Stadt der Frauen
Eine Reise nach Juchitan
Juchitan ist eine Stadt im Süden von Mexiko, in der Region Oaxaca, der nach Chiapas zweitärmsten Region des Landes. "Stadt der Frauen" wird sie auch genannt, und man munkelt, es gäbe sogar Reste von Matriarchat. Almuth Intemann hat Juchitan im April diesen Jahres besucht und zumindest einige bemerkenswerte Frauen kennen gelernt.
Wir sind voller Neugier, als wir uns mit dem Bus nach Juchitan aufmachen. Die Stadt liegt wenige Stunden vom Pazifik entfernt im Landesinneren. Hier fehlt der üppige Bewuchs der Pazifikküste. Alles ist trocken, und es scheint, als hätten die Hitze und der starke Wind auch noch den letzten Rest an Fruchtbarkeit aus der Erde gezogen.
Wir machen unseren ersten Gang durch die Stadt. Wie überall in Mexiko ist auch hier der Marktplatz mit seinen Hallen das Zentrum, der Ort, wo das Leben pulsiert. Uns fallen die vielen Farben auf. Es sind die traditionellen Trachten der Frauen, aber auch die Häuser und die Vielfalt der Früchte und Waren, die zu dieser Farbenpracht beitragen. Der Markt lebt mit den Frauen und von den Frauen. Sie sind die, die die Geschäfte machen. Viele tragen die traditionellen Kleider, etwas, worauf sie stolz sind. Erst auf den zweiten Blick ist auch hier die Armut deutlich zu erkennen. Es sind die alten Frauen, die am Rande, außerhalb der Hallen, sitzen, deren Armut nicht zu übersehen ist. Oft tragen sie keine richtigen Schuhe, die Zähne fehlen, und die einst prächtige Tracht ist verschlissen.
Bunte Farben - trister Alltag
Anders in den Markthallen. Hier bieten die Frauen ihre Waren oder auch ihre Kochkünste an. Nie sind sie allein. Manchmal arbeiten sie mit anderen Frauen zusammen. Meistens werden sie jedoch von ihren jungen Töchtern unterstützt, die nicht zur Schule gehen. Das ist für Mädchen nicht vorgesehen, weil sie ja sowieso heiraten werden. Diese Frauen wirken in der Tat selbstbewusster und eigenständiger als diejenigen, die wir in DF (Mexiko City) oder Oaxaca auf dem Markt gesehen haben. Sie blicken dir direkt in die Augen und drücken einen bestimmten Stolz aus. Sie sind direkt und weder schüchtern noch unterwürfig, wenn sie ihre Waren oder Dienstleistungen verkaufen. Ist es also das, was diese Stadt zu der "Stadt der Frauen" gemacht hat, von der viele behaupten, sie würde matrilineare Strukturen aufweisen? Ist es diese ökonomische Emanzipation der Frauen, die ihre Stellung in der Gesellschaft von Juchitan ausmacht? Mit diesen Fragen im Kopf treffen wir uns mit Rogelia, der Leiterin des Centro de Atención y Apoyo de las Mujeres Istme (CAAMI, Zentrum für Hilfe und Unterstützung von Frauen im Istme).
Wir hatten uns gegenüber den Markthallen verabredet. Plötzlich hielt ein roter kleiner Pickup neben uns, und da war sie. Wir fuhren in das Frauenzentrum, etwa zehn Minuten außerhalb des Stadtzentrums von Juchitan. Dieses Zentrum ist der Stolz der dort arbeitenden Frauen. Es ist ihr Zentrum, aufgebaut in Eigenarbeit und im Mai 2001 eingeweiht. 1996 hatte die Regierung ihnen endlich dafür Land zur Verfügung gestellt, nachdem die Frauen dieses jahrelang gefordert hatten. Das Haus ist ihr Eigentum. Das ist etwas Außergewöhnliches, keine andere Frauenorganisation in der Region Oaxaca oder anderswo ist Eigentümerin ihres Zentrums. In anderen Orten müssen die Frauen die Zentren mieten, oder diese werden von den Regierungen wohlwollend zur Verfügung gestellt, was natürlich auch Kontrolle und Abhängigkeit bedeutet. Geld ist permanent knapp, und so sind die Mieten immer ein zusätzliches Problem. Dies fällt zumindest in Juchitan weg. Getragen wird das Zentrum von der Grupo de Mujeres de 8 de Marzo (Frauengruppe des 8. März).
Als wir das Büro betreten, fällt unser Blick sofort auf das riesengroße Foto von Rosario Ibarra de Piedra. Sie ist eine der Frauen, die am 28. August 1978 die Kathedrale in DF auf dem Zócalo besetzte und wegen ihres seit April 1975 verschwundenen Sohnes in den Hungerstreik trat. Dieser Besetzung und diesem Hungerstreik schlossen sich 83 weitere Frauen an. Alle aus den gleichen Motiven. Sie forderten eine Generalamnestie für Gefangene, "Verschollene" und politische Flüchtlinge. Am 1. September 1978 wurde die Aktion abgebrochen, als Präsident Portillo vor der Deputiertenkammer eine Regierungserklärung abgab und eine Amnestie gewährte. Bis 1986 gab es noch 481 Verschwundene, und bis heute sind die Mörder nicht bekannt gemacht worden.
Rogelia ist seit ihrer Jugend aktiv. Mit 16 trat sie der COCEI bei, der Coalición Obrera Campesina Estudiantil Istme, eine Organisation, die 1970 gegründet wurde und die aus der StudentInnenbewegung von 1968 hervorging. Damals gingen viele StudentInnen in die Dörfer des Südens. Rogelia erzählt von dieser Zeit mit viel Begeisterung. Es gab keinen Sexismus, sagt sie, alle kämpften zusammen. Die Frauen waren eine der wichtigsten Säulen der Bewegung. Rogelia selbst arbeitete als Verbindungsfrau zwischen den verschiedenen Gruppen. Sie stellte die Kommunikation zwischen den Gruppen her. In Juchitan hatte die COCEI so viel Erfolg, dass sie es schafften, die PRI abzusetzen und 1981 eine der ersten linken Stadtregierungen zu installieren. Rogelia wurde als Abgeordnete gewählt. Durch die Machtübernahme veränderte sich jedoch auch das Geschlechterverhältnis. Jetzt beanspruchten die Männer die Machtpositionen, und ihre früheren Ideale der Gleichheit waren vergessen. Trotzdem ist Rogelia in der Organisation geblieben, als einzige Frau mit 36 Männern. Warum? Weil sie sich mit dieser Organisation, in der sie sich politisierte und Erfolge errang, immer noch identifiziert und es nicht aufgibt, innerhalb dieser als Frau akzeptiert zu werden.
Von Beruf ist Rogelia Lehrerin für Zapatekisch und Spanisch. Sie ist eine Indigena. Sie erzählt uns über das Leben der Frauen und Mädchen hier in Oaxaca und Juchitan. Die Sozialisation der Frauen ist darauf ausgerichtet, dass sie Mütter werden, sich ganz und gar dieser Rolle widmen. Schulbildung ist für sie nicht vorgesehen. Das einzige Berufsbild, das sie kennen, ist, Verkäuferin auf dem Markt zu sein. Als wir ihr von unseren Vorstellungen berichten, dass hier die Frauen das Leben dominieren, lacht sie.
Die Mühen der Ebene
Für Rogelia hat die ökonomische Beteiligung an einem System der Ungleichheit nichts mit Matriarchat zu tun. In Juchitan, so Rogelia, liegt die Macht bei den Männern, sie dominieren die Gesellschaft. Die ökonomische Partizipation der Frauen ist das Erbe einer alten Tradition, denn die Frauen brauchten Geld, um ihre teuren Trachten und ihren Schmuck bezahlen zu können, den sie gern zur Schau stellten. Diese relative ökonomische Unabhängigkeit stärkt zwar sichtbar ihr Selbstbewusstsein, hat aber keinen Einfluss auf die wirklichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Ein Ausdruck dafür ist die existierende Gewalt gegen Frauen, eine traurige Alltäglichkeit auch in Juchitan, sowie die hohe Analphabetenrate und die Armut unter den Frauen. Beides sind Indikatoren dafür, wo eine Frau in der Gesellschaft steht, welche Würde und welcher Respekt ihr zukommt. Wenn in Juchitan ein männlicher Kandidat zur Wahl antritt, wird dieser gewählt, nicht die Frau, die sich ebenfalls als Kandidatin aufstellen lässt.
Das CAAMI kämpft für soziale Gerechtigkeit und gegen die rassistische und Geschlechterdiskriminierung. Der Ausgangspunkt sind die Indigenas, ihre Menschenrechte überhaupt. Das Zentrum unterstützt sie bei Gewalterfahrungen, in dem sie einen Anwalt bezahlen. Ein zukünftiges Vorhaben ist es, eine Art Frauenhaus für die geschlagenen Frauen aufzubauen. Außerdem macht das CAAMI Kampagnen, Workshops und Tagungen zur Situation von Frauen und Mädchen. Dabei liegt ein Schwerpunkt in der Bildungsarbeit und Gesundheitserziehung. Durch die Kolonialisierung wurde das Wissen der Frauen über ihren eigenen Körper wie auch ihre Selbstachtung und Selbstwertschätzung zerstört. Dies versuchen sich die Frauen zurückzuerobern. Die Kampagnen kosten Geld, und das ist das größte Problem, besonders für die längerfristige Bildungsarbeit. Von der Regierung können sich die Frauen nur wenig erwarten. Wie überall steht sie diesen Projekten der Selbstorganisation skeptisch bis ablehnend gegenüber. Für die Folklore in Mexiko und für den Tourismus sind die Indigenas mit ihrer Kultur und ihren Farben ein ausbeutbares Projekt. Im alltäglichen Leben allerdings werden sie mit rassistischer Verachtung behandelt.
Das CAAMI finanziert sich durch Spenden und Stipendien, besonders für die Frauen, die dort arbeiten. Zwei Mal ist im Zentrum bereits eingebrochen worden. Alle Computer und Telefone sind gestohlen worden, ein großer Verlust. Aber sie lassen sich nicht unterkriegen. Ihr größter Erfolg ist es, dass sie bereits in fünf Gemeinden in Oaxaca Frauengruppen aufgebaut haben. Neben der Frauenarbeit ist ihnen die soziale Bewegung wichtig. Sie wollen die Veränderung der sozialen Ungleichheit im gesamten Istme erreichen. Das ist ein weiterer Grund, warum Rogelia die COCEI nicht verlässt, obwohl sie von den männerdominierten Organisationen und Parteien wenig erwartet. Das CAAMI selbst ist parteiunabhängig.
Am 8. März 2003 waren zum ersten Mal 800 Frauen auf der Demonstration in Juchitan. Sie kamen aus der gesamten Region. Es war eine Demo gegen Gewalt gegen Frauen und gegen den Krieg. Auch in diesem Jahr war eine weitere wichtige Forderung die nach der Aufklärung der Morde an den Frauen in Juarez, im Norden von Mexiko, wo in den Maquiladoras fast ausschließlich junge Frauen arbeiten, zu Hungerlöhnen und unter menschenverachtenden Bedingungen. In den letzten Jahren hat es dort über 300 Morde an Frauen gegeben. Viele wurden verstümmelt und irgendwo verscharrt aufgefunden. Die Mörder und die Motive sind nicht geklärt. Manchmal wurden Frauen mit ihren Babys ermordet. Organhandel soll eine der Mordursachen sein, aber vielleicht auch Hass gegen Frauen, die ihre Dörfer und gleichzeitig ihre traditionelle Rolle verlassen haben, um ökonomisch unabhängig zu sein. Die meisten der im Norden arbeitenden Frauen kommen aus dem Süden.
Zum Schluss nimmt uns Rogelia in ihrem Pickup mit zu sich nach Hause. Sie ist stolz auf ihr Viertel. In den 80er Jahren haben sie mit vielen Leuten das Land besetzt und nach einer erzwungenen Räumung und Wiederbesetzung in Eigenarbeit ihre Häuser gebaut. Es gibt ungefähr 500 Häuser dort, wunderschöne Häuser mit vielen Pflanzen, und jede Woche arbeiten die Leute einen Tag gemeinschaftlich für das Viertel. So haben sie eine Bibliothek und ein Gemeindehaus errichtet, in denen Lesungen und andere politische Aktivitäten stattfinden. Gemeindeeigentum in Oaxaca ist sehr verbreitet. Hier gibt es ein Gesetz, nach dem nicht genutztes Privateigentum von der Gemeinde konfisziert werden kann. Auch die Gemeinschaftsarbeit und das Offenlegen der Ausgaben und Bedürfnisse der Gemeinden sind weit verbreitet und gesetzlich verankert.
Gemeindeeigentum und Selbstorganisation
Es scheint viel in Bewegung, die Menschen wissen um Lösungen für ihre Probleme. Dazu brauchen sie keine Nichtregierungsorganisationen, keine verkrusteten Parteien oder deren Vertreter. So ist es auch logisch, dass in ganz Oaxaca die Umstellung auf die Sommerzeit ignoriert wird. Sie hätten keinen Vorteil davon, wird uns gesagt. Morgens ist es dunkel, sie müssen Licht machen, das kostet extra. Wofür die Sommerzeit? Sie existiert, damit die Elektrizitätsgesellschaften daran verdienen, nicht, damit die Bevölkerung etwas davon hat. Die Strompreise sind so gestiegen, dass der Boykott absolut plausibel erscheint. Die Lösungen kommen nicht "von oben", sondern von den Leuten selbst, in kollektiven Prozessen der Selbstbestimmung und Organisation. Die PRI hat durch ihre Politik der Korruption und Ignoranz das Vertrauen der Menschen längst zerstört. Diese Erfahrung ist nicht rückgängig zu machen, und gleichzeitig ist daraus, so scheint es, diese praktische Phantasie und Umsetzung hervorgegangen.
Almuth Intemann