Von Godesberg nach Berlin
Schröder und Scholz schlachten die Linken - und die SPD
Vieles spricht dafür, dass der 1. Juni 2003 einmal ein historisches Datum wird, ähnlich wie der 15. November 1959. Damals gab sich die deutsche Sozialdemokratie ihr Godesberger Programm und schwor dem Sozialismus ab. Heute liquidieren Schröder-Scholz-Müntefering die Reste sozialdemokratischer Reformtraditionen.
Egal ob Schröder auf dem SPD-Sonderparteitag in Berlin einige kosmetische Veränderungen an seiner Agenda 2010 vornimmt oder nicht - das wesentliche Ergebnis steht jetzt schon fest: Die SPD wird die drakonischen Einschnitte bei den Sozialleistungen akzeptieren. Sie wird ihrem Chef nicht die Gefolgschaft verweigern, und die SPD-"Linke" wird wie ein geprügelter Hund in die Ecke kriechen und ein für alle Mal das Maul halten, zahnlos ist dieses ja schon jetzt.
Linkes Schattenboxen
Das, was bei den Grünen "Regierungslinke" heißt, schimpft sich auf sozialdemokratisch "parlamentarische Linke". Die Sozialpsychologie beider Gruppierungen ist indes dieselbe: Innerparteilich völlig marginalisiert, jederzeit erpressbar durch schier übermächtige Führungsfiguren, leidet man meist still und leise vor sich hin an dem unauflöslichen Widerspruch zwischen dem eigenen Image und dem tiefen Bedürfnis, dazuzugehören: zur Regierungsbank, zu den "GestalterInnen", zu denen, die ab und an mal interviewt werden. Ihre größte Angst besteht darin, keine "ernst zu nehmenden GesprächspartnerInnen", "unmodern", oder - ganz, ganz schlimm - "ideologisch verbohrt" und - wahlweise - "traditionalistisch" oder "fundamentalistisch" zu sein. Bei so viel Furcht vor Entzug von Anerkennung, Listenplätzen und Wahlkreisen wird das Rückgrat zu reinstem Glibber.
Die Fischers und Schröders halten sich ihre linken Hinterbänklerinnen wie possierliche Haustierchen, Unterschiede gibt es nur in den Domestizierungstechniken. Während bei den Grünen ohne erkennbare Eingriffe von oben erstmal intensiv diskutiert werden darf, bevor seine Majestät sagt, wo's lang geht, wird bei der SPD schon im Vorfeld kräftig gedroht. So verstieg sich SPD-Generalsekretär Olaf Scholz schon zu diversen Mitgliederbeschimpfungen und erhob die SPD-Statuten zu Verfassungsrang, als er das jetzt laufende Mitgliederbegehren an den Rand eines "Verfassungsbruchs" stellte. Und lange vor dem 1. Juni drohte Schröder seiner Partei erneut mit der Vertrauensfrage, wenn sie seiner Agenda nicht vorbehaltlos zustimmen sollte.
Diese Unterschiede im Vorfeld beider Sonderparteitage zeigen am deutlichsten, dass die Konsequenzen des 1. Juni für die SPD ungleich dramatischer sind als für die Grünen. Bei beiden werden die sog. Parteilinken abgewatscht werden, doch im Unterschied zu den Grünen wird gleichzeitig eine ganze Tradition, ein ganzes Milieu ein für alle Mal erledigt. Das Thema "soziale Gerechtigkeit" war nie ein wirklich grünes Thema, SozialpolitikerInnen bei den Grünen hatten schon immer einen leichten Exoten-Touch. Entsprechend leicht fällt es einer Partei, die sich zunehmend aus FreiberuflerInnen und (Öko-)Unternehmerinnen rekrutiert, sich auf das Modernisierungsgeseiere bei den sozialen Sicherungssystemen oder auf die Lüge von den Lohnnebenkosten einzulassen. Für Grüne ist es eben nicht so klar, wer die "Schwachen" in der Gesellschaft sind: Sind's die Alten oder die Jungen? Die Erwerbslosen oder die Arbeitsplatzbesitzer? Bei so viel Verwirrung kommt einem gar nicht in den Sinn, dass die eigentlichen Frontlinien vielleicht ganz woanders laufen könnten.
Eine Partei
wird entsorgt
Die Sozi-Seele ist da eindeutig empfindsamer. Bei vielen, gerade älteren SozialdemokratInnen gibt es bei aller Spießigkeit und allem Konservativismus ein Verständnis von "sozialer Gerechtigkeit", das an ein Verständnis von oben und unten, arm und reich gebunden ist: Für diese SozialdemokratInnen ist es nicht klar, warum Reiche keine Vermögenssteuer zahlen sollen. Bei aller Hetze über "arbeitsscheue Erwerbslose" wissen viele, was Massenentlassungen sind und wer daran schuld ist. Und für die meisten sind die paritätisch finanzierten, staatlich organisierten sozialen Sicherungssysteme ein zentrales Element von gesellschaftlichem Fortschritt. Viele denken bei "Reform" an Willy Brandt und zucken irritiert bis erschrocken zusammen, wenn ihr Boss die Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf 67 Jahre oder die Demontage des Kündigungsschutzes zur "Reform" erklärt.
Der Saarländer Schreiner ist der letzte bekanntere Repräsentant der Reform-Sozialdemokratie, und nichts macht deutlicher, wie weit der Umbau der SPD vorangeschritten ist. Selbst die "parlamentarische Linke" steht eher auf Seiten der Modernisierer. So ist deren Anführer Michael Müller schon eilfertig dem Genossen Bundeskanzler zur Seite gesprungen, als dieser die rot-grüne Kanzlermehrheit beschwor und dabei dem starrköpfigen Schreiner ein's zwischen die Hörner gab.
Trotz des Medienwirbels um Schreiner, Müller oder das Mitgliederbegehren - ein wirklich ernsthafter innerparteilicher Protest gegen Schröder ist nicht zu erkennen. Nur 5.000 Mitglieder sollen bisher das Mitgliederbegehren unterschrieben haben. Der Protest äußert sich eher indirekt: in Resignation, Parteiaustritten oder innerer Emigration/Wahlenthaltsamkeit. Eine offene Revolte gegen den eigenen Kanzler ist nicht die Sache eines/r deutschen SozialdemokratIn, da ist sie/er doch zu sehr ParteisoldatIn.
Es geht am 1. Juni 2003 nur vordergründig darum, eine weitere Niederlage der Restlinken in der SPD zu konstatieren. Sehr viel bedeutsamer ist der strukturelle Wandel, der in Berlin besiegelt wird. Wenn die SPD am 1. Juni die Agenda 2010 durchwinkt, dann beschert sie sich ihr zweites Godesberg. Am 15. November 1959 endete ein langer Verpuppungsprozess, und aus einer ArbeiterInnen- wurde eine Volkspartei. Am 1. Juni endet die Metamorphose vom sozialdemokratischen sozialen Reformismus zur modernistischen Funktionärspartei ohne spezielle soziale Anbindung und mit einer neoliberal-autoritären politischen Orientierung.
dk.