Neutralität ist Illusion
Alain Gresh vermittelt Basiswissen über den Nahost-Konflikt
Wer derzeit ein Buch über den Nahost-Konflikt schreibt, tut gut daran, seinen persönlichen Hintergrund wenigstens in Stichworten deutlich zu machen. Der Klappentext von Alain Greshs Buch "Israel-Palästina. Die Hintergründe eines unendlichen Konflikts" enthält folgende Informationen über den Autor: "Alain Gresh, geboren 1948 als Sohn einer russischen Jüdin und eines ägyptischen Kopten in Kairo, ist Chefredakteur der in Paris erscheinenden Monatszeitung für internationale Politik Le Monde diplomatique. Er lebt in Paris."
Zwei Religionen, zwei Erdteile und publizistisches Engagement für Frieden, sozialen Fortschritt und Menschenrechte bieten natürlich ebenso wenig eine Gewähr für internationalistische Unvoreingenommenheit wie Greshs Bekenntnis zu einem ominösen "Kompass der menschlichen Vernunft", von dem er sich leiten lasse.
Dass Gresh mehr der palästinensischen Seite zuneigt, wird schon durch das Titelfoto verdeutlicht: Eine palästinensische Familie sucht Zuflucht in ihrem Haus, an dem ein israelischer Panzer vorbeifährt. Das ist tägliche Realität in den "Gebieten", bezogen auf den Gesamtkonflikt aber nur eine Teilrealität - wie die israelischen Opfer palästinensischer Selbstmordattentäter, die nach jedem Anschlag in den westlichen Medien abgebildet werden. Was den Wert des Buches ausmacht, ist aber nicht die Parteinahme für die "strukturell Unterdrückten", die auch auf einem Flugblatt Platz hätte, sondern die in ihm enthaltene Sammlung wesentlicher Fakten, die einfach kennen muss, wer über das Thema Israel/Palästina mitreden will.
Internationales Recht als Maßstab
In der Vorrede wendet Gresh sich direkt an seine gerade erwachsen gewordene Tochter. Ihrer Generation will er die in Jahrzehnten erworbene "internationalistische Erfahrung" übermitteln: Lehren aus der Entkolonisierungsbewegung der 1960er-Jahre, dem vietnamesischen Befreiungskrieg, dem algerischen Kampf um Unabhängigkeit, auf den er mehrfach zurückkommt: "Uns faszinierten jene Franzosen, die man als Vaterlandsverräter verschrie, weil sie sich auf Seiten der Nationalen Befreiungsfront Algeriens engagierten." Doch so einfach liegen die Dinge in Israel/Palästina nicht. Zwar hält Gresh Neutralität für eine Illusion, genauso aber lehnt er "abstrakte Solidarität mit einem der beiden Lager" ab. Wo es "gegensätzliche Gebietsansprüche" gebe, könne nur das "internationale Recht" Orientierung geben. Die einschlägigen UN-Resolutionen erkennen an, "dass im historischen Palästina fortan zwei Völker leben, das jüdische israelische Volk und das palästinensische Volk, und dass jedes dieser Völker Anspruch auf einen unabhängigen Staat hat."
Alain Gresh umreißt in groben Zügen, was der Verwirklichung dieses Anspruchs bis heute im Wege gestanden hat. Er schildert die Ursprünge des Zionismus, die jüdische Einwanderung nach Palästina, die Politik der britischen Mandatsmacht, den Teilungsplan der UNO von 1947, die folgenden Kriege, die erste und die zweite Intifada. Schon in der Vorrede betont er die "moralische Dimension" des Konflikts, auf die er im fünften Kapitel ("Vom Völkermord zur Vertreibung: das Leiden des Anderen") zurückkommt: "Es ist von allergrößter Wichtigkeit, dass die internationale Gemeinschaft ebenso wie Israel das Unrecht anerkennen, das den Palästinensern zugefügt wurde. (...) Die arabische Welt steht in der Pflicht, Israel in den Grenzen von 1967 anzuerkennen, und die Palästinenser sollten die Realität des jüdischen Leids anerkennen."
Zwar macht Gresh auch Anmerkungen zu den ungelösten Fragen des israelisch-palästinensischen Konflikts wie den Gebietsforderungen, den Siedlungen, einem Rückkehrrecht palästinensischer Flüchtlinge oder dem Status Jerusalems. Zu Recht sieht er aber seine Aufgabe nicht darin, einen "Friedensplan" zu entwerfen. Statt dessen widerlegt er Legenden, die einer Lösung entgegenstehen - z.B. die auch in Teilen der Linken gern geglaubte Darstellung, der israelische Premierminister Ehud Barak habe im Juli 2000 in Camp David Arafat ein "großzügiges Angebot" gemacht, das Arafat in verantwortungsloser Weise ausgeschlagen habe. In Camp David habe "praktisch ein viergeteilter palästinensischer Staat zur Diskussion gestanden", schreibt Gresh, "auf der anderen Seite wollte Israel in keiner Verhandlungsphase auf die Kontrolle über einen Teil des Jordan und die Außengrenzen sowie den Luftraum des palästinensischen Staats verzichten." Unwahr sei die Behauptung, die palästinensische Seite habe auf der Rückkehr von drei Millionen Flüchtlingen nach Israel bestanden. Im übrigen beweise der im Januar 2001 in Taba ausgehandelte Kompromiss, "dass das ,großzügige Angebot` von Camp David so großzügig nicht war."
Ob das Abkommen von Taba die Basis für eine langfristige friedliche Koexistenz hätte abgeben können, wie Gresh glaubt, konnte in der Praxis dann nicht mehr erprobt werden. Auf Barak folgte Sharon, der schon das Oslo-Abkommen von 1993 als die "größte Katastrophe" bezeichnet hatte, die Israel je erlebt hätte. Mittel und Ergebnisse von Sharons Politik sind allgemein bekannt.
So steht am Ende von Greshs lesenswertem Buch eine apokalyptische Vision vom gemeinsamen Untergang der Sieger wie der Besiegten, wie sie in der Bibel über Simson erzählt wird. Von der Besatzungsmacht der Philister gefangen genommen und geblendet, bringt er das Haus zum Einsturz und tötet dadurch sich und seine Feinde: "Und es waren der Toten, die er in seinem Tode tötete, mehr als derer, die er in seinem Leben getötet hatte."
Js.
Alain Gresh: Israel - Palästina. Die Hintergründe eines unendlichen Konflikts. Rotpunktverlag, Zürich, 2002, 192 Seiten, mehrere farbige Karten, 21 EUR