Eine unendliche Geschichte
Diktatur, Opposition und Krieg im Irak
Saddam Hussein, Giftgasmassaker, Kuwaitbesetzung, Golfkriege eins, zwei und drei; Bilder von zerstörten Städten, Flüchtlingen, Palästen mit goldenen Wasserhähnen und sich als Befreier gebende Invasoren - diese Bilder und Schlagworte zur Geschichte und Gegenwart des Irak sind bekannt und vertraut. Wenig bekannt ist hingegen die lange Geschichte der irakischen Opposition in- und außerhalb des Irak. Doch es sind eben diese verschiedenen oppositionellen Kräfte, die in möglichen Neuordnungs-Szenarien eine entscheidende Rolle spielen werden. Sabah Alnasseri zeichnet im folgenden die Entwicklung dieser Kräfte nach - von der Staatsgründung 1920/21 bis zur Gegenwart.
Die traditionell herrschenden Kräfte im Land wurden durch die vom britischen Kolonialismus verfügte Staatsgründung auf einen Schlag von traditionellen Herrschern zu Privateigentümern. Das gesamte Land wurde unter 400 Familien aufgeteilt, die über Nacht zur kapitalistischen Klasse wurden. Staatsform war, bis 1958, eine konstitutionelle Monarchie. Auch das Parlament wurde bis zur 1958er Revolution von Vertretern dieser kapitalistischen Klasse gestellt.
Die Revolution setzte eine Umstrukturierung der Klassenverhältnisse im Lande in Gang und wurde von breiten Teilen der irakischen Bevölkerung getragen. Es war gerade kein "Palastputsch" wie in anderen arabischen Staaten. Auch die kommunistische Partei spielte damals eine wichtige Rolle: Sie war die einzige kommunistische Partei im arabischen Raum mit Staatsmacht. Die Revolution war Großbritannien, Frankreich und den USA ein Dorn im Auge, denn man befürchtete, dass die Sowjetunion im Irak Fuß fassen könnte. Der neue Ministerpräsident Kassim war zwar Nationalist, aber er bildete eine Koalition mit der kommunistischen Partei gegen das Königshaus.
Doch sein Regime machte einige strategische Fehler. Der Versuch Kassims, das Öl im Irak zu verstaatlichen, stellte zwar in der damaligen Zeit einen revolutionären Akt dar. Dieser aber kollidierte unmittelbar mit den Interessen der USA und setzte außerdem die Sowjetunion unter Druck, die die irakische KP unterstützte. Denn die Verstaatlichung des Öls in einer "amerikanischen" Interessenzone hätte die (Kuba-) Krise zwischen Sowjetunion und USA weiter eskalieren lassen. Kassims Ermordung ist nicht zuletzt auch auf diesen Versuch der Verstaatlichung zurückzuführen.
Die Sowjetunion ließ schließlich ihren Verbündeten im Irak im Stich, und die USA unterstützten die Nationalisten, d.h. Teile des Militärs und die Baath-Partei. Insofern war das Timing der Verstaatlichung ein strategisch-tödlicher Fehler gewesen, der dazu führte, dass andere gesellschaftliche Kräfte, besonders die der Baath-Partei, stärker wurden. Aber weil die irakische Regierung, und vor allem die kommunistische Partei, nichts unternahmen, außer auf Anweisungen aus der UdSSR zu warten, konnte die Baath-Partei genügend konservative Kräfte mobilisieren - und schließlich wurde die Regierung gestürzt.
Die Baath-Partei war zu diesem Zeitpunkt, 1963, eine nationalistische Partei mit panarabischen Zügen. Ihre Strategie zielte darauf, sich zugleich von der Sowjetunion und der NATO abzusetzen. Man suchte eine Art dritten Weg, wie in vielen arabischen Ländern. Die Baath-Partei nannte diesen Weg arabischen Sozialismus. Tatsächlich aber handelte es sich um eine national-ethnische Form des Technokratismus.
Für jeden Toten ein Auto
Bis 1968 waren die Pan-Arabisten unter den Brüdern Arefs an der Macht. Mit der Machtübernahme von Al-Bakr, dem rechten Flügel der Baath-Partei, wurde im Jahre 1968 gleichsam die Macht der Baath-Partei untergraben, und sie geriet zu einem Anhängsel der ideologischen und der Sicherheitsapparate des Staates. Ihr Ziel war es, die gesamte irakische Bevölkerung in Baath-Parteimitglieder zu verwandeln, damit es keinen Raum mehr für andere politische Kräfte gäbe. Das ist allerdings nie gelungen.
Die irakische KP wurde Opfer ihrer eigenen Strategie, sich mit dem Baath-Regime auf einen "national-patriotischen Pakt" einzulassen, um so schrittweise die Staatsapparate durch die Teilnahme an der Macht zu erobern. Auf diese Weise bekam das Regime freie Hand, gegen die verbliebenen kurdischen und schiitischen Kräfte brutal vorzugehen. Nachdem diese schließlich zerschlagen waren, erlitt die Kommunistische Partei ein nicht minder blutiges Schicksal.
Doch das brutalste Kapitel der Repression begann mit der Machtübernahme von Saddam Hussein im Jahre 1979. Al-Bakr war krank, man schob ihn ab, und Saddam Hussein trat als sein Stellvertreter auf. So übernahm er dessen Geschäfte, aber de facto war dies ein interner Putsch - der zugleich im internationalen Kontext verstanden werden muss. Denn die Revolution im Iran 1979 zwang die USA, die Golfmonarchien, Russland und Westeuropa dazu, innerhalb der irakischen Baath-Partei Kräfte zu unterstützen, die als eine sunnitische Konterkraft zu dem schiitischen Regime im Iran aufgebaut werden konnten, was Saddam Hussein zu nutzen wusste, indem er sich als Gegengewicht zur schiitisch-persischen Revolution in Szene setzte.
Das Baath-Regime versuchte, eine neue soziale Basis im Irak zu schaffen durch Fraktionierung der irakischen Bevölkerung entlang ethnischer, religiöser und politischer Gruppen, wie Kurden, Araber, Christen, Muslime etc. Das Regime versuchte, sich selbst zu stabilisieren, indem es einerseits diese ethnischen und kulturellen Unterschiede beständig reproduzierte und indem Saddam Hussein sich andererseits als homogenisierende und völkerverbindende Kraft darstellte.
Die Kriegspropaganda gegen den Iran ermöglichte es dem rechten Flügel der Baath-Partei, breite Schichten der Bevölkerung hinter sich zu bringen. Kriegsschenkungen taten ihr Übriges dazu. Das nahm während des ersten Golfkrieges zwischen 1980 und 1988 teilweise so absurde Formen an, dass die Kriegstoten in Kapital für die Angehörigen umgewandelt wurden. Jeder, der einen Bruder oder Vater im Krieg verlor, bekam ein Auto, ein Haus oder Ähnliches geschenkt.
Nach dem ersten Golfkrieg geriet das Regime wieder in eine ökonomische, ideologische und politische Krise. Sehr viele Menschen, vor allem im wichtigsten Sicherheitsapparat, dem Militär, stellten Fragen nach dem Sinn dieses Krieges, und anstatt die ökonomische Krise zu überwinden, flüchtete sich das Regime in das Kuwait-Abenteuer im Sommer 1990. Das irakische Regime schaffte es also stets, sich durch Formen der Gewalt und der Kriegsökonomie am Leben zu erhalten.
Gleichwohl war das Baath-Regime längst nicht so stark, wie es zuletzt erschien. Bereits seit Jahren werden der Norden und Teile des Südens des Irak nicht mehr von diesem Regime kontrolliert. Und ein großer Teil der Bevölkerung, der während des ersten Golfkrieges gegen den Iran vermutlich noch wohlwollend gegenüber dem eigenen Regime war, stand schon lange nicht mehr hinter ihm. Das irakische Regime war auch militärisch abgewirtschaftet: Viele Generäle, Offiziere und andere dem Regime nahe stehende Kräfte verließen das Land und gründeten ihre eigene oppositionelle Organisation - die sogenannte INA (Iraqi National Accord). Die Mitglieder der kommunistischen Partei haben nach ihrem Verbot Ende der 70er Jahre innerhalb des Iraks bis heute im Untergrund gearbeitet.
Anfang der achtziger Jahre entstand im Iran eine neue (konservative) irakische Opposition unter der Führung von Mohammed Baqer al Hakim: der "Hohe Kongreß der Islamischen Revolution", dessen soziale Basis sich vor allem aus den vom Baath-Regime vertriebenen Schiiten rekrutierte. Eine wirkliche Neuformierung der irakischen Opposition, deren Zusammensetzung durch die neu hinzukommenden liberalen und monarchistischen Kräfte verkompliziert wurde, fand erst im Zuge des zweiten Golfkrieges statt. Anfang 1991 traf man sich in Beirut (Libanon), um mit der irakischen Entwicklung, insbesondere dem spontanen Aufstand gegen das Regime im März jenes Jahres, Schritt zu halten und eine gemeinsame Handlungslinie festzulegen. Aus diesem Treffen ging das sogenannte "Joint Action Committee" (JAC) hervor, eine Dachorganisation irakischer Oppositioneller, deren Spektrum von der Kommunistischen Partei bis zu rechtskonservativen Kräften reicht.
Progressive Kräfte ausgebootet
Das JAC bekam aber Konkurrenz, als sich liberale Kräfte abspalteten und den sogenannten "Iraqi National Congress" (INC) im Jahre 1992 in Wien gründeten - ein Projekt, das ursprünglich unter der Ägide des JAC geplant war und alle oppositionellen Strömungen Iraks zusammenfassen sollte. Der INC wollte den vielfältigen ethnischen, politischen, religiösen und ideologischen Differenzen Rechnung tragen und strebte ein föderalistisches System liberaler Prägung nach US-amerikanischem Vorbild an, mittels einer Doppelstrategie aus bewaffnetem Widerstand und "Befreiungsdiplomatie" gegenüber den konservativen Golfstaaten.
Damit geriet der INC in direkte Konkurrenz zu oppositionellen Kräften in Syrien und Iran sowie zum 1996 in London gegründeten linken Block der "Bewegung der irakischen Demokraten". Seinem Selbstverständnis nach will der INC eine Alternative "jenseits von links und rechts" sein, der von den konservativen und liberalen Kräften in- wie außerhalb der Region gestützt wird.
Real sah und sieht sich der INC jedoch mit drei Problemen konfrontiert. Erstens setzt sein kurdischer Operationsraum eine politische Stabilität voraus, die aufgrund der Rivalitäten zwischen den Kurdenführern Talabani und Barzani nicht gegeben ist. Zweitens schränkt die Nähe zu den USA eine Reihe von Handlungsoptionen ein, und drittens fehlt es dem INC im Irak an sozialer Basis und politischer Glaubwürdigkeit.
Insgesamt wird die Zahl irakischer Oppositionsgruppen auf 70 bis 150 geschätzt. Ihr Boom nach dem zweiten Golfkrieg war nicht nur Ausdruck der (illusorischen) Hoffnung auf einen baldigen Sturz des Regimes und anschließende Teilhabe an einer neuen Regierung. Hinzu kam eine generelle Unzufriedenheit mit der traditionellen Opposition. Doch die Zahlen verstellen die Realität eher, als sie zu erhellen: Denn dahinter steht weder eine breite Repräsentanz noch eine faktische Präsenz im Irak selbst. Die Mehrheit der IrakerInnen wusste nicht einmal von der Existenz der diversen Gruppierungen und fühlte sich mit dem Regime und dem UN-Embargo allein gelassen.
Nie dagewesener Rüstungswettlauf
Anfängliche Versuche der USA, Saddam Hussein durch einen internen Putsch zu stürzen, sind nicht zuletzt auch an den effektiven Machtstrukturen des Regimes gescheitert. Das Hauptproblem dieser Putsch-Strategie lag jedoch darin, dass sie dem Washingtoner Szenario von einem föderalistisch-liberalen Irak zuwiderliefen. Ein Putsch hätte die Macht des Militärs nicht gebrochen. Der zweite Versuch der USA, mit Hilfe des INC zum Erfolg zu kommen, ist vor allem an der halbherzigen Unterstützung und den Konflikten innerhalb des INC gescheitert.
Daraus hat man gelernt. Washington beschloss, den INC zukünftig stärker zu unterstützen und den Druck auf das Regime durch Einschluss weiterer konservativer Oppositionskräfte zu erhöhen. Damit aber blieben relevante Teile der irakischen Opposition außen vor und erleichterten es Saddam Hussein, auch diese Strategie zu durchkreuzen.
Der INC ist heute vor allem in Großbritannien und den USA verankert. Und dieser INC wurde in den letzten Monaten vor dem Krieg zusammen mit der Al-Hakim-Gruppe, dem INA und der monarchistischen Strömung in die USA eingeladen, und sie wurden praktisch als politische Kräfte anerkannt: Dies sind die Kräfte, die jetzt auf der politischen Bühne erscheinen; die konservativ-liberalen Kräfte, die de facto nicht alle oppositionellen Kräfte des Irak repräsentieren. Viele kommunistische, andere linke und intellektuelle Kräfte bleiben ausgegrenzt. Nicht zuletzt deswegen ist zu befürchten, dass es nach einem Sturz des irakischen Regimes zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommen wird.
Der konservativ-liberale Teil der irakischen Opposition und auch Teile der irakischen Linken votierten für den Krieg, erhofften sie sich doch demokratische Veränderung im Irak nach einem "Regimewechsel". Zu befürchten ist jedoch - und dies zeigen die Erfahrungen in Ex-Jugoslawien, in Afghanistan, in einigen afrikanischen Ländern etc. -, dass die "nationalen Interessen" der USA nach dem Krieg am besten zu gewährleisten sind in einem schwachen, dezentralisierten und einem in drei Zonen (analog zu den sogenannten "Schutzzonen") zerfallenen Irak. Dies käme einem Bürgerkrieg um Macht und Einflusszonen rivalisierender oppositionellen Kräfte gleich, was die ständige militärische Präsenz der USA "vor Ort" notwendig machen würde.
Und genau dies könnte das amerikanische Ziel sein: die Kontrolle über ökonomische und geostrategische "Stützpunkte" innezuhaben und weniger das sogenannte "nation-building" - eine Metapher, die Reminiszenzen an die alte koloniale Politik des Protektorats hervorruft. Eine ethnisch-territoriale Segmentierung aber bedeutet weitere Instabilität und macht nicht nur amerikanische Militärpräsenz auf Dauer erforderlich, sondern treibt die Region außerdem in einen nie da gewesenen Rüstungswettlauf.
Sabah Alnasseri
In der nächsten ak-Ausgabe wird Sabah Alnasseri mögliche "Nachkriegsordnungen" im Irak analysieren.