Titelseite ak
Linksnet.de
ak und Fantômas sind Partner von Linksnet.de

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 473 / 16.5.2003

Die Mauern von Jericho

Eindrücke von einer israelisch-palästinensischen Demonstration bei Tulkarem

Während alle Welt auf die Reformbemühungen in der palästinensischen Autonomiebehörde schaut und auf die Wiederaufnahme der Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern entlang des US-amerikanischen "Fahrplanes" unter Schirmherrschaft des sogenannten Nahostquartetts wartet, schafft Israel weiterhin Tatsachen. Dazu gehört auch die Errichtung monströser "Trennungszäune", durch die palästinensische Gebiete in isolierte Enklaven verwandelt werden.

Die Unterdrückung der palästinensischen Rebellion seitens des israelischen Militärs erschöpft sich nicht in einer Bekämpfung des bewaffneten Widerstandes und der Selbstmordattentate, sondern bedeutet auch die großflächige Zerstörung ziviler und ökonomischer Infrastruktur sowie einschneidende Verletzungen der Versammlungs- und Bewegungsfreiheit, kurz: eine kollektive Bestrafung von drei Millionen Menschen.

Gleichzeitig werden die Enteignungen palästinensischen Landes und der Ausbau der jüdischen Siedlungen vorangetrieben, in deren Konsequenz die territoriale Kontinuität der palästinensischen Gebiete zerstört und die Gründung eines lebensfähigen palästinensischen Nationalstaates unmöglich gemacht. Die SiedlerInnen, inklusive der jüdischen Viertel Ost-Jerusalems bislang etwa 400.000 Menschen, genießen den vollen Schutz der israelischen Armee und sämtliche Rechte israelischer StaatsbürgerInnen, inklusive bedeutender staatlicher Subventionen. Sie verfügen zudem über eine bestens an das israelische Kernland angeschlossene Verkehrsinfrastruktur, welche die besetzten Gebiete wie ein Netz durchzieht und von PalästinenserInnen nicht genutzt werden darf. (1)

Wie die israelische Besatzungspolitik insgesamt, so wird auch die Enteignung palästinensischen Landes von offiziellen israelischen Stellen üblicherweise mit dem Argument der legitimen Sicherheitsinteressen Israels begründet. Ein herausragendes Beispiel für diese Praxis stellt der weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorangetriebene Mauerbau zwischen dem israelischen Staatsgebiet und der besetzten Westbank dar. Am Samstag, dem 26. April, machten sich etwa 500 AktivistInnen der israelischen Grassrootsbewegung Ta'ayush (zu deutsch: Koexistenz) auf den Weg in das Grenzgebiet in der Gegend von Tulkarem, einer palästinensischen Stadt in direkter Nachbarschaft zur "Grünen Linie" (der Waffenstillstandslinie zwischen israelischem Staatsgebiet und dem bis 1967 unter jordanischer Verwaltung stehenden Westjordanland), um die dort entstehenden Befestigungsanlagen in einer gemeinsam mit palästinensischen Partnerorganisationen durchgeführten Demonstration zu skandalisieren.

Zwar hatte Ta'ayush am Tag zuvor mit einer großformatigen Anzeige in der Tageszeitung Ha'aretz auf diese Demonstration hingewiesen, doch die überschaubare Anzahl der TeilnehmerInnen verweist auf den derzeit geringen Mobilisationsgrad der israelischen Linken und auf die bis weit in das links-liberale Spektrum hineinreichende Akzeptanz der Idee einer von Israel ohne Verhandlungen einseitig durchgesetzten hermetischen Trennung zwischen jüdischen Israelis und PalästinenserInnen.

Der sogenannte Trennungszaun gehört zu den in Israel gegenwärtig kaum hinterfragten Heilsversprechen der Generalität und ihrer Ableger im politischen Establishment. Dabei handelt es sich um ein Monstrum aus je nach geographischer Lage variierenden Bauelementen entweder zehn Meter hohen Betonmauern oder zwei Meter hohen wie breiten Stacheldrahtbergen in Kombination mit etwa ebenso tiefen Gräben, die jeweils durch einen mehrere Meter breiten plattgewalzten Streifen entlang dieser Befestigungen ergänzt werden, auf dem Eindringlinge Spuren hinterlassen sollen. Beim Passieren von Kalkilya, in direkter Nachbarschaft israelischer Städte entlang der "Grünen Linie", können wir die Mauer aus nächster Nähe bewundern. Ihre Höhe soll verhindern, dass palästinensische Heckenschützen israelische Dörfer und Städte auf der anderen Seite beschießen können. Die zusätzlichen Befestigungen entlang beider Seiten der Mauer verwandeln diesen "Zaun" in eine bis zu 60 Meter breite Schneise, welche die Landschaft mit aufdringlicher Hässlichkeit zerschneidet.

Sicherheit vor Attentätern bietet die Mauer nicht

Kalkilya ist schon beinahe vollständig von derartigen Befestigungsanlagen eingekreist, nur ein schmaler und vom israelischen Militär kontrollierter Korridor ermöglicht den Verkehrsfluss aus und in diese palästinensische Enklave. Die Einkreisung Kalkiliyas dient angeblich dazu, die Gefährdung der jüdischen Siedlungen innerhalb der besetzten Westbank in direkter Nachbarschaft Kalkilyas durch palästinensische Guerillas und Selbstmordattentäter zu begrenzen. Der sicherheitspolitische Sinn dieser Maßnahme darf dennoch bezweifelt werden: Derlei drastische und ungerechte Maßnahmen stärken nur die Motivation für palästinensische Selbstmordattentate; auch waren die Siedlungen und die Grenze zwischen der Westbank und Israel bisher nicht gerade unbewacht. Nach Angaben der für ihre soliden Recherchen geachteten israelischen Menschenrechtsorganisation B'Tselem gelangten die meisten Selbstmordattentäter nicht etwa über die "grüne Grenze" an ihre Zielorte, sondern ganz regulär durch die mehr als 30 von Israel entlang der Grenze eingerichteten Checkpoints, die es auch in Zukunft geben wird.

Das Prinzip der Kantonisierung der besetzten Gebiete in eine Vielzahl voneinander isolierter Enklaven, die bei Bedarf jederzeit abgeriegelt werden können, ist seit Abschluss der Oslo-Verträge gängige Praxis der israelischen Armee, die sie im Laufe der Zeit und besonders seit Ausbruch der zweiten Intifada immer weiter perfektioniert hat. Der gegenwärtige Mauerbau ist ein weiterer dramatischer Schritt auf diesem Weg. Bislang werden derartige Befestigungsanlagen vor allem in der Gegend von Jenin, Tulkarem, Salfit und Kalkilya gebaut, geplant sind sie auch in Jerusalem und Hebron. Der genaue Umfang der Planungen bleibt bislang allerdings ein Geheimnis der Regierung Sharon, die in diesem Zusammenhang Protesten nicht nur seitens diverser Menschenrechtsgruppen und Restlinker, sondern auch und besonders seitens der Siedlerlobby ausgesetzt ist, welche in diesem Mauerbau eine von ihr strikt abgelehnte de-facto Grenze zwischen der Westbank und dem israelischen Kernland sieht. (2)

Unser Treffpunkt mit dem palästinensischen Demonstrationszug liegt in einem Olivenhain auf der anderen Seite des "Zaunes" zwischen zwei palästinensischen Dörfern in der Gegend von Tulkarem, wo die Befestigung von einem kleinen Durchgang unterbrochen wird. Der "Zaun" wird unter Berufung auf israelische Sicherheitsinteressen zumeist weit hinter der Waffenstillstandslinie von 1967 auf palästinensischem Gebiet gebaut, das zu diesem Zweck enteignet wird. So werden Teile der landwirtschaftlich wertvollsten Regionen der Westbank quasi in Stücke geschnitten, 19 palästinensische Dörfer mit insgesamt 128.500 EinwohnerInnen befinden sich nunmehr streng überwacht auf der israelischen Seite des "Zaunes" und teils willkürlich von ihren Feldern getrennt, ähnliches gilt neben den genannten Städten auch für 13 Dörfer mit 11.700 EinwohnerInnen auf der anderen Seite, die von zusätzlichen Befestigungsanlagen eingekreist werden und so häufig ihre Felder nicht mehr bestellen können. Etwa zwei Prozent der Westbank werden auf diese Weise de facto annektiert. Dafür werden zukünftig hunderttausende PalästinenserInnen in ghettohaften Enklaven eingeschlossen und oft ihrer Lebensgrundlage beraubt.

Da es ausgerechnet an diesem Morgen in Strömen regnet, gerät unser samstäglicher Fußmarsch zu einer mühsamen Wanderung durch schlammige Felder. Mit tonnenschweren Schuhen durch die Gegend torkelnd, lästern manche gegen diese Art des selbstkasteienden Nachempfindens palästinensischer Alltagsleiden. Eine mediengerechte Demo vor dem Mauerprunkstück bei Kalkilya wäre doch viel besser gewesen, meinen sie, doch den OrganisatorInnen ging es um eine gemeinsame israelisch-palästinensische Demonstration, die eben dort unmöglich ist. Endlich kommt der etwa 500 Menschen starke palästinensische Demozug lautstark auf uns zu, angeführt von einem mit Megaphon und Nationalflagge ausgestatteten Mann auf einem Esel, hinten fahren zwei Notarztwagen mit. Ein Jugendlicher hat sich gar mit einer schusssicheren Weste und einem Schutzhelm ausgerüstet. Einige AktivistInnen der aus der Soliszene ganz Westeuropas und Nordamerikas zusammengewürfelten "internationalen Beobachter" mit ihren grellen T-Shirts sind auch dabei. Es folgt ein lange währender Austausch von Schlachtgesängen, wobei sich die PalästinenserInnen als die deutlich stimmgewaltigere Fraktion erweisen. Inmitten des Gequirles finden sich zahlreiche Bekannte und Freunde, es gibt Gelegenheit Neuigkeiten auszutauschen. Das Jungvolk auf beiden Seiten hingegen bleibt meist in der eigenen Bezugsgruppe und beschnuppert sich eher verhalten. Danach folgen die wie üblich endlosen Redebeiträge, wobei fehlende Sprachkenntnisse diese für viele zu einer eher einseitigen Veranstaltung machen.

Teile der Westbank werden de facto annektiert

Auf der palästinensischen Seite sprechen Vertreter der kommunistischen Partei (Hizb al-Sha'b) und eines palästinensischen Landwirtschaftsverbandes sowie ein Parlamentsabgeordneter der Fatah. Neben der flammenden Verurteilung des Mauerbaus als rassistische Barrikade, der Forderung nach einem palästinensischen Staat in den Gebieten von 1967 inklusive Ostjerusalem, der Klärung der Flüchtlingsfrage sowie einigen Antikriegsslogans gegen die "Terroristen Bush und Sharon" sind auch innenpolitische Themen angesagt. Das Recht auf Widerstand gegen die Besatzung wird betont, etwaige Versuche der neuen palästinensischen Regierung, die Intifada zu beenden, erhalten eine klare Absage. Warnungen gehen an Abu Mazen und seinen Sicherheitschef Mohammad Dahlan, die palästinensischen Interessen nicht unter israelischem und amerikanischem Druck aufzugeben. Auf der israelischen Seite sprechen ein Dozent der Uni Tel Aviv und eine amerikanische Einwanderin als VertreterInnen von Ta'ayush gegen die Militärbesatzung, die Siedlungen und den Mauerbau als die in ihren Augen manifeste Etablierung eines Apartheidssystems in den besetzten Gebieten, welches die israelische Demokratie ihrer Substanz beraube. (3).

Bis auf zwei kleinere Armee-Einheiten, die von Ordnern und Verhandlungsteams sowie jeder Menge Handkameras auf Distanz zur leicht unruhigen Menge und in Beschlag gehalten werden, gibt sich die Staatsmacht unbeteiligt. Zwar ist dies eine nicht genehmigte Demonstration, doch offenbar zieht die Armee es vor, an diesem abgelegenen Ort nicht unnötig Ärger aufkommen zu lassen. So wurde die zuvor mehrere Tage dauernde Ausgangssperre in dem palästinensischen Dorf erst an diesem Morgen aufgehoben, offenkundig im Wissen um die geplante Demo. Bei früheren Gelegenheiten in der Gegend um Ramallah und Bethlehem wurden Ta'ayush-Demos schon mal böse zusammengeknüppelt. Hilfreich waren hier sicher die mitgereisten Medienleute ein französischer Radiojournalist, ein französisches Fernsehteam, al-Jazeera, das palästinensische Fernsehen und nicht zuletzt Chaim Yevin, Anchorman der Nachrichtensendungen im öffentlich-rechtlichen israelischen Fernsehen, eine Art israelischer Ulrich Wickert, der als Hobby Dokumentarfilme dreht, in diesem Fall einen über die israelischen Siedlungen. So konnte diese Veranstaltung, die ansonsten unter Ausschluss jeglicher Öffentlichkeit verlief, dennoch eine gewisse Wirkung entfalten, wenn auch nicht in den israelischen Abendnachrichten, wo Ta'ayush zumeist totgeschwiegen wird.

Am Ende zieht sich der palästinensische Demozug unbehelligt in das benachbarte Dorf zurück, erst danach setzen auch wir uns in Bewegung. Israelische SoldatInnen sind neben dem Zaundurchgang aufgefahren und machen sich lustig über die Aufforderung der PassantInnen, den Militärdienst in den besetzten Gebieten zu verweigern. Zurück im samstäglich trägen Tel Aviv lutsche ich in der Nachmittagssonne an meinem Eis und versuche, mich an die Schärfe des Kontrastes zum gerade Erlebten zu gewöhnen.

Achim Rohde, Tel Aviv

Anmerkungen:

1) Karte der Siedlungen in den Gebieten siehe www.btselem.org

2) siehe www.btselem.org

3) siehe www.taayush.org

Schwerpunkt Israel/Palästina

Ein ständiges Thema gerade für deutsche Linke. Statt auf ideologisch begründete Parteinahme für die eine oder die andere Seite setzen wir auf die Auseinandersetzung mit wesentlichen Fakten, die für die Erarbeitung einer linken internationalistischen Position unerlässlich sind. Dabei greifen wir auf die Kenntnisse und die Analysefähigkeit von Menschen zurück, die wissen, worüber sie reden. In dieser Ausgabe sind das Achim Rohde, Moshe Zuckermann und Omar Kamil. Drei Buchempfehlungen sollen darüber hinaus zum Weiterlesen animieren.