Kritik der Weltordnung
Ein Sammelband treibt die Debatten um Empire ein gutes Stück voran
Zu einer fortgeschrittenen Diskussionskultur gehört immer auch ein gutes Gefühl für das richtige timing. Ein ganze Zeit lang hat man nichts mehr gehört vom Berliner ID-Verlag, der im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts mit einer Reihe wichtiger Bücher und der Zeitschrift Die Beute von sich reden machte. Jetzt meldet sich der Verlag mit einem Sammelband zurück, der sich mit zehn profilierten Debattenbeiträgen um die feinen Unterschiede im Begriff der "Multitude" - zentraler Begriff in Michael Hardts /Antonio Negris Empire - kümmert.
Für Thomas Atzert und Jost Müller, Subtropen-Redakteure und Herausgeber des Sammelbands, liegt die Bedeutung von Empire im Anspruch Hardt/Negris, überkommene linke Theorien des Rückstands in Bezug auf die Umbrüche der letzten Jahre zu überführen und die Linke auf die Notwendigkeit zu verweisen, das "Potenzial gesellschaftsverändernder Kräfte" neu zu bestimmen. Beides ist unverzichtbar, soll "jene negative Einheit von Theorie und Praxis" aufgebrochen werden, "die die gegenwärtige Linke an einen Zynismus des Verstands und eine Apathisierung des Willens bannt." (5 f.)
Dazu gehört dann aber die Einsicht, dass Empire kein neues Kommunistisches Manifest sein will, das gläubig hingenommen oder wegen seines Scheiterns an einem so hoch gesteckten Ziel verdammt werden müsste. Hardt/Negris "Intervention" ist weder auf die Bilanz des globalisierten Kapitalismus noch auf eine Gebrauchsanweisung fürs richtige Leben im 21. Jahrhundert aus, sondern will die Bedingungen eines "Übergangs" bestimmen, dessen Ausgang offen ist. Das zeigen auch die Titel der wichtigsten Kapitel im ID-Band an, die erst die "Passagen der Souveränität" und dann die "Passagen der Produktion" ausloten. Atzert/Müller vermerken dazu: "Die Konzeption des Übergangs, der Passage verweist hier weder auf das Ziel eines historischen Transformationsprozesses noch auf einen bislang nicht erreichten Zustand, auf den die Entwicklung notwendig zusteuern würde. Die Passage ist kein ,Übergang zu etwas'. In dem metaphorischen Ausdruck sind Stabilität und Fragilität zugleich gemeint. Es ist die Restrukturierung von Raum und Zeit, die diese Passage kennzeichnet." (6) Tatsächlich schlagen Hardt/Negri mit der Metapher des Übergangs auch einen Bogen zurück in die kapitalistische Formation und die ArbeiterInnenbewegung des 19. Jahrhunderts, in der Marx und Engels ihre "Intervention" ebenfalls als Theorie und Praxis einer Passage entwarfen, die kein bloßer Durchgang oder Zwischenschritt, sondern selbst the real thing war: "Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung." (MEW 3, 35)
Empire und internationalisierter Staat
Wer sich im Übergang der "wirklichen Bewegung" orientieren will, muss allerdings wissen, dass er längst schon eingeschifft ist in die wilde Fahrt ins Offene. Darin wenigstens sind sich die drei Autoren einig, die den ersten Teil des Buches bestreiten: Giovanni Arrighi, Joachim Hirsch und Toni Negri. Alle drei gehen von einem tendenziell deterritorialisierten Kapitalismus aus, der im Zug seiner Ablösung vom nationalstaatlich eingehegten Territorium eine tief greifende Transformation sowohl der einzelnen Nationalstaaten wie des Systems ihrer internationalen Beziehungen bewirkt und damit auch die Felder sozialer Kämpfe entgrenzt. Arrighi, Sozialwissenschaftler aus New York und führender Vertreter der "Weltsystemtheorie", folgt den Autoren von Empire in der Entschlossenheit, "mit jeder Nostalgie aufzuräumen, die sich auf die Machtstrukturen einer früheren Phase der kapitalistischen Entwicklung bezieht." Auch er glaubt, "dass die entstehende Logik und Struktur der Weltherrschaft zugleich beides ist, eine Antwort auf die vorangegangenen Kämpfe der Ausgebeuteten und Unterdrückten wie ein gegenüber den vorhergehenden Strukturen günstigeres Terrain für die andauernden Kämpfe gegen die neuen Formen von Ausbeutung und Unterdrückung." (15) Arrighi widerspricht Hardt/Negri jedoch in der genauen Bestimmung des erreichten Standes der Deterritorialisierung des Kapitals wie der Arbeitskraft, auf die das Autorenduo seinen bisweilen tatsächlich anstrengenden Optimismus gründet.
Darin stimmt Arrighi auch der Frankfurter Staatstheoretiker Joachim Hirsch bei, dessen Bilanz des Übergangs eher negativ ausfällt. Während Hardt/Negri den Konstitutionsprozess des Empire zugleich als Konstitutionsprozess antagonistischer Multituden beschreiben, legen Arrighi und stärker noch Hirsch ihren Akzent auf die Vertiefung und Vervielfältigung sozialer Spaltungen im Prozess der Internationalisierung von Kapital und Staat. Beide monieren das Desinteresse Hardt/Negris an der empirischen Gültigkeit ihrer Begriffe - Kehrseite ihres Versuchs, im Rückgriff auf die produktiven Thesen unterschiedlicher Diskurse Denkräume allererst zu öffnen.
Hirsch verweist ausdrücklich auf das "Paradox, dass sich die Denationalisierung des Staates mit wachsenden Privilegienkämpfen und in deren Gefolg mit nationalistischen und rassistischen Tendenzen verbindet." (35) Mehr noch, die im Zuge der Aushöhlung der fordistischen Klassenkompromisse und des Scheiterns der antikolonialen Befreiungsbewegungen erreichte "Krise der Repräsentation (...) hat eine tendenziell populistische Situation zur Folge, die politische Mobilisierungen gegen imaginäre Gegner über reale Interessendifferenzen hinweg erleichtert." Das mache sich in der weltweiten Stärkung rechtspopulistischer Parteien ebenso wie in der globalisierungskritischen Bewegung bemerkbar, "die ebenfalls dazu tendiert, reale Interessengegensätze mittels der Konstruktion gemeinsamer Gegner - seien es ,der' Neoliberalismus, die mächtigen internationalen Organisationen oder gar das ,Finanzkapital' - auszublenden." (44f.)
Im Übergang der "wirklichen Bewegung"
Negri antwortet Arrighi und Hirsch in einem Interview, das Atzert/Müller mit dem Philosophen führten. Darin gesteht er zu, dass die Konstitution des Empire zu massiven Verwerfungen auch im Potenzial der gesellschaftsverändernden Kräfte führt, wertet diese Spaltungslinien aber nicht als kontinuierliche Vertiefung und Verlängerung alter Trennungen zwischen Innen und Außen oder Norden und Süden, sondern als neue und insofern diskontinuierliche Grenzziehungen innerhalb des Empire. Die seien - was nur bedingt ein Trost ist - eher von der Fragilität des Konstitutionsprozesses bedingt: "Die imperiale Herrschaft findet - im Gegensatz zu dem, was nationalistische und kolonialistische Vorstellungen der Modernisierung suggerieren - keine Unterschiede zwischen den Menschen vor, keine abgegrenzten Wirklichkeiten, sondern sie stellt Abgrenzungen und Unterschiede her. Das Empire kennt keine Grenzen, kennt kein Außen, sondern errichtet Grenzen, die das Ensemble der menschlichen Natur zerstören - zumindest, wo dies nicht auf Widerstand stößt. Doch auch der Widerstand hat, wie das imperiale Kommando, seinen Maßstab heute im Ensemble der menschlichen Natur und in der Globalisierung." (51f.) Die Bedeutung dieser eher unmerklichen Verschiebung klärt sich, sobald Negri von den Unterschieden im empirischen Urteil zu denen des methodischen Ansatzes übergeht. Dabei attestiert er Arrighi und Hirsch zwei einander zwar widersprechende, letztlich aber in dieselbe Richtung zielende Formen eines "marxistischen Objektivismus" (59), die jeweils "ein Moment von Transzendenz" voraussetzen, "das nicht auf das Handeln von Menschen in Kräfteverhältnissen und Antagonismen zurückzuführen wäre, die sie hervorbringen und die von ihnen hervorgebracht werden" (56). Arrighi vertrete einen Objektivismus strukturell immer gleicher Akkumulationszyklen und Hirsch einen Objektivismus der immer gleichen "relativen Autonomie des Staates" - beide als transhistorische Konstanten gedacht, die gerade ausschließen, worauf Hardt/Negri setzen: "Unsere Methode sucht hingegen nicht nach dem ewigen Zyklus der materialistischen Wiederkehr, sondern nach der fortdauernden Neuerfindung der Geschichte durch die Kämpfe der Multituden." (53) Würde der Begriff der Multitude allerdings als transzendenter Begriff eines "mythischen Proletariats oder einer ebenso mythisch handelnden Subjektivität" (124) verstanden, dann wäre jenem Objektivismus, der die Offenheit der Geschichte verleugnet, lediglich ein Subjektivismus entgegengesetzt, für den die Geschichte das Werk einer quasi-religiösen Ursprungsmacht ist. Dem entziehen sich Hardt/Negri durch die Verankerung des weltgesellschaftlichen Antagonismus im imperialen Produktionsverhältnis: "Die Beziehungen zwischen Biomacht (oder vielmehr kapitalistischer Herrschaft) und den biopolitischen Subjektivitäten durchzieht die gesellschaftlichen und die Produktionsverhältnisse in ihrer Gesamtheit, auch in den antagonistischen Prozessen. Auf dieser Bühne zeigen sich Herrschaft und Widerstand." (51)
Was die Menge werden kann
Klassenkampf und Multitude im Empire ist deshalb der Titel des zweiten Teils des Buches, in dem Michael Hardt, Judith Revel, Anne Querrien und noch einmal Negri den Status des Begriffs der Multitude näher bestimmen. Dessen innere Spannung zeigt sich en passant bereits im Interview, in dem Atzert/Müller auf den heuristischen, d.h. dem Erkenntnisprozess experimentell vorausgesetzten Status des Begriffs abheben, während Negri eher dessen begrifflichen Gehalt betont. Dass beide Momente sich nicht widersprechen, belegt der Beitrag von Michael Hardt, in dem eine prinzipielle Begriffsklärung vorgenommen und zugleich eine Klassenanalyse der Bauernschaft im Empire umrissen wird. Zusammengehalten wird beides durch den in den Begriff eingelassenen politischen Einsatz, "Marxens politisches Projekt des Klassenkampfs erneut zu entwerfen, jetzt definiert als Multitude gegen das Empire. Aus dieser Perspektive betrachtet, basiert die Multitude nicht so sehr auf der gegenwärtigen empirischen Existenz, sondern vielmehr auf den Bedingungen der Möglichkeit als Klasse." (67) Und für diese Intention ist die entscheidende Frage nicht: ",Was ist die Menge?` sondern ,Was kann die Menge werden?`" (67) In seiner Antwort zeigt Hardt zugleich die theoretische und politische Relevanz der für den Multitude-Begriff entscheidenden Bestimmungen der "Singularität" und des "Kommunen" auf: Begriffe insgesamt, auf die Klassenanalysen und Klassenpolitiken unter imperialen Bedingungen nicht werden verzichten können.
Der Beitrag von Judith Revel und das Nachwort von Atzert/Müller demonstrieren die Aktualität des in Empire geknüpften Netzes von Marxismus und Poststrukturalismus schließlich im Licht des Krieges. Die in Rom lebende Pariser Philosophin reformuliert poststrukturalistische Analysen des Krieges in der Perspektive des erweiterten Klassenkampfs von Multitude und Empire, und Atzert/Müller erproben dessen kategoriale Reichweite in einer Analyse der gegenwärtigen Formen internationaler Kriegführung. Auf nur wenigen Seiten zeigen sie, wie hohl die Wortgefechte sind, in denen wahrnehmungsresistente Kriegsbefürworter und geschichtsvergessene Nostalgiker von einst verdienstvollen Imperialismustheorien sich gegenseitig nachweisen, nichts von der "wirklichen Bewegung" zu verstehen, "welche den jetzigen Zustand aufhebt."
Bleibt anzumerken, dass das Urteil, mit dem Toni Negri 1979 wegen "bewaffneten Aufstands gegen den Staat" und "moralischer Verantwortung" für die Militanz der italienischen autonomia zu insgesamt 34 Jahren Haft verurteilt wurde, vor knapp drei Wochen erloschen ist - benvenuto, compagno!
Thomas Seibert
Thomas Atzert/Jost Müller (Hg.), Kritik der Weltordnung. Globalisierung, Imperialismus, Empire. Originalbeiträge von Toni Negri, Giovanni Arrighi, Joachim Hirsch u.a. Berlin 2003, 14 Euro.