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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 470 / 21.2.2003

Dokumentation:

Offener Brief an die Jungle World

Dieser "Offene Brief" wurde am 12. Februar in der Jungle World unter der Rubrik "Leserinnenworld" veröffentlicht - allerdings etwa um die Hälfte gekürzt. Wir dokumentieren das Schreiben in seiner gesamten Länge (die gekürzten Stellen sind fett hervorgehoben). Wir halten es für richtig, den Text in seiner Gänze der (linken) Öffentlichkeit zugänglich zu machen, da wir der Meinung sind, dass die erfolgten Kürzungen nicht zufällig, sondern ganz im Gegenteil symptomatisch sind für die in dem "Offenen Brief" kritisierten Entwicklungen in der Jungle World.

Die UnterzeichnerInnen dieses offenen Briefes sind AutorInnen und AktivistInnen der radikalen Linken, die eine politische Affinität zur Jungle World hatten und zum Teil auch noch haben. Die meisten haben in unterschiedlichem Maße seit der Gründung der Zeitung dazu beigetragen, deren Infrastruktur zu stärken und haben sie gerne als Debattenblatt genutzt - als ein Forum, um sich jenseits von autoritären Strukturen, von Sektierertum, über politische Theorie und Praxis zu verständigen.

Verstärkt in den letzten Monaten - rückblickend lässt sich wohl der 11. September 2001 als Beginn dieser Entwicklung festmachen - mussten wir aber feststellen, dass sich die Jungle World als Forum linksradikaler, antinationalistischer Debatten - nicht zuletzt dafür hatte sie sich einmal gegründet - selbst abschafft.

Bezüglich des Nahostkonfliktes ("Naher Osten - Ferner Westen") wird der Antisemitismusvorwurf zunehmend undifferenziert eingesetzt, antimilitaristische Positionen bezüglich eines Irakkrieges werden marginalisiert. Es besteht die Tendenz, Antisemiten und Antimilitaristen, die in mehreren Artikeln als "Friedensfreund", "Nazis und andere Kriegsgegner" beschimpft werden, in einen Topf zu werfen, um im Gegenzug die Unterstützung Israels mit der Befürwortung des Krieges gleichzusetzen und alle widersprechenden Positionen des Antisemitismus zu verdächtigen.

Beiträge, die bellizistische Positionen kritisieren, werden, wenn sie veröffentlicht werden, immer häufiger diffamiert, eine öffentliche Auseinandersetzung um dafür angeführte Gründe wird verweigert, auch wenn damit langjährige AutorInnen vor den Kopf gestoßen werden. Einige AutorInnen haben sich deshalb inzwischen stillschweigend oder laut protestierend zurückgezogen.

Ein angefragtes Dossier zur Debatte über den Nahostkonflikt, in dem diese Tendenzen scharf angegriffen werden, schmorte drei Monate in der Redaktion, bevor es abgedruckt und in den nachfolgenden Ausgaben zum Abschuss - inklusive Antisemitismusvorwurf - freigegeben wurde. Positive Stellungnahmen, die der Redaktion vorlagen bzw. angeboten wurden, wurden abgelehnt. Denselben Umgang wählte die Redaktion einige Monate zuvor, als sie sowohl den Abdruck des Debattenbeitrags "Antideutsche Kriegsführung - ein Lehrgang für Anfänger und Fortgeschrittene" verweigerte, als auch eine öffentliche Auseinandersetzung über die Gründe.

Das Unterdrücken unliebsamer Beiträge, das Hinhalten der AutorInnen, das Unterbinden von Repliken, d.h. das Konstruieren von Pseudodebatten, das Konterkarieren von Textaussagen durch grafische Mittel, die Öffnung der Zeitung für Denunziationen sind jene Handlungsweisen, die uns zu diesem Schluss kommen lassen, dass sich innerhalb der Jungle World der Habitus des besserwisserischen Ideologieproduzenten durchzusetzen scheint, der Debatte die Linie, der Kritik die Weltanschauung entgegensetzt.

Die Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus ist - nach zähen Kämpfen in den 70ern und 80ern - seit den 90er Jahren ein wesentlicher Bestandteil linksradikaler Theorie und Praxis. Nun aber verkommt die Kritik des Antisemitismus in Jungle World zu einem Ticket, dem der inhaltliche Gehalt verloren geht. Der deutsche bzw. nationalsozialistische Antisemitismus wird auf die in Teilen antisemitisch geprägten palästinensischen Bewegungen übertragen, was einem historischen Kurzschluss gleichkommt. Während die Shoah die Verwirklichung des Antisemitismus war, kann der Nahost-Konflikt nicht allein auf der Ebene des Antisemitismus beurteilt werden.

Der Kurzschluss, der der Logik "Saddam, der neue Hitler" folgt, rechtfertigt dagegen Unterdrückung und Krieg. Immer wieder wird damit eine Weltlage beschworen, die man so nahe an die Konstellationen der 40er Jahre heranschreibt, bis die US-Alliierten als Befreier und (antideutsche/linke) KriegsbefürworterInnen als antifaschistische WiderstandskämpferInnen reinkarniert werden. Damit wird nun auch noch in Jungle World der dominante westliche Wahrnehmungshorizont bestätigt, der offiziell antitotalitäre Werte vor sich her trägt und real imperiale (Kriegs-)Lösungen und autoritäre Machtausübung in ehemals kolonialen Ländern für unvermeidlich erklärt. Die Beitrittserklärung einiger Linker in diese abendländische Weltordnung steht einer reaktionär-kulturalistischen Ideologie (im Namen des Islams, des Korans, usw.) nicht im Wege, sondern zur Seite. In dem Maße, wie solche Kurzschlüsse zur einzig wahren Linie erklärt werden, begeht die radikale Linke politischen Selbstmord: Linke Politik, die sich nicht mehr essenziell als Herrschaftskritik begreift, macht sich schlicht überflüssig.

Diese neue autoritäre Linie und die sie begleitenden ideologischen Verengungen sind in Jungle World noch nicht definitiv durchgesetzt. Deshalb wenden wir uns mit diesem Appell an die Redaktion, weil wir nicht davon ausgehen, dass alle Redaktionsmitglieder, AutorInnen und LeserInnen mit der Entwicklung der Zeitung zufrieden sind. Unsere Absicht liegt nicht darin, von Euch zu fordern, gewisse AutorInnen auszuschließen (obwohl sie schwer erträglich sind), wie dies umgekehrt mit Rückhalt in der Redaktion in der Petition vom 4. Dezember schon erfolgte. Vielmehr fordern wir euch auf, die Auseinandersetzung um linksradikale Theorie und Praxis wieder zu ermöglichen, statt die Wochenzeitung (anti-) deutschtümelnden Hegemoniebestrebungen auszuliefern. Gegenwärtig wird über zentrale Fragen in Jungle World nicht mehr gestritten, sondern abgeurteilt und ausgegrenzt. Das Resultat ist absehbar: Jungle World wird zum Sektenblatt und wird damit seine Funktion und seine LeserInnenschaft verlieren. Es wäre schade drum.

Hartmut Amon, Jochen Baumann, Tom Binger (Zeche Carl), Tanja Bogusz, Sabeth Buchmann, Jean Cremet, Klaus Holz, Heike Kleffner, Elfriede Müller, Irit Neidhardt, Darius Ossami, Marianne Ostermann, Alexander Ruoff, Bernhard Schmid, Jens Schneiderheinze, Kollektiv Schwarze Risse, Mariella Schwertmüller, Thomas Seibert (Fantômas-Redaktion), Enzo Traverso, Peter Ullrich (Gesellschaft für eine lustigere Gegenwart, Leipzig), Unrast Verlag, Jan Weyand, Wolf Wetzel (Autor der ehemaligen autonomen L.U.P.U.S.-Gruppe), Mag Wompel, Raul Zelik