Berliner RZ-Prozess: Aussitzen statt Aussetzen
Es war der 120. Prozesstag. Auf dem Flur vor dem Saal 500 des Kriminalgerichts Moabit herrscht vor Verhandlungsbeginn eine ausgelassenere Stimmung als sonst. Die Angeklagten, inzwischen alle - zum Teil auf Kaution - aus der U-Haft entlassen, wirken ein wenig aufgekratzt. Es lag etwas in der Luft, an diesem 20. März, fast zwei Jahre nach Prozessbeginn.
Schon die morgendliche Zeitungslektüre ließ erahnen, dass dieser Prozesstag anders verlaufen würde als die Verhandlungstage der letzten Zeit. Seit Monaten schleppt sich das Verfahren zäh dahin. Von den zwei Terminen in der Woche fällt in der Regel ein Prozesstag aus. Und wenn ein Verhandlungstag stattfindet, dann wird er regelmäßig nach weniger als einer Stunde beendet. "RZ-Prozess steht vor dem Aus", war an diesem Morgen im Berliner Tagesspiegel zu lesen. Die Berliner Zeitung sprach sogar von einem "Teilerfolg für ,Revolutionäre Zellen", was natürlich blanker Unsinn ist, hat sich die RZ Anfang der 90er Jahre selbst aufgelöst. Doch auch über scheinbar späte Erfolge kann man sich ja durchaus freuen.
Seit Mai 2001 findet vor dem 1. Strafsenat des Kammergerichts Berlin der Prozess gegen Sabine E., Matthias B., Harald G., Axel H. und Rudolf Sch. statt. Ihnen wird Mitgliedschaft in den "Revolutionären Zellen" (RZ) und die Beteiligung an zahlreichen Anschlägen im Rahmen der RZ-Flüchtlingskampagne in der zweiten Hälfte der 80er Jahre in Berlin vorgeworfen. Die Anklage beruht im Kern auf den Aussagen des Kronzeugen Tarek Mousli, der in einem separaten Verfahren im Dezember 2000 wegen Mitgliedschaft in den RZ zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt wurde.
Späte Erfolge
für die RZ
Die Presseberichte und die aufgeräumte Stimmung vor dem Sitzungssaal hingen indirekt mit diesem Kronzeugen zusammen. Der hatte nach seiner Festnahme nicht nur umfangreiche Aussagen gegenüber dem Bundeskriminalamt (BKA) und der Bundesanwaltschaft (BAW) gemacht, sondern auch mit Beamten des Verfassungsschutzes (VS) zahlreiche Gespräche geführt. Nach einem entsprechenden Antrag der Verteidigung übergab der VS im Februar 2002 197 Seiten Protokolle der Gespräche mit Mousli - den größten Teil geschwärzt und deshalb unbrauchbar. Im November legte die Verteidigung von Harald G. Klage vor dem Verwaltungsgericht (VG) Berlin auf Herausgabe der ungeschwärzten Protokolle ein. In einer so genannten Sperrerklärung hatte das Bundesinnenministerium die Schwärzungen damit begründet, ein Bekanntwerden dieser Passagen würde "dem Wohl des Bundes Nachteile" bringen. Die Verwaltungsrichter halten diese Sperrerklärung allerdings für rechtswidrig, denn sie sei "nicht frei von Mängeln".
In einem Beschluss vom 17. März bescheinigten sie der Klage gegen die Sperrerklärung Aussicht auf Erfolg - um dem Anspruch von Harald G. "auf ein rechtsstaatliches, faires Strafverfahren" gerecht zu werden, wie es dort so schön heißt. Jedoch lehnte das Verwaltungsgericht es ab, das Bundesinnenministerium in einem Eilverfahren zur Herausgabe der ungeschwärzten Vernehmungsprotokolle zu verpflichten. Vielmehr sei für eine Entscheidung in dieser Angelegenheit das Hauptsacheverfahren abzuwarten. Allerdings habe Harald G. - so das VG - "Anspruch auf Aussetzung der Hauptverhandlung vor dem Strafgericht".
Der Haken an der Sache: Ein Strafprozess darf maximal für 30 Tage unterbrochen werden. Mit einer endgültigen Entscheidung in der Verwaltungsgerichtssache ist allerdings erst in Jahren zu rechnen. Würde der Prozess ausgesetzt, müsste der Fall neu aufgerollt werden. Stimmt der Senat einer Aussetzung dagegen nicht zu, läuft er Gefahr, dass sein Urteil in der Revision vor dem Bundesgerichtshof (BGH) kassiert wird. Dieses Kuckucksei der KollegInnen vom VG Berlin vermieste unübersehbar am 20. März die Stimmung des Kammergerichts. Wie damit umgehen?
Böses
Kuckucksei fürs Kammergericht
Den entscheidenden Tipp gab wie immer in diesem Verfahren die BAW. Bundesanwalt Bruns machte in der Hauptverhandlung am 28. März klar, dass er den Beschluss des Verwaltungsgerichts für "evident rechtsfehlerhaft" halte. Den Richtern am Verwaltungsgericht warf er vor, sie bewegten sich "vollkommen außerhalb der Verfahrensordnung". Zudem hätten sie "keine Ahnung von der Strafprozessordnung". Ob über eine Aussetzung und die zwischenzeitlich von der Verteidigung gestellten Aussetzungsanträge überhaupt entschieden werden müsse, bezweifelte Bruns zynisch. Die Beweisaufnahme werde "auf unabsehbare Zeit anhalten", drohte Bruns unverhohlen, insofern könne mit einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Hauptverfahren im weiteren Prozessverlauf gerechnet werden.
Zwar hat das Kammergericht offiziell zu dieser Sache bislang nicht Stellung genommen, aber unter der Hand schon entschieden und entsprechende Fakten geschaffen: Der Prozess ist mittlerweile bis Januar 2004 terminiert. Aussitzen statt aussetzen!
Der VG-Beschluss brachte die Richter des Kammergerichts aber nicht nur in Sachen Aussetzung in die Bredouille. Auch die Ausführungen der Verwaltungsrichter in puncto Aussagegenese des Kronzeugen haben es in sich. Stellen sie doch klipp und klar fest, "dass eine bestimmte Vernehmungsweise quasi Geschäftsgrundlage" bei den Gesprächen zwischen dem VS und Mousli gewesen sei, "die naturgemäß zu einer Veränderung der Aussageinhalte geführt haben muss".
Dem Erinnerungsvermögen Mouslis sei, so die VG-Richter, mit "unterstützender Hilfe" auf die Sprünge geholfen worden, als ihm unter anderem Namen und Fotos "seitens der Vernehmenden vorgenannt" wurden. Es könne deshalb "nicht ernstlich bezweifelt werden, dass der dem Zeugen für seine Aussagen zur Verfügung stehende Kenntnisstand einer bestimmten ,Entwicklung` unterworfen war". Wie hatte selbst Mousli während der Hauptverhandlung zugegeben: "Vertrauen Sie nicht auf mein Gedächtnis. Das ist katastrophal! Aber wenn ich Bilder sehe oder wenn Sie Namen sagen, dann kommt es schon wieder."
mb., Berlin
Ausführliche und aktuelle Informationen zum Prozess unter www.freilassung.de