel in der New York Times die alte Sicht der USA wieder auf. Nach Pelletiere sei es unzweifelhaft klar gewesen, dass Halabja während einer Schlacht zwischen Iranern und Irakern angegriffen wurde. Die kurdischen ZivilistInnen hätten "das Pech gehabt", dazwischen zu geraten. Sicher seien sie aber "nicht das Hauptziel der Iraker" gewesen.

Pelletiere beruft sich außerdem auf eine Studie, die die United Staates Defense Intelligence Agency erstellen ließ, in der behauptet wird, die Opfer seien durch Zyanid umgekommen. Giftgas auf Zyanid-Basis habe aber nur die iranische, nicht die irakische Armee besessen.

Pelletieres Behauptungen sind zwar in Washington nicht mehr gefragt, beim breiten Publikum, insbesondere in Europa, lassen sie sich aber sicher unterbringen. Die junge Welt sah ihre Chance und machte aus Pelletieres Äußerungen ohne Zutaten an Recherche oder Skrupeln einen reißerischen Artikel mit der Überschrift "Bushs erfundener Genozid". Zweifel, die einem bei Pelletieres Schilderungen eigentlich kommen müssten, werden durch eine tendenziöse Übersetzung beseitigt. Das von Pelletiere als "town" bezeichnete Halabja wird gleich zwei Mal zum "Dorf", seine EinwohnerInnen zu "Dorfbewohnern", von denen "angeblich bis zu 5.000" getötet worden sein sollen. Mit der Bezeichnung "Dorf" wird sowohl die Zahl der Opfer in Frage gestellt, als auch ein Hergang als möglich suggeriert, bei dem Halabja eher zufällig getroffen wurde.

Halabja ist aber eine Kleinstadt mit gut 40.000 EinwohnerInnen. Wer auch immer gegen Halabja Giftgas einsetzte, musste wissen, dass es Tausende von zivilen Opfern geben würde, und hat dies sicher auch gewollt. Dabei spielt es nur eine Nebenrolle, dass sich in der Stadt, die am Tag zuvor vom Iran erobert worden war, tatsächlich auch iranische Soldaten aufhielten. Diese Soldaten waren zwar vor einem Giftgascocktail keineswegs sicher, aber nach jahrelangem Giftgaskrieg zumindest teilweise dagegen ausgerüstet. Ein Vergleich der Zahlen der Opfer bringt den Grad unterschiedlicher Gefährdung recht deutlich zum Ausdruck: Der Iran beziffert die Zahl seiner Kriegstoten, die während mehrerer Jahre und zahlreichen großen Schlachten unmittelbar durch Giftgas starben, mit 10.000. Für die Zahl der Toten, die Halabja dagegen an einem Nachmittag zu beklagen hatte, liegen seriöse Schätzungen zwischen 3.200 und 7.000. Diese Umstände, wie die Tatsache, dass der eigentliche Angriff zur Zurückeroberung der Stadt erst Monate später erfolgte, müssten eigentlich auch Pelletiere bekannt gewesen sein.

Die Lüge von
der Blausäure

Ebenso wenig zu den Umständen vor Ort passt die Behauptung, der Iran sei für den Giftgasangriff verantwortlich gewesen. Die Stadt war ja bereits in iranischer Hand. Außerdem konnte der Iran kein Interesse daran haben, durch ein derartiges Massaker die irakischen Kurden gegen sich aufzubringen. Die Überlebenden flohen nach dem Angriff ja auch in Richtung Iran und beschuldigen seither einhellig den Irak. Wer so etwas durchgemacht hat, der flieht nicht als erstes zum Verursacher und erfindet nicht rasch aus politischen Gründen einen Schuldigen. Weder Pelletiere noch die junge Welt gehen irgendwie darauf ein, dass die Beschuldigungen gegen Saddam Hussein zuerst und immer wieder von den Opfern selbst kamen.

Die damals politisch sehr opportune Studie, die Pelletiere erwähnt, ist ebenfalls seltsam. Insbesondere aus an Opfern beobachteten Gesichtsverfärbungen schloss man auf eine Zyan-Verbindung, die die Sauerstoffaufnahme im Blut verhindert. In Frage kommt vor allem leicht flüchtige Blausäure. Ausgeklammert wurden offenbar alle Berichte über Symptome, die nicht in das Zyanid-Schema passten. Das fängt damit an, dass Blausäure einen charakteristischen Geruch nach bitteren Mandeln verbreitet. Die Überlebenden berichteten aber in ihrer Mehrheit von aromatischen Gerüchen, die nicht zu Blausäure, aber sehr wohl zu Nervengas passen könnten, das die irakische Armee zumindest damals mit Sicherheit besaß. Für die angeblichen Symptome einer Zyanid-Vergiftung sind auch andere Erklärungen denkbar. Z.B. wird vorgebracht, das Zyanid könnte sich beim Zerfall eines Nervengases mit einer Zyanid-Gruppe gebildet haben.

Christine Gosden, Professorin für Medizin in Liverpool, hat nach zehn Jahren die BewohnerInnen von Halabja untersucht und fand Schädigungen, wie sie nach Nervengas und Senfgas zu befürchten waren. Außerdem hat die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in einer auch als Buch veröffentlichten Studie den von der irakischen Regierung "Anfal" genannten Feldzug gegen die Kurden untersucht. Darin finden sich zahlreiche Berichte über irakische Giftgasangriffe auf die Zivilbevölkerung nicht nur in Halabja. Es ist schon dreist, all diese Dinge heute immer noch einfach zu übergehen. Das war es auch schon damals. Die Studie, auf die sich die US-Regierung stützte, war nicht auf Grund genauer Untersuchungen vor Ort angefertigt worden und ihr standen zahlreiche Berichte und Aussagen von AugenzeugInnen entgegen. Auch verteidigten die USA standhaft einen Beschuldigten, der selbst keineswegs mit Händen und Füßen seine Unschuld beteuerte. Der damalige irakische Außenminister Tariq Aziz war wenige Tage nach Halabja in Bonn und meinte, nach Halabja befragt, dass man Dinge so nicht beurteilen könne, wenn man in der Zivilisation lebe. Diese "Offenheit" hat dem Irak keine Kürzung deutscher Hermesbürgschaften gekostet oder die Ausbildung irakischer Piloten in Deutschland beendet. Nebenbei waren es auch hauptsächlich deutsche Firmen, die die Giftgasfabriken bei Samarra und Falluja ausstatteten, aufbauten und warteten. Dass die Verantwortlichen, sofern sie überhaupt zur Verantwortung gezogen wurden, später mit der Behauptung davonkamen, sie hätten gedacht, da würden Kopfschmerzmittel hergestellt, lag sicherlich auch daran, dass es keinen öffentlichen Druck und Protest in dieser Sache gab. Auch die linke Öffentlichkeit interessierte sich schlicht nicht dafür.

Ein Beispiel für den zweckbezogenen Umgang mit einem Kriegsverbrechen ist Halabja in jedem Fall, nur dass dafür - was die USA angeht - eher Bush sen. als Bush jun. zu beschuldigen ist. Trotzdem wirft der Fall Halabja kein günstiges Licht auf die Glaubwürdigkeit auch der jetzigen republikanischen Administration in Washington in Sachen Menschenrechte und Massenvernichtungswaffen. Ihr gehört zwar der grummelnde Pelletiere nicht an, sonst gibt es aber viele personelle Kontinuitäten mit 1988.

Das Sterben findet immer noch statt

Während mit dem Giftgasangriff je nach Bedarf Politik gemacht wird, geraten die Opfer ganz aus dem Blickfeld. Pelletiere sind sie nur eine Größe, die er zynisch wegdiskutiert. Die USA und Großbritannien haben zwar, angeblich um Massaker wie Halabja zu verhindern, Flugverbotszonen errichtet, diese schließen aber Halabja nicht ein. Das wirkliche Desinteresse einer Welt, die in Sachen Irak scheinbar so auf den Barrikaden ist, kann man an der medizinischen Versorgung der Opfer ablesen. Als Christine Gosden für kurze Zeit in Halabja ihre Praxis aufmachte, standen am ersten Tag bereits mehr als 700 Menschen davor, die meisten mit mehr als einem ernsten Problem. Noch immer traten Hautveränderungen, heftiges Jucken und Brennen, zahlreiche Fälle von Hautkrebs und neurologische Probleme auf. Etwa die Hälfte der Bevölkerung litt an verschiedenen Krankheiten der Atemwege und viele hatten schwere Augenleiden. Die beiden letzten Probleme führte Gosden direkt auf Senfgas zurück. Bei Senfgas nehmen die medizinischen Probleme mit der Zeit nicht ab, sondern zu und zwar solange der/die Betroffene lebt. Darüber hinaus gab es zahlreiche Fälle von Unfruchtbarkeit, Missbildungen an Neugeborenen und Leukämie. Hinzu kam eine selbst unter normalen Umständen völlig unzureichende medizinische Versorgung. Im Iran, wo die Opfer weit besser versorgt und erfasst sind, sterben heute noch jeden Monat zwischen 20 und 30 Menschen an den Spätfolgen des Giftgaskrieges. Und in Halabja?

Jan Keetman, Istanbul