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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 473 / 16.5.2003

Ethisches Product Placement

(Selbst-)Inszenierungen des "unbequemen" Peter Singer

Der umstrittene australische Bioethiker Peter Singer hat seit Ende der 80er Jahre nicht nur in Deutschland immer wieder für Aufregung gesorgt. Singers Ethik sieht vor, schwer geistig behinderten Menschen, die nach Singers Auffassung "weniger Intelligenz als Tiere" haben, den Personenstatus und damit das Lebensrecht abzusprechen. Singer wurde mittlerweile an die US-Universität in Princeton berufen und wird bisweilen als "einflussreichster Philosoph der Gegenwart" gehandelt. Ob das stimmt, darf optimistisch bezweifelt werden, sicherlich aber ist Singer der international bekannteste Bioethiker seiner Zeit. Und das liegt nicht zuletzt an der Professionalität, mit der die Person Singer inszeniert wird: Singer, ein bioethisches Produkt. Ein Interview mit der Internet-Zeitschrift Heilpädagogik Online verschaffte Singer kürzlich einmal mehr Gelegenheit zur Selbstvermarktung. Zeitgleich erschien in der WOZ die Übersetzung eines vierseitigen Berichtes einer Krüppel-Aktivistin aus den USA, die von Singer zum öffentlichen Meinungsaustausch eingeladen worden war und diese Einladung angenommen hat.

Singer, seines Zeichens Tierrechtler, geht davon aus, dass "das Leben einer gesunden Ratte mehr wert ist als das eines unweckbaren Komapatienten" und tritt ein für eine "darwinistische Linke". Dieses Selbstbekenntnis als Linker hat nicht verhindern können, dass auf Einladungen Singers zu Kongressen oder Podien meist massiver, oft auch handgreiflicher Protest folgte. So sahen sich etwa im Jahr 1996 die VeranstalterInnen des Heidelberger Kongresses "Science Fiction" gezwungen, den Referenten Singer vorab wieder auszuladen, da sie fürchteten, den "prominenten Bioethiker" vor "gewalttätigen Protesten" nicht schützen zu können; ein bundesweites Aktionsbündnis aus Krüppelinitiativen hatte dazu aufgerufen, den Kongress zu verhindern. Das Bündnis hatte auf diese Weise anschaulich gemacht, dass es kaum darum gehen kann, Singers selbst gestellte Frage: Should this baby live? dadurch zu legitimieren, dass man sie "richtig" zu beantworten versucht, sondern nur darum, eine andere Frage zu stellen - und eindeutig zu beantworten: Should this guy speak?

Paradoxerweise hat es aber den Anschein, als hätte gerade das Singers Frage - und vor allem seiner Antwort: No, this baby should not live - zu besonderer Aufmerksamkeit verholfen; schließlich ging es ja jetzt auch um Meinungsfreiheit und Toleranz, und Singer und seine Lobby werden nicht müde, sich bei jeder Gelegenheit als nachdenkliche, querköpfige und unbequeme MahnerInnen zu präsentieren, die vor keiner zu leistenden Enttabuisierungsarbeit zurückschrecken, und sei es noch so mühsam.

Dies ist umso absurder, als sich das bioethische Programm von Singer & Co. längst als sukzessive umsetzbar erwiesen hat. Jüngstes Beispiel: In Kopenhagen sollen zukünftig in der Hauptstadtregion allen Schwangeren (also nicht nur den sogenannten "Risikoschwangeren") Scannings angeboten werden, die sie über die Wahrscheinlichkeit informieren, ob sie ein Kind mit Down-Syndrom erwarten. Pro Jahr werden in der Hauptstadtregion zwölf Down-Kinder geboren, und da Menschen mit Down-Syndrom im Durchschnitt 55 Jahre alt werden, wird die Ersparnis für die Allgemeinheit weit über 100 Millionen Kronen betragen, heißt es in der von der Direktion ausgearbeiteten Beschlussvorlage.

Should this
baby live?

Eben weil die Durchsetzung dieser "präferenzutilitaristischen Weltsicht", wonach moralische Entscheidungen entlang individueller bzw. gesellschaftlicher Kosten-Nutzen-Kalkulationen gefällt werden sollten, so gerne als Kampf gegen überkommene und fundamentalistische Tabus daherkommt, steht jegliche öffentliche Beschäftigung mit Singer vor dem Problem, dass sie ihm, selbst im kritischsten Diskurs, argumentative Legitimität verschafft. Noch die radikalste Kritik an Singer kann den Effekt nicht kontrollieren, dass Negativwerbung häufig die effektivste Form der Werbung ist. Zudem werden in jeder Konzentration auf die "umstrittene" Person Singer dessen Thesen zwangsläufig "vermenschlicht" und konkretisiert - und damit verharmlost. Je mehr die Biografie Singers in den Vordergrund rückt, ob nun einfach seine persönlichen Vorlieben und Abneigungen, Erfahrungen und Bedenken, seine individuelle Persönlichkeit oder aber sein einsamer Kampf, seine außergewöhnliche Biografie, sein originärer Standpunkt, umso mehr gerät zwangsläufig in den Hintergrund, wie dominant und hegemonial seine Position in konkreten biopolitischen Maßnahmen längst ist.

Auch wenn - bzw. gerade weil - diese Effekte nicht vollständig kalkulierbar sind, ist es nicht beliebig, in welcher Weise die Aufmerksamkeit auf die Person Singer gerichtet wird. In dem auf Englisch geführten Interview in Heilpädagogik Online präsentiert sich ein ruhiger, nachdenklicher Peter Singer, der eher von Hoffnungen, Fragen, Einschätzungen und Vermutungen spricht als von harten Werturteilen. Diese weist er geradezu unangenehm berührt zurück, etwa jenen deutschen, scheinbar unübersetzbaren Begriff " nicht lebenswert". Es ginge ihm nicht darum, so Singer, zu behaupten, das Leben von Menschen mit Down-Syndrom sei nicht lebenswert. Es sei lediglich relativ weniger wert als das Leben ohne Down-Syndrom. Glaubhaft besteht Singer darauf, wie verletzend es gerade für ihn, Enkel jüdischer Holocaust-Opfer, war, in Deutschland von linken KritikerInnen in die Nähe der Nazis gerückt zu werden: "Viele unterstellten, ich sei Teil der radikalen Rechten, dabei war ich immer Teil der Linken. Ich wurde sogar mit Nazi-Ideen in Verbindung gebracht, was völlig ignoriert, dass ich der Sohn jüdischer Flüchtlinge aus Wien bin, der drei seiner Großeltern im Holocaust verloren hat. ... aber ich sehe auch das Gute, was daraus folgte: Die Verkaufszahlen meines Buches in Deutschland stiegen dramatisch." Abgesehen davon, wie unsäglich der Nazi-Vorwurf vor dem Hintergrund von Singers Biografie sowieso ist, blendet er außerdem auch ideologisch aus, dass Singers "Praktische Ethik" um vieles mehr der neoliberalen spätkapitalistischen Normalität entspringt, als es möglicherweise jenen lieb ist, die in dieser Art der Etikettierung nach stabilen Gewissheiten suchen. Tragischerweise eröffnen sich außerdem gerade in der Richtigkeit dieser Zurückweisung für Singer weitere Möglichkeiten, seinen Diskurs als Objekt einer völlig absurden Diskriminierung zu inszenieren, die nur durch intensiviertes Zuhören und uneingeschränktes Ernstnehmen wieder ausgeglichen werden kann.

Eben dies praktizieren die Autoren jenes Interviews. Sie erklären gleich im Vorspann, dass sie nicht der Auffassung sind, dass Singer für die sogenannte "neue Behindertenfeindlichkeit" stehe. Und sie geben Singer Raum, seine spezielle Form der Gesellschaftsutopie zu entwerfen - auf Bitte der Fragenden "auch für Behinderte". Damit hat Singer kein Problem. Zunächst gelte es, sagt er, die zu breite Kategorie "Behinderte" zu unterteilen: in solche mit und solche ohne intellektuelle Kapazitäten. Letztere wiederum seien nochmal zu differenzieren in jene, die ihr Leben genießen - für diese wäre es ideal, "wenn es Menschen gäbe, die den Wunsch hätten, sie zu unterstützen" (und wenn nicht?). Ja, und schließlich jene, die keine intellektuellen Kapazitäten und auch keinen Genuss haben, für diejenigen wünscht Singer sich eine Gesellschaft, die nicht durch Ideen der Heiligkeit des Lebens beschränkt ist. Bedauerlich ist hier, dass die nächste und zugleich letzte Frage der Heilpädagogik-Experten nurmehr diese ist: "Wie kommen wir dahin?" Darauf kann Singer fröhlich antworten, dass sich in den letzten 20 bis 30 Jahren schon alles recht gut entwickelt habe.

Man fragt sich, woher die Leichtigkeit in Singers Argumentation (und im Fragespiel der Interviewer) kommt. Die Psychoanalytikerin Dietmut Niedecken hat an anderer Stelle dafür eine Erklärung: Peter Singer, sagt sie, kennt keine Menschen mit geistiger Behinderung. "Das merkt man an der Art und Weise, wie er über sie schriebt. Peter Singer redet nicht von konkreten Menschen, sondern von fiktiven Figuren, die er sich vorstellt."

Should this
guy speak?

Harriet McBryde Johnson ist nicht geistig, sondern körperlich behindert. Wegen einer neuromuskulären progressiven Muskelerkrankung sitzt sie im Rollstuhl und ist auf Assistenz angewiesen. Gleichzeitig ist sie Aktivistin der US-amerikanischen Krüppelbewegung. Sie weiß, dass die Realisierung von Singers Konzeption, nach der alle Eltern "frei" wählen können sollen, ob sie lieber ein behindertes oder ein nicht behindertes Kind haben wollen, ihr, zumindest in der Projektion einer "idealen", weil "behindertenfreien" Gesellschaft, faktisch das Existenzrecht abspricht. Singers Einladung, öffentlich mit ihm zu diskutieren - "Liebe Harriet, ich freue mich auf einen interessanten Meinungsaustausch" - zwingt sie dazu, sich selbst zu befragen: Should I speak to this guy?

Sie nimmt an. Und beschreibt ihre Erfahrung, ihre Reflexion, ihre Gefühle und die auf die Begegnung mit Singer folgenden Diskussionen und Streits mit FreundInnen und MitkämpferInnen auf eine Weise, die eben deshalb so eindrücklich ist, weil sie (!) ihrer Bezugnahme auf die Person Singer etwas zugesteht, dessen Existenz zu leugnen Singer nicht müde wird: Ambivalenz. Uneindeutigkeit. Die Unmöglichkeit, ein eindeutige Entscheidung zu fällen zwischen "gut" und "böse", zwischen "Leid" und "Glück", zwischen "Wunsch" und "Angst". Dass ihr das gelingt, und zwar ohne dass sie ihre radikale Kritik an Singer preis gibt, liegt daran, dass sie gerade in der direkten, teils sogar privaten Begegnung mit Singer durch permanente Reflexion darauf achtet, die Grenze zwischen der Person Singer und seinen Positionen nicht aus dem Blick zu verlieren. Obwohl ihr Text von der Begegnung zweier Personen erzählt, bemüht er sich gleichzeitig um die Entpersonalisierung Singers - und muss doch letztendlich daran scheitern. Und deutlich wird in diesem Bericht auch: Singers "Einstellung" ändert sich nicht durch die Begegnung mit einem behinderten Menschen. Singer ist Instrument und Label des utilitaristischen Zynismus, aber weder mit diesem identisch noch sein originärer Urheber.

Und selbstverständlich kann die Autorin die Frage einer "Bewegungsschwester" nicht befriedigend beantworten: "Wie konntest du dich so ausliefern und ihm die Chance geben, sich menschlich zu zeigen?" Gegenfrage: Wieso sollte Singer nicht menschlich sein? Harriet McBryde Johnson stellt fest: "Wenn ich Singers Vorurteil gegenüber Behinderten als etwas ultimativ Böses definiere und ihn selber als Monster, dann muss ich diese Definition auf alle Leute anwenden, die glauben, dass Behinderte ,schlechter dran` sind oder dass ein Leben ohne Bewusstsein wertlos ist. Die meisten meiner nicht behinderten FreundInnen wären Monster. Mit einer Definition des ultimativ Bösen, das all diese Leute einschließt, kann ich nicht leben."

Should I talk
to him?

Das Verrückte ist eben nur: Singer und seine Leute können das - sehr gut sogar, nur dass sie nicht vom "Bösen" sprechen, sondern vom "Leid". Aber an Eindeutigkeit lässt diese Kategorisierung nichts zu wünschen übrig. Eben: Das Produkt "Singer" würde wohl nicht mehr funktionieren, wenn es Ambivalenzen oder gar Polyvalenzen in Bezug auf Werturteile und - behinderte wie nicht-behinderte - "Lebensqualitäten" und damit die Unmöglichkeit einer "Praktischen Ethik" zulassen würde. Und für die Vermarktung ist es sicher besonders effektiv, dieses Produkt in der "linken" und damit "vermarktungskritischen" Ecke anzusiedeln, wie Singer es mit dem Produkt Singer tut, dessen Marktwert sich durch jedes einzelne Porträt oder Interview noch steigern lässt. Nicht zuletzt deshalb sieht es leider nicht wirklich danach aus, als würde sich Harriet McBryde Johnsons Prophezeiung erfüllen, wonach Singer "als kuriose Fußnote in die Geschichte eingehen wird" - weshalb auf die "Anti-Singer-Kämpfe", und zwar gerade da, wo sie sich nicht zuallererst auf das Produkt "Singer" konzentrieren, auch in Zukunft nicht verzichtet werden kann.

Stefanie Gräfe

Quellen:

Harriet McBryde Johnson: Reden über den Mord an mir. Als Alibikrüppel bei Peter Singer. Übersetzung aus The New York Times Magazine von Urs Bruderer, WOZ, Nr. 14, 3.April 2003

Interview: Peter Singer 01/03,
www.sonderpaedagoge.de/zeitschrift

Ulrich Niehoff: Interview mit Dietmut Niedecken. Bundesvereinigung Lebenshilfe 1997
www2.uibk.ac.at/bidok/library/therapie/
niehoff-niedecken_interview.htm