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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 471 / 21.3.2003

Goodbye Taliban - welcome Warlords?

In Afghanistan ist keine Demokratisierung in Sicht

Große Worte werden von PolitikerInnen gerne dann bemüht, wenn die Realität sich nicht dem vorgesehenen Redetext fügen will. So sprach der deutsche Außenminister Joschka Fischer in seiner Begrüßungsrede auf der zweiten Petersberger Konferenz im Dezember 2002 vom "Kampf der zivilisierten Welt" gegen internationalen Terrorismus, irrationalen Fanatismus und menschenverachtende Kriminalität. Hätte er anstelle von pathetischen Phrasen einfach den Stand der Dinge vorgetragen, wäre offensichtlich geworden, dass die Situation der Menschen in Afghanistan vielerorts katastrophal ist und selbst die grundlegenden Kriegsziele nur teilweise erreicht worden sind.

Freiheit & Wohlstand" ist in Afghanistan bislang nicht aufgegangen. Wer einen Blick auf die jüngste Geschichte des Landes wirft, wird sich darüber nicht wundern.

Der Aufstieg der Taliban begann im Herbst 1994. In Afghanistan herrschte bereits seit 15 Jahren Krieg. Nach dem Abzug der Roten Armee 1989 bekämpften die verschiedenen Mudschahedin-Verbände weiter die Regierung und nachdem diese gestürzt und Kabul eingenommen war, brachen die Konflikte zwischen den Gotteskriegern auf. Im Dschihad gegen die sowjetischen Besatzer hatte der gemeinsame Feind die zahlreichen Armeen geeint, nun verfolgten die Mudschahedin-Führer wieder ihre eigenen Interessen. Eine von allen anerkannte Regierung konnte aber nicht gebildet werden. In den Provinzen herrschten "Warlords", die sich auf ethnisch weitgehend homogene, aus der Region stammende Milizen stützten.

Für die Bevölkerung bedeutete die Allgegenwart einer mäßig disziplinierten und unregelmäßig bezahlten Soldateska bei gleichzeitigem Fehlen jeglicher rechtsstaatlicher Strukturen eine ständige Bedrohung, der sie schutzlos ausgeliefert war. Als die Taliban mit dem Anspruch auftraten, diesen Zustand der Rechtlosigkeit zu beenden, die zerstrittenen Mudschahedin-Führer zu entmachten und eine Regierung aus "guten Muslimen" einzusetzen, hofften viele AfghanInnen auf Frieden. Die Ambitionen der Taliban, ganz Afghanistan unter einer Herrschaft zu vereinen und ihre anfänglichen militärischen Erfolge waren auch für die USA ausschlaggebend, als sie 1996/97 auf die Taliban-Karte setzten, um ihre Pipeline-Pläne zu verwirklichen. Im paschtunischen Süden, wo die Taliban ihre soziale Basis haben, wurden sie trotz ihrer der afghanischen Tradition widersprechenden sehr strikten und puritanischen Auslegung des Islam als Garanten für "Recht und Ordnung" angesehen. Je weiter sie ihr Einflussgebiet jedoch ausdehnten (1996 eroberten sie Kabul, 2001 beherrschten sie etwa 90% Afghanistans), desto deutlicher wurde, dass die Menschen die Willkürherrschaft der Warlords gegen die brutalste Religionsdiktatur seit Entmachtung der tibetischen Gelbmützen-Sekte eingetauscht hatten.

Den "Anti-Terror-Kriegern" gelang es zwar, innerhalb eines Vierteljahres die militärischen Strukturen der Taliban zu zerschlagen. Doch dabei bedienten sie sich der Warlords (von den USA bis Oktober 2002 mit Geld und Waffen versorgt), die auf diese Weise an die Macht zurückkehrten. Innerhalb eines Jahres hatte sich in Afghanistan wieder ein Zustand des permanenten Krieges eingestellt, gekennzeichnet von einer schwachen Zentralgewalt und der Konkurrenz von um Einflussgebiete kämpfenden Milizen (deren Mitgliederzahl auf 250.000 geschätzt wird). Aus der Region um Masar-i Scharif werden anhaltende Kämpfe zwischen den Truppen der Nordallianz-Generäle Atta Mohammed und Rashid Dostum gemeldet. Alle Versuche der Übergangsregierung von Hamid Karsai die Verbände zur Abgabe ihrer Waffen zu bewegen oder einzelne Kommandanten durch eine Einbindung in ein Amt zu domestizieren, sind bislang gescheitert.

Zustand des permanenten Kriegs

Für die Bevölkerung bedeutet die Herrschaft der Warlords, dass sie erneut Gewalt, Willkür und Ausbeutung ausgesetzt ist. Human Rights Watch berichtet von zahlreichen Übergriffen, Raubüberfällen und Vergewaltigungen, die juristisch nicht geahndet werden; ein Memorandum der Gesellschaft für bedrohte Völker spricht von "systematischer Einschüchterung, Vergewaltigung, Folter, Mord sowie der Behinderung der Presse- und Meinungsfreiheit". Eine siebenwöchige Rundreise von Inspektoren der Regierung im Herbst 2002 bestätigte viele der Vorwürfe. Die daraufhin von Präsident Karsai verfügte Entlassung von zwei Dutzend örtlichen Beamten und Geheimdienstoffizieren, zeigt die Machtlosigkeit der Regierung in Kabul.

Die unsichere Lage führt dazu, dass viele Geberländer zögern, die zugesagten Hilfsgelder auszuzahlen. Was in Afghanistan ankommt, wird fast ausschließlich für humanitäre Zwecke aufgewendet, Mittel für eine Verbesserung der desolaten Infrastruktur stehen nicht zur Verfügung. Derzeit scheint es keinerlei Konzepte dafür zu geben, wie wenigstens eine stetige, von Hilfslieferungen unabhängige Grundversorgung der Menschen zu gewährleisten sei.

Situation der Frauen: kaum verändert

Auch in einer anderen humanitären Frage gibt es offenbar ein west-östliches Verständigungsproblem. Als eines der zentralen Argumente für eine deutsche Beteiligung am Afghanistankrieg führten die Bündnisgrünen unermüdlich die Unterdrückung der Frauen durch das Taliban-Regime an. Tatsächlich hatte der Männerbund der Koranschüler die Frauen nahezu völlig aus der Öffentlichkeit verbannt. Ihnen war es verboten zu arbeiten oder eine Schule zu besuchen. Der Zwang zum Tragen der Burka war nur der sichtbare Ausdruck des Verschwindens der Frauen aus dem öffentlichen Leben. Doch auch nachdem die Burka nicht mehr vorgeschrieben ist und zahlreiche Mädchenschulen eröffnet worden sind, hat sich das Leben der meisten Afghaninnen de facto nur wenig verändert: Weibliche Angestellte von Hilfsorganisationen werden unter Druck gesetzt, ihre Jobs aufzugeben; Mädchenschulen wurden mehrfach Ziel von Angriffen; In der Provinz sind konservativ-patriarchale Vorstellung teilweise so vorherrschend, dass Mädchen von sich aus auf einen Schulbesuch verzichten; In einzelnen Provinzen ist verboten, dass Mädchen von männlichen Lehrkräfte unterrichtet werden - da es aber kaum Lehrerinnen gibt, kommt dies einem generellen Ausschluss von Bildung gleich.

Die Einschätzung, dass die Unterdrückung von Frauen ein auf das Taliban-Regime zurückzuführendes Phänomen sei, hat sich als falsch herausgestellt. Unter den traditionalistischen und islamistischen Gruppierungen gibt es einen breiten Konsens in dieser Frage, nur die Rigidität mit der den Frauen Bildung und Selbstbestimmung vorenthalten werden, unterscheidet sich. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn viele Frauen weiterhin die Burka tragen und Witwen zum Überleben nach wie vor nur wenige Alternativen zum Betteln oder zur Prostitution haben.

Auch in der Regierung setzen konservative Kreise eine restriktive Frauenpolitik durch. Die Bilder von der Petersberger Konferenz, wo unverschleierte Frauen mit am Verhandlungstisch saßen, können als geschickte Medieninszenierung angesehen werden, die mit der Realität nicht viel zu tun haben. Frauen mit auch nur halbwegs liberalen Auffassungen werden nach und nach aus ihren Positionen entfernt. So wurde die Richterin des Obersten Gerichtshofes Afghanistans Marzeya Basil ihres Amtes enthoben, weil sie im Zuge einer Fortbildung in den USA bei einem Treffen mit dem US-Präsidenten unverschleiert fotografiert worden war (Reuters, 2.11.2002). Als Verstoß gegen die Scharia wertete der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofes die Koedukation, was zwangsläufig zu einem Verbot führen müsse.

Der Hinweis auf die Scharia, also islamisches Recht, verdeutlicht, wie stark Afghanistans Führungseliten traditionalistischen oder islamistischen Vorstellungen anhängen. Die Loja Dschirga, die Große Ratsversammlung, hatte im Juni beschlossen, dass die Scharia, in Afghanistan zukünftig gelten soll. Was das genau heißt, wird sich noch zeigen, aber es gibt bereits einige Anzeichen, die wenig Gutes verheißen. So hat der Vorsitzende der Verfassungskommission erklärt, eine Trennung von Staat und Religion stehe überhaupt nicht zur Diskussion (Tagesspiegel, 24.1.2003). Dies würde einen Rückschritt sogar hinter die Verfassung von 1964, als das Land konstitutionelle Monarchie wurde, bedeuten. Ebenso fehlen im bekannt gewordenen Entwurf Artikel zur Presse- und Meinungsfreiheit oder zur Gleichberechtigung der Frauen. Auch einzelne Anordnungen wie das Verbot indischer Filme im Fernsehen, "unislamischer Musik" im Radio oder des Kabelfernsehens sowie die Schließung von Videotheken zeigen, dass bürgerlichen Freiheiten wenig Bedeutung beigemessen werden. Und sogar die Einführung der barbarischen Hadd-Strafen, in diesem Fall die Amputation von Gliedmaßen bei Diebstahl, wird aus höchsten Justizkreisen gefordert (WoZ online, 5.12.2002).

In der Präambel des Petersberger Abkommens heißt es, Afghanistan werde "seine politische Zukunft im Einklang mit den Grundsätzen des Islam, der Demokratie, des Pluralismus und der sozialen Gerechtigkeit in Freiheit" bestimmen können. Die Unvereinbarkeit zwischen Islam, zumal in einer fundamentalistischen Auslegung, und Pluralismus tritt immer deutlicher zu Tage. Und politische Gruppierungen, die sich für Demokratie einsetzen, gibt es nicht viele. Wer dies tut, lebt zudem gefährlich. Als am 11. November 2002 Studenten in Kabul gegen Engpässe bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln, Wasser und Strom demonstrierten, erschoss die Polizei drei Menschen. Unter solchen Umständen ist es auch nicht schwer vorherzusagen, wer bei den für 2004 vorgesehenen Wahlen die Mehrheit der Stimmen davontragen wird.

EU-weite Abschiebungen geplant

Afghanistan ist 2003 ein vom Krieg zerstörtes Land, in dem nach wie vor gekämpft wird . Schätzungen zufolge sind bei den Kämpfen und Bombardements seit Oktober 2001 mindestens 4.000 ZivilistInnen umgekommen. Noch immer jagen die US-Spezialeinheiten Osama Bin Laden, dabei erschießen sie oft genug bärtige Bauern (WoZ online, 5.9.2002). Die Bevölkerung leidet unter einer desolaten Versorgungssituation und dem Terror der lokalen Kriegsherren. Islamistische Gruppierungen verhindern jegliche Demokratisierung. Als zum "Krieg gegen Terror" aufgerufen wurde, hatten sich die Zukunftsprognosen ganz anders angehört. Mit launigen Sprüchen wie "Sherry statt Scharia" applaudierte sogar ein Teil der Linken dem Krieg. Aber der Sturz eines diktatorischen Regimes verbessert nicht automatisch die Lebenssituation der Bevölkerung. Heute beträgt in Afghanistan die Lebenserwartung 44 Jahre, die Kindersterblichkeit liegt bei 25%. Die Zeit ohne die Taliban hat den Menschen kaum Verbesserungen gebracht und keine Perspektiven eröffnet.

Nur die EU-Innenminister sehen das offenbar anders. Auf ihrem Treffen Ende November in Brüssel stellten sie 17 Mio. Euro bereit, um die etwa 100.000 in Europa lebenden afghanischen Flüchtlinge zur Rückkehr zu bewegen (wsws.org). Mit 170 Euro pro RückkehrerIn soll die Regierung in Kabul in die Lage versetzt werden, Arbeits- und Ausbildungsplätze zu schaffen. Besonders von "Rückführung" bedroht sind in Deutschland "geduldete" AsylbewerberInnen, die keine Anerkennung erhalten hatten, weil es im Taliban-Afghanistan keine staatliche Verfolgung gegeben habe (nur Pakistan und Saudi-Arabien hatten die Taliban offiziell anerkannt). Aber auch Asylberechtigte könnten, so fürchtet Pro Asyl, sich mit einem Widerspruchsverfahren konfrontiert sehen, wenn das Bundesamt die Asylgründe als hinfällig ansieht. Auch sie könnten letztlich in ein Land abgeschoben werden, das von den Krieg führenden Staaten als befriedet angesehen wird.

Gunnar Schedel