Am Ende geht's an's Lager
Aktionstage in Nürnberg/Fürth schließen Camp-Sommer ab
Der Schlussakkord im diesjährigen Camp- und Gipfelsommer wird in Bayern ertönen. Verschiedenste Gruppen aus dem antirassistischen Spektrum rufen auf zu Anti-Lager-Aktionstagen zwischen dem 11. und 14. September in Nürnberg/Fürth. Aufhänger ist das dortige so genannte Ausreisezentrum, gegen das sich seit seiner Eröffnung im Oktober 2002 massiver Protest regt.
Die ursprüngliche Idee lautete anders: Danach sollte das 6. antirassistische Grenzcamp seine Zelte in Nürnberg/Fürth aufschlagen, nicht zuletzt um dem so genannten Ausreisezentrum und somit Lagern und Lagerpolitik überhaupt eine entschlossene Absage zu erteilen. Woomera und Bologna wären in diesem Szenario Camp-PatInnen geworden! Allein, die Mehrheit der Grenzcamp-Community wollte das nicht, das nächste Camp wird stattdessen in Köln stattfinden. (vgl. ak 470) Einzelne Gruppen, darunter The Voice und die Karawanegruppe Nürnberg, entschlossen sich deshalb, zusätzlich zu Köln Aktionstage inkl. Camping in Nürnberg/Fürth auf die Beine zu stellen. Mittlerweile werden diese vor allem von der Karawane und verschiedenen Gruppen aus dem bundesweiten Netzwerk gegen Abschiebungen, Abschiebeknäste und Abschiebelager (3A-Kampagne) getragen.
Mittel der Illegalisierung
Politisch ist in Nürnberg/Fürth dreierlei geplant: Erstens soll das Ausreisezentrum als das angeprangert werden, was es ist: als Abschiebe- und Verfolgungslager. Praktisch bedeutet das, die sofortige Schließung aller fünf bisher in Deutschland eröffneten Ausreisezentren zu fordern. Zweitens soll das bundesdeutsche Lagersystem in Bezug zu anderen Lagern bzw. Lagertypen in Europa und weltweit gesetzt werden. Es geht darum aufzuzeigen, in welchem Sinne der vor allem von den reichen Industriestaaten massiv forcierte Aufbau eines globalen Lagersystems einzig darauf abzielt, einen Beitrag zur sozialtechnologischen Kontrolle weltweiter Flucht- und Migrationsbewegungen zu leisten. Drittens sollen durch die Aktionstage die vielfältigen, ebenfalls rund um den Globus stattfindenden Anti-Lager-Proteste unterstützt und verbreitert werden.
Das derzeit in Deutschland herrschende Lagersystem für Flüchtlinge und Papierlose basiert auf vier Säulen: Flüchtlinge, die einen Asylantrag stellen, werden zunächst für maximal drei Monate in einer Zentralen Aufnahmestelle (ZAST) untergebracht. Danach erfolgt für die gesamte Dauer des Asylverfahrens die Unterbringung in so genannten Gemeinschaftsunterkünften. Dies können normale Wohnhäuser sein genauso wie große Containerlager oder ehemalige Kasernenkomplexe für mehrere hundert Menschen. Flüchtlinge oder MigrantInnen, die über keinen offiziellen Aufenthaltstitel (mehr) verfügen und deshalb ausreispflichtig sind, landen im Abschiebeknast, so denn ihnen per Gerichtsbeschluss unterstellt wird, sie könnten sich ihrer bevorstehenden Abschiebung entziehen. Abschiebe- bzw. Sicherungshaft kann bis zu sechs, in Ausnahmefällen bis zu 18 Monate andauern. Von ihr sind in Deutschland jährlich zwischen 10.000 und 20.000 Menschen betroffen.
In so genannte Ausreisezentren werden schließlich Menschen eingewiesen, die zwar ausreisepflichtig sind, die jedoch mangels gültiger Ausweispapiere nicht in ihre (mutmaßlichen) Herkunftsländer abgeschoben werden können. Die Behörden werfen diesen Menschen Identitätsverschleierung vor, sie müssten deshalb durch geeignete Maßnahmen dazu gebracht werden, auf die eine oder andere Weise bei der Beschaffung gültiger Ausweispapiere mitzuwirken. Konkret bedeutet das: Permanente Interviews, Sprachtests, Botschaftsvorführungen, Zimmerdurchsuchungen, Anwesenheitskontrollen, verschärfte Residenzpflicht, Taschengeldentzug, etc. (vgl. ak 467)
Geflissentlich verschwiegen wird indes, dass es häufig die Botschaften der Herkunftsländer selbst sind, die sich weigern, die Betroffenen als "ihre" StaatsbürgerInnen anzuerkennen und entsprechende Ausweispapiere ausstellen. Last but not least: Gemessen an ihren offiziellen Zielsetzungen sind die fünf bislang als Modellprojekte arbeitenden Ausreisezentren weitgehend gescheitert: Gerade mal 16% der Eingewiesenen konnten abgeschoben werden, bei ca. 30% konnte zwar die Identität festgestellt, trotzdem aber keine Abschiebung erwirkt werden, demgegenüber sind über 50% in die Illegalität abgetaucht.
Dass an den Ausreisezentren trotzdem festgehalten, also auch ihr massenhafter Illegalisierungseffekt billigend in Kauf genommen wird, zeigt, worum es wirklich geht: Nicht Flüchtlinge sind das Problem - jedenfalls unter bestimmten Umständen, sondern Flüchtlinge, die Geld kosten.
Die immer konsequentere Unterbringung von Flüchtlingen und Papierlosen in Lagern oder Knästen ist ein nahezu überall in Europa vorherrschender Trend. Insbesondere in Osteuropa werden vielerorts mit finanzieller Unterstützung durch die EU gefängnisartige Lager errichtet, in welchen MigrantInnen bzw. Flüchtlinge ohne gültige Transitpapiere interniert werden. Das diesbezüglich immer noch krasseste Beispiel dürften indes die von der International Organisation for Migration (IOM) auf der Pazifikinsel Nauru betriebenen Internierungslager sein: Im Auftrag der australischen Regierung werden dort abgefangene Boat-People-Flüchtlinge unter laut amnesty international "höllischen" Bedingungen auf unbestimmte Zeit festgehalten. (vgl. ak 473)
Ein anderer Lagertypus sind die erstmalig im Zuge des Kosovo-Kriegs systematisch errichteten Flüchtlings(abfang)lager: Waren 1992 und 1993/94 während der Kriege im zerfallenden Jugoslawien noch mehrere Millionen Menschen nach Westeuropa geflüchtet, so konnten im Kosovo-Krieg 1999 ca. 550.000 von 800.000 kosovarischen Flüchtlingen direkt in temporäre und streng bewachte Flüchtlingslager in Albanien und Mazedonien "gelotst" werden.
Aus migrationspolitischer Sicht ist dieses zwischen NGOs und westlichen Kriegsparteien ausgehandelte Konzept der kriegsregionnahen Flüchtlingsunterbringung ein absoluter Erfolg gewesen. Es stellt deshalb auch die Blaupause dar für einen derzeit von der britischen Regierung innerhalb der EU unter dem Titel "A new vision for refugees" stark gemachten Vorschlag: Danach sollten Flüchtlinge rund um den Globus in EU-finanzierten und von der UN verwalteten Lagern untergebracht werden, etwaige Asylanträge müssten sodann - nach einer Sperrfrist von sechs Monaten - in diesen, nahe der jeweiligen Kriegs- und Krisenregion errichteten Lagern gestellt werden. Flüchtlinge, die sich bis nach Europa durchgeschlagen hätten, würden ebenfalls direkt in das für sie zuständige Lager rückverschickt werden.
Was aber sind Lager in analytischer und gesellschaftspolitischer Hinsicht? Welche Funktion und welchen Charakter haben sie? Klar ist: Allein die Vielfalt unterschiedlicher Lager und Lagertypen verbietet eindimensionale Antworten, dennoch lohnt es, exemplarisch verschiedene Deutungsversuche kennen zu lernen.
1. Stephan Dünnwald vom Bayrischen Flüchtlingsrat, der sich in einem äußerst lesenswerten Artikel ("Die Bundesrepublik als Lagergesellschaft") vor allem mit Gemeinschaftsunterkünften für Flüchtlinge beschäftigt, formuliert zwei Thesen: Zum einen dienten, wie ja von staatlicher Seite auch freimütig eingestanden würde, die mit Lagerunterbringung und anderen asylpolitischen Maßnahmen verknüpften Restriktionen der gezielten Demütigung und Degradierung von Flüchtlingen und somit der präventiven Abschreckung. Zum anderen sei die Unterbringung in Lagern Ausdruck einer politisch "gewollten Separierung und Exklusion" von Flüchtlingen. Denn je nicht-integrierter und somit stigmatisierter diese seien ("Die Leute aus dem Lager"), desto leichter könnten Abschiebungen durchgesetzt werden. Seitens der Mehrheitsbevölkerung sei unter solchen Bedingungen weder Unterstützung noch Widerstand zu erwarten. Im Gegenteil: Die Unterbringung in Heimen sei vielmehr geeignet, rassistische Ressentiments zu schüren bzw. zu intensivieren.
Lager mit verschiedenen Bedeutungen
2. Der in Italien viel diskutierte Philosoph Giorgio Agamben beschäftigt sich vor allem mit der italienischen Variante von Ausreisezentren bzw. Abschiebelagern (die dort Internierten müssen binnen 60 Tagen abgeschoben oder freigelassen werden): Lager seien, so Agamben in einem Interview, Orte des "Ausnahmezustandes"; die Internierten seien keine "Rechtssubjekte, sondern nackte Existenzen" - aller staatsbürgerlichen Rechte entblößt. Dies ergebe sich daraus, das die Internierten juristisch als Personen gelten würden, "die bereits der Maßnahme der Abschiebung unterworfen sind, für die aber der Vollzug der Maßnahme nicht möglich gewesen ist". Abschiebehäftlinge befänden sich zwar faktisch, d.h. als nackte Existenzen auf italienischem Territorium, nicht aber juristisch, d.h. als Personen mit "Subjektposition im bürgerlichen Recht". Möglich sei dieses juristische Paradox, weil Lager in "biopolitischer" Absicht auf die "Regulierung der Bevölkerungsströme" zielten. Nur vor dem Hintergrund dieser Aufgabenstellung sei zu verstehen, weshalb Abschiebehäftlinge Abgeschobene seien, "die nicht mehr da, doch inhaftiert sind". In politischer Hinsicht würden Abschiebelager das herrschende Konzept von Staatsbürgerschaft prinzipiell in Frage stellen.
3. Demgegenüber kritisiert der ebenfalls in Italien lehrende Historiker und antirassistische Aktivist Sandro Mezzadra in einem Werkstattgespräch, dass "Arbeit" in Agambens Überlegungen keine Rolle spielte. Und das, obwohl es, so Mezzadra, "einen grundlegenden Zusammenhang zwischen den gegenwärtigen Abschiebelagern und der umfassenden Restrukturierung des Arbeitsmarktes im globalen Kapitalismus" gäbe. Das Abschiebelager sei "eine Art Druckverminderungskammer, welche die auf dem Arbeitsmarkt angesammelten Spannungen verstreuen würde". Konkret meint dies dreierlei: Erstens würde durch Abschiebungen ein gesamtgesellschaftlich kontraproduktives Zu-Groß-Werden der lohnarbeitsbezogenen Reservearmee vermieden werden. Zweitens produzierten die Abschiebelager massenhaft irreguläre, d.h. überproportional ausbeutbare Arbeitskräfte (schließlich kämen etwa 40% der Internierten nach 60 Tagen wieder frei). Drittens artikulierte die Gewalt der Abschiebelager symbolisch und weithin sichtbar den "despotischen" Anspruch des globalen Kapitalismus, einzig nach aktuellem Bedarf Arbeitskräfte unter Regie zu nehmen und in eins damit deren Mobilität zu kontrollieren.
Wie weit Mezzadras Thesen im Einzelnen tragen, müsste genauer untersucht werden. Dennoch scheinen seine Überlegungen äußerst hilfreich zu sein, machen sie doch deutlich, dass die in jüngerer Zeit immer wieder proklamierte Notwendigkeit einer Re-Ökonomisierung von Antirassismus das globale Lagersystem ausdrücklich miteinschließt. Einerseits, weil zunehmend auch (irreguläre) MigrantInnen von Lagerinternierung betroffen sind, andererseits, weil Lager einen zentralen Baustein innerhalb herrschender und primär an ökonomischen Kriterien ausgerichteter Migrationspolitik darstellen.
Kammern zur Druckverminderung
Es bleibt abzuwarten, was in Nürnberg/Fürth konkret passieren wird. Fest steht: Das dortige Ausreisezentrum ist kein geschlossenes Internierungslager, insofern dürfte es nicht, wie im australischen Wüstenlager Woomera, zu spektakulären Befreiungsversuchen kommen. Genauso wenig ist a la Bologna eine buchstäbliche Demontage des Ausreisezentrums durch Disobbedienti (Ungehorsame) zu erwarten. Die PlanerInnen hoffen dennoch auf mindestens 200 AktivistInnen. Wo gecampt wird, welche Aktionen stattfinden werden, wie die praktische Kooperation mit den Flüchtlingen im Ausreisezentrum selbst aussehen wird etc., diese und andere Fragen werden erst in den nächsten Wochen diskutiert und entschieden werden.
Gregor Samsa
Der Stephan Dünnwald Text und das Interview mit Giorgio Agamben sind abrufbar unter:
www.abschiebehaft.de/kampagne/reader.pdf. Das Gespräch mit Sandro Mezzadra kann abgerufen werden unter:
www.borderlandsejournal.adelaide.edu.au/
vol2no1_2003/mezzadra_neilson