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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 474 / 20.6.2003

Standortwettbewerb ab Klasse 5

Zur neoliberalen "Modernisierung" des Bildungswesens

Mangelnde Flexibilität und Innovationsfähigkeit, geringe Effizienz und Qualität, bürokratischer Zentralismus und Egoismen von PädagogInnen. Das sind heutzutage einige der gängigen Anklagepunkte gegen das bundesdeutsche Bildungswesen. Mit internationaler Unterstützung und der PISA-Studie im Rücken wird zu einer Modernisierungsoffensive geblasen. Mit katastrophalen Auswirkungen auf Schulen, Schülerinnen und LehrerInnen.



Zur Beseitigung der angeblichen Defizite im Bildungswesen werden Rezepte diskutiert, die der privatwirtschaftlich verfassten Ökonomie entlehnt sind: Dezentralisierung ("Autonomie und Eigenverantwortung"), Wettbewerb, betriebswirtschaftliche Rechnungslegung und Privatisierung. Hintergrund für diese "Verbetriebswirtschaftlichung" ist die mikroökonomisch orientierte Humankapitaltheorie, die vor allem von der Weltbank und der OECD verfolgt wird und die eine zielgenaue Identifizierung von profitablen Bildungsinvestitionen ermöglichen soll. Die gegenwärtigen Verhandlungen über die Liberalisierung von Dienstleistungen - u.a. auch im Bildungsbereich - sind Ausdruck davon, dass globale Agenturen und nationale InteressenvertreterInnen eine Entwicklung vorantreiben, in der Entscheidungen über Entwicklungen von Bildungssystemen zunehmend in einem internationalen Rahmen gefällt werden, etwa in Form von Standardisierung und Harmonisierung.

Mit PISA zum Freien Markt

Zielsetzung und Instrumentarium der gegenwärtigen Restrukturierung sind in zentralen Punkten übereinstimmend mit den Vorschlägen von Weltbank und OECD formuliert. Als Ziel wird der Gewinn an Produktivität und Effizienz definiert. Wesentliche Mittel dazu sind Flexibilisierung und Ökonomisierung der Institutionen, die Einführung von Wettbewerbselementen und eine "ergebnisorientierte Steuerung". Diese Politik wird auf nationaler Ebene getragen und öffentlich vertreten von Institutionen der Privatwirtschaft wie dem BDI und der IHK, von Stiftungen wie der Bertelsmann-Stiftung und ihrem Centrum für Hochschulentwicklung (CHE), der Heinrich-Böll-Stiftung. Dabei trifft die Modernisierung auf eine Entwicklung, die die Schule als Verteilungsinstrument erhalten und den Auslesecharakter des Bildungswesens verstärken will. Zwei idealtypische Strategien schälen sich heraus: eine konservative und eine sozialdemokratisch/grüne.

Eines der wesentlichen Charakteristika konservativer Bildungspolitik ist der Versuch, die Selektions- und Allokationsfunktion des Bildungswesens aufrecht zu erhalten und sie den Bedürfnissen der Wirtschaft anzupassen. Dabei wird das Gymnasium als Eliteschule erhalten (bzw. wieder hergestellt). In allen 16 Bundesländern können Entwicklungen und Tendenzen beobachtet werden, die sich im wesentlichen wie folgt zusammenfassen lassen:

- Verkürzung der 13-jährigen Schulzeit auf 12 Jahre

- Einführung von zentral verwalteten Abschlussprüfungen in den Klassen 9, 10 und 13 bzw. 12 (Zentralabitur)

- Reduzierung von Wahlmöglichkeiten in der Oberstufe

- Verschärfung der Anforderungen in Tests und Prüfungen

- Reorganisation der Curricula im Sinne "traditioneller Werte"

- Unterstützung für Hochbegabte und "fast track"-Schulbiographien, auch um "Vielfalt und Elitebildung" zu fördern.

Die beabsichtigte Einführung zentral verwalteter Abschlussprüfungen ist dabei nicht nur ein aktuelles Mittel zur Qualitätsverbesserung qua Verschärfung der Selektionsfunktion. Sie ist auch ein erster Schritt hin zur Einführung eines zentral verwalteten Bewertungssystems und eines verbindlichen Kerncurriculums entlang europäischer Indikatoren.

Konservative Landesregierungen betonen in der Bildungspolitik "traditionelle Werte" (versinnbildlicht in den sogenannten Kopfnoten) sowie traditionelle schultypische Lehrpläne und halten am dreigliedrigen Schulwesen fest. Dagegen waren es sozialdemokratische Länderregierungen, die als erste Elemente einer dezentralisierten und ergebnisorientierten Steuerungsstrategie der Bildungsverwaltung eingeführt haben. Im Kontext einer sehr allgemein gehaltenen Debatte über Autonomie und Eigenverantwortung ("selbstständige Schule"), Qualitätssicherung und Evaluation führten diese Landesregierungen unter anderem folgende Elemente ein:

- (teil-) autonomes Management für einen bestimmten, größer werdenden Prozentsatz des Gesamtbudgets einer Schule, Kosten-Leistungsrechnung

- Stärkung der Rolle des/der Schulleiters/in

- Entwicklung von Schulprogrammen.

Dabei bleibt die allgemeine Perspektive einer angeblich effizienteren neuen Verwaltungssteuerung für die Betroffenen genauso im Dunkeln wie deren Folgen für die Qualität der pädagogischen Arbeit. Nach der Phase der Kostenreduktion und De-Legitimierung der alten, staatsbürokratischen Schule beherrscht jetzt der öffentliche "Diskurs des Wandels" die Schulentwicklung. Dieser Prozess der Restrukturierung wird in kleinen Schritten, aber in strategisch wichtigen Schlüsselbereichen organisiert. Pilotprojekte auf einer begrenzten Basis spielen dabei eine wichtige Rolle. Schritt für Schritt werden die Kompetenzen der einzelnen Schulen auf der operationalen Ebene erweitert, wobei die zentralstaatlichen Zuständigkeiten auf strategischer Ebene (z.B. Curricula, Indikatoren für Evaluationsysteme) aufrechterhalten, angepasst und erweitert werden.

Die wesentlichen Akteure dieser Restrukturierung sind ganz offensichtlich die Finanzministerien, die effizienteren Strategien der Ressourcennutzung im Öffentlichen Dienst - sprich Sparvorgaben - absolute Priorität verschaffen. Das entsprechende Know-how stellen Management-Firmen. Ob die Bildungsministerien diejenigen sind, die diesen Prozess steuern, ist mehr als fraglich. LehrerInnen werden in die Rolle ohnmächtiger Zuschauer gedrängt.

Angesicht des Gewichts von Kosten- und Qualitätskontrolle ist die Rede von (institutioneller) Autonomie und Eigenverantwortung wenig mehr als Legitimationsrhetorik (die allerdings an enttäuschte Hoffnungen auf pädagogische Autonomie anknüpfen kann). Tatsächlich geht es um nackte Sparpolitik bzw. um eine Senkung der Staatsquote. Neben einer veränderten Verwaltungssteuerung gewinnt vor allem die Kooperation mit der Wirtschaft (Public-Private-Partnership) an Bedeutung - am deutlichsten vorgeführt durch die enge Kooperation von Bertelsmann-Stiftung und Bildungsministerien der Länder.

Im wesentlichen sind es zwei zentrale Instrumente, von denen man sich Effizienzgewinne verspricht: die Organisierung von Wettbewerb zwischen den (Bildungs-)Institutionen und die Privatisierung, sowohl von Institutionen als auch von Kosten. Der Effizienzsteigerung der Einzelinstitution soll auch die Einführung einer betriebswirtschaftlichen Rechnungslegung dienen. Dazu ist es notwendig, Ergebnisse und entsprechende Indikatoren bzw. Kennziffern für zu erbringende Leistungen zu definieren. Diese Indikatoren werden nicht von den teil-autonomen Einzelinstitutionen, sondern von strategischen Zentralstellen (Bildungsministerium und/oder einer speziellen Agentur) definiert. Sie sind von Bedeutung für die Evaluation der erbrachten Leistungen, für das Kontrakt-Management zwischen Zentrale und Einzelinstitution und nicht zuletzt für ein internationales Benchmarking-System.

Fit for Business und Wettbewerb

Strategien der Privatisierung können neben dem Verkauf vormals staatlicher Institutionen ganz unterschiedliche Formen annehmen: Öffnung vormals ausschließlich staatlicher Tätigkeiten für privatwirtschaftliche Organisationen (Privatschulen); Organisierung von Wettbewerb und Quasi-Märkten innerhalb des öffentlichen Diensts oder zwischen staatlichen und privaten Institutionen (z.B. Jugendamt und private Träger); Einrichtung von privatwirtschaftlich arbeitenden, staatsnahen Agenturen (Evaluation, Tests) u.v.m. Jenseits der verschiedenen institutionellen Formen der Privatisierung ist auch die zunehmende Privatisierung von Kosten von Bedeutung.

Auch wenn die Restrukturierungsprozesse in den deutschen Ländern erst begonnen haben, so lassen sich auf Grund der Erfahrungen in anderen - vor allem angelsächsischen - Ländern doch Aussagen über absehbare Folgen treffen. Es zeichnet sich deutlich eine Polarisierung ab zwischen LehrerInnen einerseits und Leitungsteams bzw. ManagerInnen an der Spitze der Schulen andererseits. Der Zwang, genügend Schüler zu rekrutieren, führt dazu, dass sich an den Schulen ManagerInnen herausbilden, die ihre Entscheidungen zunehmend eher an Kostenzwängen und Ertragsüberlegungen orientieren als an den (Lern-) Bedürfnissen der SchülerInnen. Der Druck, genügend Schüler zu rekrutieren, verengt Pädagogik auf solche Faktoren, die den Marktwert der Schule verbessern wie z.B. sichtbare, messbare und nach außen vorzeigbare Indikatoren der Qualitätsmessung, Examensergebnisse, Schulgebäude, Glanzbroschüren über die Schule etc.

Bei geringeren finanziellen Ressourcen legt das eine Abwertung und Vernachlässigung von Erziehungs- und Bildungsaufgaben nahe, die jenseits dieser instrumentellen Ziele liegen. Das geht vor allem zu Lasten von SchülerInnen mit Lern- oder Verhaltensschwierigkeiten. Diese werden zunehmend den Schulen überlassen, die nicht so nachgefragt und damit auf Neuzugänge von Schülern angewiesen sind. Deshalb stellen eine Reihe von Untersuchungen fest, dass die Verbesserung der Leistungen und damit der Position der sogenannten "guten" Schulen nur um den Preis der Bildung einer Gruppe von unterfinanzierten, mit "ProblemschülerInnen" belasteten Schulen gelingt. Der Markt erweist sich als ein mehr oder weniger verdeckter Mechanismus sozialer Spaltung.

In vielen angelsächsischen Ländern ist die Entwicklung einer ausgeprägten Prüfungskultur zu beobachten. Anstatt die Möglichkeiten des Lernens auszuweiten, orientiert man sich an der Überprüfbarkeit von Leistungen. Dies hat gravierende Folgen für den Lehr- und Lernprozess, da das Unterrichtsgeschehen auf die Prüfungen hin orientiert und der Lehrplan zu konsumier- und testbaren Päckchen verschnürt wird.

Der Arbeitsalltag ist in Folge der neu eingeführten Techniken der Rechenschaftspflicht und Kontrolle durch zunehmende Verdichtung, Extensivierung und Präkarisierung der Arbeitsverhältnisse gekennzeichnet. Für eine begrenzte Anzahl von LehrerInnen werden besser bezahlte Positionen ("master-teachers") und eine Bezahlung nach bestimmten Leistungskriterien (wie z.B. Unterrichtsbeobachtung, aber auch Schülerleistungen) eingeführt. In dieser Situation, in der die einzelnen Schulen um Quoten und Rangplätze kämpfen, werden die Gewerkschaften als kollektive Interessenvertretung geschwächt. Mit der Durchsetzung dieses veränderten (mehr oder weniger globalen) Modells öffentlicher Bildung wird die in den letzten drei Jahrzehnten gewachsene Bedeutung der LehrerInnen als OrganisatorInnen von Bildungsprozessen zunehmend abgelöst von der der "ExpertInnen" für standardisierte quantitative Verfahren der Leistungsmessung, Evaluation und computergestützen Testverfahren.

Das objektive Ziel des Paradigmenwechsels in der Bildungspolitik besteht darin, die Phase der auf Expansion und Chancengleichheit abzielenden Bildungsreform endgültig zu beenden und einer Kosten sparenden Rationalisierung und Privatisierung Vorrang einzuräumen. Rationalisierung und Privatisierung, Wettbewerb und einzelinstitutionelle Effizienz sind Elemente einer institutionellen Oberfläche, hinter der sich ein neuer "common sense" dessen herausbildet, was im Rahmen von Bildungsprozessen für wichtig erachtet wird. Hinter dem Schleier von Rationalität wird deutlich ein Sozialdarwinismus sichtbar, der unter der Losung von "Autonomie und Eigenverantwortung" den TeilnehmerInnen am Markt - sei es dem Einzelnen (Eltern/SchülerInnen) oder der einzelnen (teil-)autonomen Bildungsinstitution - die alleinige Verantwortung über Erfolg und Versagen zuschreibt.

Jürgen Klausenitzer