An der Krise versagt die Politik
Schwierige Zeiten für Argentiniens soziale Bewegungen
"Sie sollen alle abhauen" heißt es in Argentinien seit dem Aufstand im Dezember 2001. Zur Zeit sieht es allerdings eher so aus, als würden sie alle wiederkommen. Ausgerechnet Ex-Präsident Carlos Menem, Sinnbild für Korruption und neoliberales Desaster, hat bei den Präsidentschaftswahlen am 27. April die meisten Stimmen bekommen - wenn auch so wenige, dass noch eine Stichwahl erforderlich ist. Die Bewegungen haben derweil mit verschärfter Repression zu kämpfen. Räumungen und Räumungsdrohungen gegen selbstverwaltete Projekte und Betriebe nehmen zu.
Neben den Aufrufen zu Demonstrationen und Aktionen gegen den Krieg gab es in Argentinien seit Februar zunehmend Aufrufe, sich drohenden Räumungen entgegenzustellen. AktivistInnen sehen durchaus einen Zusammenhang zwischen den Bomben auf Bagdad und den polizeilichen Bodentruppen, die in Buenos Aires immer häufiger in selbstverwaltete Räume einfallen, nach dem Motto: Eine neue Weltordnung braucht auch eine neue Ordnung im Stadtteil.
Ende Februar wurde das "Padelai" geräumt, in dem mehr als 500 Menschen seit zwanzig Jahren gewohnt hatten. Bei der Auseinandersetzung kam es zu vielen Festnahmen und Verletzungen. In Buenos Aires gibt es 200.000 Obdachlose und 2.500 besetzte Häuser. Zur Räumung kleinerer Wohnhäuser kommt es ständig, oft ohne öffentliches Aufsehen. Am 23.3. wurde die "Bewegung arbeitsloser Arbeiter San Telmo" unter Bedrohung mit Maschinenpistolen aus ihrem Haus geräumt. Zwei Tage später traf es die Nudelfabrik Sasetru im Industrievorort Avellaneda. Sie war nach jahrelangem Leerstand von Arbeitslosen besetzt worden. Neben 750 Uniformierten ist hier das gesamte Arsenal von Pferden, Hunden, Hubschraubern und gepanzerten Fahrzeugen im Einsatz. Am 9.4. werden vier piqueter@s (1), also organisierte Arbeitslose aus Mosconi (Provinz Salta) eingeknastet. Die ehemaligen Arbeiter der staatlichen Ölgesellschaft YPF hatten Straßen blockiert, um ihnen zustehende Abfindungen einzufordern. Ebenfalls im Norden des Landes, in Santiago del Estero, ist die Bauernbewegung MOCASE mit Polizei und Schlägertrupps von Großgrundbesitzern konfrontiert, die sie von dem Land vertreiben, das sie seit Jahren bebauen. Im Süden werden die indigenen Mapuche verfolgt, die sich gegen den Ausverkauf Patagoniens an multinationale Konzerne wehren. In der Hauptstadt stürmen die Räumungstrupps am 14.4. die Bank, die die Stadtteilversammlung Asamblea Lezama Sur letztes Jahr für verschiedene soziale und kulturelle Projekte besetzt hatte. Hier befand sich auch das Büro von Indymedia. Vier Tage später, in der Nacht zum Karfreitag, wurde Brukman geräumt, eine Textilfabrik unter Arbeiterinnenkontrolle. Eine Reihe weiterer Projekte ist akut gefährdet, und neben den offiziellen Drohungen gibt es noch die inoffiziellen: Immer wieder werden AktivistInnen anonym bedroht, eingeschüchtert und auch angegriffen, ganz im alten Stil der Diktatur.
Die Repression trifft die Bewegungen in einer kritischen Situation von abnehmender Beteiligung, internen Auseinandersetzungen und Zerwürfnissen. Die schärfsten Differenzen sind bei den piqueter@s aufgebrochen. Die beiden Verbände FTV und CCCm (2) haben sich Mitte Februar medienwirksam mit Präsident Duhalde an den Verhandlungstisch gesetzt und danach die entsprechende Erklärung gegen radikalere Gruppen abgegeben: Verhandlungen sind das Mittel der Wahl, und wer heute noch Straßen blockiert, spielt der Rechten in die Hände.
Zanon gehört den Arbeitern
Die Koordination der asambleas, der Stadtteilversammlungen, von denen es in Buenos Aires etwa 150 gibt, ist schon letztes Jahr dem Sektierertum zum Opfer gefallen. Hickhack zwischen linken Parteien und Splittergruppen bis hin zu Schlägereien haben zum Abbröckeln und schließlich zur Einstellung der sonntäglichen Treffen aller asambleas im Centenario-Park geführt. Die asambleas selbst treffen sich weiterhin in ihren Stadtteilen. Die Beteiligung ist stark zurückgegangen, die praktischen Projekte haben jedoch zugenommen. Rund vierzig asambleas haben Gebäude und Gelände besetzt, wo sie Volksküchen für die Armen aus dem Stadtteil betreiben, gemeinschaftlich Biogemüse anbauen, öffentliche Bibliotheken und Räume für Diskussion und unkommerzielle Kulturveranstaltungen unterhalten. Sie organisieren alternative Vertriebsnetze für die Produkte aus besetzten Betrieben und aus selbstverwalteten Kleinbetrieben von Arbeitslosen. Einige unterstützen die cartoneros, die jeden Abend zu Tausenden aus den Außenbezirken in die Hauptstadt kommen, um die Mülltüten am Straßenrand nach Verwertbarem zu durchsuchen. Die asambleas bauen in den Stadtteilen vielfältige solidarische Zusammenhänge auf. Bei abnehmender Bewegung drohen jedoch auch ihnen Institutionalisierung und Vereinnahmung. Der Vorschlag der Stadtregierung, einen "Bürgerhaushalt" (3) einzuführen, stieß aus eben diesen Gründen vor einem Jahr noch bei vielen asambleas auf Ablehnung. Sie sahen das Angebot als Versuch, die Dynamik der asambleas auszubremsen und sie in die üblichen Kanäle institutioneller Politik zu lenken. Inzwischen konnte Bürgermeister Ibarra stolz vermelden, dass fast 10.000 BürgerInnen sich auf eine solche Zusammenarbeit eingelassen haben.
Die Betriebsbesetzungen gehen indes weiter. Mehr als 140 Betriebe sind mittlerweile von ArbeiterInnen übernommen worden - Fabriken, Handwerksbetriebe, Supermärkte und sogar ein Vier-Sterne-Hotel mitten im Zentrum von Buenos Aires. Viele Betriebe sind vor allem damit beschäftigt, das eigene Projekt ans Laufen zu bringen. Einige versuchen jedoch, eine breitere Koordination von ArbeiterInnen und Arbeitslosen aufzubauen. Mit dieser Politisierung des Konflikts sind die Kachelfabrik Zanon in Neuquén (Patagonien) und die Textilfabrik Brukman in Buenos Aires zu Symbolen der Bewegung geworden. Genau diese Symbole sind nun angegriffen worden.
... und Brukman den Arbeiterinnen!
Am 8. April sollte die Räumung von Zanon stattfinden - nach 18 Monaten Besetzung, mehr als einem Jahr selbstverwalteter Produktion und der Schaffung von 40 neuen Arbeitsplätzen. Dazu ist es nicht gekommen. Den 310 ArbeiterInnen geht es längst um mehr als nur um ihre Arbeitsplätze. Sie hatten erklärt, dass sie dieses Projekt mit ihrem Leben verteidigen würden. Die ArbeiterInnen in der Fabrik verschanzt, mehr als 3.000 UnterstützerInnen vor dem Tor, LehrerInnen und Öffentlicher Dienst im Streik - angesichts dieser Entschlossenheit und Solidarität gab der Provinzgouverneur nach einem Tag höchster Anspannung bekannt, keine Polizei für die Räumung zur Verfügung zu stellen. (4)
Die Arbeiterinnen von Brukman haben nach ihrer unerwarteten Räumung eine ähnlich breite Solidarität erfahren wie die Arbeiter von Zanon. Über die Ostertage haben sich täglich Tausende vor den Gittern versammelt, mit denen die Polizei die Gegend weiträumig abgesperrt hat. Brukman ist im Dezember 2001 besetzt worden, nachdem die Besitzer schon monatelang kaum noch Lohn bezahlt und sich schließlich aus dem Staub gemacht hatten. 56 ArbeiterInnen arbeiten bei Brukman, die meisten sind Frauen. Vor der Besetzung hatten sie keinerlei gewerkschaftliche oder politische Erfahrung. Heute organisieren sie nicht nur die Fabrik selbst, sondern auch Demonstrationen, politische Treffen und Aktionen. Zwei Räumungsversuche, im März und November letzten Jahres, konnten sie bereits verhindern. Nach der erneuten Räumung haben sie erklärt, dass sie bis zur Rückgabe der Fabrik weiterkämpfen werden.
Am Ostermontag, mit einer Demonstration von 7000 UnterstützerInnen im Rücken, versuchten sie, die Absperrgitter zu überwinden. Aber kaum hatten die ersten vier Arbeiterinnen den ersten Schritt in Richtung Fabrik getan, begann mit einem Hagel von Tränengas und Gummigeschossen eine stundenlange Auseinandersetzung, in der die Polizei auch Bleimunition einsetzte. Am nächsten Tag errichteten die Arbeiterinnen auf der Straße vor der Fabrik ein Zelt, das zum Bezugs- und Kristallisationspunkt verschiedener Bewegungen geworden ist. Die Madres de Plaza de Mayo (5) machten aus Universitätsveranstaltungen öffentliche Kundgebungen. Asambleas nahmen die Mobilisierungen zum Anlass, sich neu zu koordinieren und richteten am Zelt einen täglichen Treffpunkt ein. MusikerInnen und KünstlerInnen machen hier Veranstaltungen. Für den ersten Mai riefen die Brukman-ArbeiterInnen zu einer gemeinsamen Kundgebung auf. Letztes Jahr fanden am 1. Mai mehrere Kundgebungen an verschiedenen Orten statt, da trotz vieler Versuche keine Einigkeit erzielt werden konnte. Aber diesmal kamen alle zu Brukman, um von dort zur Plaza de Mayo zu demonstrieren: ArbeiterInnen aus besetzten Betrieben und Gewerkschaftsopposition, StudentInnen, piqueter@s, asambleas, politische Gruppen und Parteien.
Wenige Tage vorher hatte Argentinien gewählt. Diesen vorgezogenen Wahltermin hatte Präsident Duhalde Mitte letzten Jahres verkündet. Er wollte die Lage beruhigen, nachdem die piqueteros Dario Santillán und Maximiliano Kosteki bei einer Straßenblockade von der Polizei gezielt erschossen worden waren. Für die Präsidentschaftswahl - denn nur um diese eine Figur ging es - standen 22 Kandidaten zur Auswahl. Die peronistische Partei konnte sich nicht einigen und schickte gleich drei Kandidaten ins Rennen: Menem, der als Präsident 1989-99 die Politik von Privatisierungen und Auslandsverschuldung betrieben hat, mit der das Land in die Krise abgestürzt ist; Rodríguez Saá, der nach dem Aufstand schon einmal für wenige Tage Präsident sein durfte und Kirchner, Gouverneur der Ölprovinz Santa Cruz und Mann des amtierenden Präsidenten Duhalde. Menem und Kirchner haben die meisten Stimmen bekommen (24% und 22%) und treten am 18. Mai zur Stichwahl an, wobei dem Hardliner Menem wenig Chancen vorausgesagt werden. Argentinien wird wieder einen Präsidenten haben, der gewählt und Peronist ist. Der Peronismus - die Hoffnung der Armen, dass ein höheres staatliches Wesen ihre miserable Lage doch irgendwie verbessern könnte - ist offensichtlich noch lange nicht tot.
Wahltheater um eine Figur
Die Linke und die Bewegungen hatten bei dieser Wahl nichts zu gewinnen. Die linken Parteien, die viel Energie im Wahlkampf verschwendet haben, kamen zusammen gerade mal auf 3%. Die Aufrufe, nicht oder ungültig zu wählen, fanden wenig Resonanz: etwas über 20% Enthaltungen und 2,7% ungültige Stimmen. Bei der letzten Wahl im Oktober 2001, kurz vor dem Aufstand, hatten mehr als 40% der WählerInnen nicht abgestimmt oder "Wutstimmen" abgegeben, also Stimmzettel, die durch Sprüche und Beschimpfungen ungültig gemacht waren.
Schwierige Zeiten für die Bewegungen. Aber sie sind nicht untergegangen, wie manche nach diesem erfolgreichen Wahltheater gerne glauben möchten. Der Kampf um Brukman und die anderen selbstverwalteten Räume ist noch nicht entschieden.
Piqueter@s, asambleas und die ArbeiterInnen der besetzten Betriebe knüpfen weiter an einem Netz solidarischer Zusammenhänge. Von unten zeigen sie Wege aus der Krise auf, der gegenüber jegliche Politik versagt. Der neue Präsident übernimmt ein Land, in dem die sozialen Widersprüche weiter bestehen und jederzeit wieder explodieren können. Die Wahlen sind keine Lösung für die tiefe Krise des politischen Systems und den Legitimationsverlust des Staates.
Um zu erreichen, dass sie wirklich alle abhauen, bleibt allerdings noch viel zu tun.
Alix Arnold
Anmerkungen:
1) "@" ist die spanische Entsprechung für das deutsche "I", z.B. in "AktivistInnen".
2) Federación Tierra y Vivienda, gehört zum Gewerkschaftsdachverband CTA, Corriente Clasista y Combativa, von ML-Partei dominiert
3) Presupuesto Participativo. Beteiligung der BürgerInnen an der Vergabe bestimmter Haushaltsmittel (bzw. an der Verwaltung des Mangels). Zu den Erfahrungen in Porto Alegre/Brasilien siehe den Bericht in ak 471.
4) Zu den verschiedenen Fraktionen der besetzten Betriebe, zu Kooperativen und "Arbeiterkontrolle" siehe den Bericht über Argentiniens besetzte Betriebe in ak 471.Zur verhinderten Räumung und zur Geschichte von Zanon siehe www.wildcat-www.de.
5) Mütter und Großmütter der "verschwundenen" Opfer der Militärdiktatur.